Anno 1717
§ 134

[327] War das 1716. Jahr erleidlich, und gleichsam ein gelindes Intervallum gewesen, so war das folgende 1717. Jahr, da wir das große Jubilæum Reformationis feierten, desto Jammer-voller vor mich, welches ich, wie oben gedacht, nebst dem 1704. 1728. und 1736. Jahre, vor die allerbetrübtesten, und erschrecklichsten Jahre meines Lebens halten muß. Gegen Weihnachten 1716 fieng mein Zustand an wieder schlimmer zu werden, so daß die ehemaligen betrübten Zufälle sich wiederum mit mähligem bei mir einfanden. Der erste Tag im Jahre 1717 war schon ein ängstlicher Tag vor mich, und gleichsam ein Vorbote vieler anderer[327] Versuchungs-Tage, so dieses Jahr über mich kommen sollten. Nach der Vesper hatte ich kaum ein wenig Ruhe im Gemüte bekommen, so wurde ich ersucht in Eil zu einem Manne vor das Peters-Tor zu kommen, der großen Anfechtungen und Versuchungen des Teufels unterworfen wäre. Er war ein Bortenwürker, so viel ich mich noch besinne, den Namen will ich verschweigen, mein fleißiger Zuhörer, und bei zulänglichen Mitteln. Ob ich gleich oben [S. 169, 193f.] bei anderer Gelegenheit desselben schon erwähnet habe, so trage ich doch kein Bedenken auch hier, als an dem rechten Orte nochmals seinen Zustand zu beschreiben, weil solche Casus und Exempel sowohl von geistlichen, als leiblichen Ärzten gar sonderlich verdienen recht erwogen, und in Betrachtung gezogen zu werden, um desto mehr zum Erkenntnis sowohl der Zufälle unsers Leibes, als unserer Seele zu gelangen. Ich säumte mich nicht zu ihm zu gehen: mit was vor Herzen, und wie mir zu Mute gewesen, ist leicht zu erachten. Da ich in seine Stube zu ihm kam, so traf ich ihn kniend mitten auf der Erden an. Er wand, rung, rieb, und drehete die Hände, und vor die Fenster hatte er selbst Schlösser geleget, oder legen lassen, weil er mit unsäglicher Furcht, und Einbildung gequälet wurde, als ob er hinunter springen würde. Da ich mich mit ihm in ein Gespräch einließ, und merkte, daß er nicht etwan aus Ungeduld, Murren, Bauch-Sorge, oder Überdruß des Lebens gelocket, und gereizet würde sich umzubringen, wie die Leute aus Unverstand, und Unwissenheit von ihm vorgaben, sondern nur aus großer Hitze des Hauptes, und Ängstlichkeit des Herzens, von der er nicht wußte, wo sie herkäme, und von welcher er den Gedanken, und ein Bild vom Selbst-Mord, und dadurch die Einbildung und Furcht, daß solches geschehen dürfte, bekommen hatte; so tröstete ich ihn, so gut ich kunte, mit dem Troste, mit welchem ich bei eben solchen Zufällen Anno 1704 war aufgerichtet worden. Sage mir, wie groß würden wir nicht die Keuschheit eines Frauenzimmers schätzen, wenn dieselbe ihren Leib mit Schlössern verwahren sollte, damit sie aus Furcht und Einbildung in das Laster der Unkeuschheit zu verfallen, nicht darein verfallen möchte. Nun ist hier noch ein großer Unterscheid. Denn eine Weibes-Person könnte vielleicht von geilen Lüsten und Begierden geplaget, und zur Unkeuschheit gelocket werden, und der wiedergeborne Teil in ihr könnte darwider streiten, und solche seltsame Verwahrungs-Mittel brauchen, dergleichen wohl noch kein Frauenzimmer, zum wenigsten wohl noch niemals in Leipzig, gebrauchet hat. Da hingegen bei diesem[328] Bortenwürker, und andern seines gleichen, kein Reizen und Locken, noch Lust zum Selbstmord, wie vielleicht bei andern bösen Menschen öfters entstehen mag, sondern nur der Gedanke davon, und die größte Einbildung, und Furcht, daß solches geschehen werde, entstanden war. Ich forschte nach seinem Leben und Wandel, er wußte mir aber nichts zu nennen, als einige Kleinigkeiten, die von keiner Importanz waren, und die er sich selbst zur Sünde machte. Er meinte unter andern, diese Übel würden ihm jetzo zugeschickt, weil er sich in der Jugend durch seinen Ungehorsam an seinen Eltern versündiget, welche ihn ehemals von Ergreifung dieser Profession abzuhalten gesucht, und denen er doch nicht hätte folgen wollen, und also Gott im Himmel beleidiget. Um die Erzählung nicht ohne Not weitläuftig zu machen, so traf ich die Ursache seiner Melancholie mehr in seiner unordentlichen Diæt, als in seinem sündigen Leben an. Denn da ich genauer nachforschte, wie er im Essen und Trinken sich verhielte, so gestunde er mir selbst, daß er des Morgens alle Tage vor einen Dreier gemeinen Branntewein tränke. Das mochte nun wohl bei andern Branntewein-Säufern, wiewohl sich auch schon mancher aus denselben vom Verstande gesoffen, nicht viel zu bedeuten haben, noch solche Gemüts-Krankheit zu würken fähig sein, als worzu viel Religion im Herzen erfordert wird, da viele der gemeinen Branntewein-Säufer wie das Vieh, und ohne Gott und Religion in den Tag hinein leben; allein der Mann war höchst mager, von Hitze und Feuer schon ausgezehret und verdorret, und wollte noch täglich früh Branntewein trinken; wie sollte nicht ein verbranntes Geblüte dadurch gezeuget werden, so endlich gewissen Menschen und Subjectis lauter Angst verursachet. Ich sagte ihm solches; denn ich wußte aus eigener Erfahrung, wie sehr das vorige Jahr mein Übel durch schwaches Getränke, und Unterlassung des Weins, durch welchen ich mich aus Irrtum zu stärken vermeinte, geschwächet worden; ob ich wohl noch nicht wußte, woher jetzt meine Recidive [Rückfälle] herkämen, und was vor eine Ursache dieselben nunmehro haben müßten. Ich band [schärfte] ihm auch fest ein die geistlichen Arznei-Mittel, Gebet und Lesung Gottes Worts, und anderer guten Bücher, die zum Trost solcher Angefochtenen geschrieben wären, zu gebrauchen. Beiderlei Mittel schlugen auch wohl bei ihm an, und halfen ihm in kurzen wieder zu seiner Gesundheit.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 327-329.
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