Anno 1700
§ 42

[102] Dieses Jahr gieng der terministische Streit in Leipzig zwischen D. Rechenbergen, und D. Ittigen an; der, wie bekannt, mit großer Heftigkeit und vielen Affecten auf beiden Seiten geführet wurde. Ich gab mir gleich Mühe, die Sache zu untersuchen, und so viel möglich das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden. Denn die Polemica [Lehre von den Religionsstreitigkeiten] fieng damals ohne dem an mein Haupt-Studium zu werden. Das erste halbe Jahr hatte ich noch unmäßige Liebe zum Studio linguarum und Rabbinico [Studium der alten Sprachen und der rabbinischen Literatur], und zur Historia litteraria [enzyklopädischen Literaturgeschichte] gehabt, zu Ende aber desselben fieng mir an davor zu eckeln, ohne [nur] daß ich den mäßigen Gebrauch der Historiæ litterariæ noch billigte, und in so weit derselben noch ergeben war. Chaldäisch, und Syrisch hatte ich in kurzer Zeit gelernet, und war willens im Arabischen, wo ich einen kleinen Anfang hatte, es ohngefähr so weit, wie im Hebräischen zu bringen. Allein ich dachte dazumal: Was vor große Dinge werde ich denn nun durch Hülfe der morgenländischen[102] Sprachen tun, und ausrichten? Etliche Örter und Dubia vexata [schwierige zweifelhafte Stellen] in der heiligen Schrift, wie Herr D. Pfeiffer getan, aufzulösen, und den rechten Verstand [Bedeutung] derselben zu zeigen, daferne es nur historische Dinge, und alte Ritus und Gebräuche der Juden, und anderer Völker betrifft, lohnet nicht die Mühe. Will ich aber durch Hülfe der Sprachen die Religion und unser Systema angreifen, und Irrtümer in der Lehre entdecken, so machen sie mich zum Ketzer, und, wenn sie mich nicht tot schlagen, so jagen sie mich zum Lande hinaus. Im Schlusse [Schlußfolgerung] ist viel auszusetzen; aber so dachte ich doch dazumal. Ich hielt [besuchte] ein Collegium lectorium [Lektürekurs] über den Abarbanel, und konnte ihn schon ziemlich fertig exponiren [erklären], so daß auch der jetzige Superintendens in Lübeck, Herr Dr. Carpzov, der dazumal ein Membrum [Teilnehmer] von diesem Collegio bei dem Herrn Starcken mit war, und darinnen noch nicht so geübt, als ich war, sich über meine Profectus [Fortschritte] verwunderte. Alleine, da ich auch in diesem Rabbinen, der doch einer der klügsten sein soll, gleichwohl so elendes Zeug fand, und im Michlal jophi, oder Ben Melech, den ich auch zu lesen anfieng, nur magere Grammaticalia [Gramatikerörterungen] antraf; so ließ ich auch von diesem Studio ab. Und es hat mich auch noch niemals gereuet. Wiewohl ich andere nicht verachte, die sich auf dergleichen Studia appliciren [werfen]; denn es müssen allerhand Leute in der Welt sein.

Die Controvers de Termino hatte nun kaum ein halbes Jahr gewähret, so war mein Urteil, und Meinung davon schon diejenige, welche ich noch bis diese Stunde hege; nämlich, daß unsere vorigen und alten Theologi in großer Anzahl den Terminum gratiæ [Frist für die Gnade] eben so, wie Herr D. Rechenberg, und Herr Böse, statuiret, daß aber derselbe aus der Heiligen Schrift nicht könne bewiesen werden. Denn die Loca [Stellen] im Dannhauer, und Sebastian Schmidt, und andern Theologis, welche Herr D. Rechenberg sammlete, und der andern Partei vorlegte, sind allzu klar; indem sie, in specie [vor allem] D. Dannhauer, schon davon in actu signato, und totidem verbis, und terminis [theoretisch und mit den gleichen Worten und Begriffen] in ihren Schriften gehandelt. Der Leipzigische D. Schmidt war in Wahrheit der Meinung des Herrn D. Rechenbergs zugetan, ehe die Streitigkeiten angiengen, er hat aber hernach nicht ein Wort dazu gesaget, da alles in vollen Flammen stund: vielleicht, weil er den Frieden mehr liebte, und sich nicht[103] in das Gedränge zu mischen vor gut befand. Ich sollte einst in seinem Collegio Disputatorio [Disputationskurs] über den Scherzer wider die Thesin opponiren [These argumentieren]: Quod electi, si relabantur, excidant gratia Dei, non quidem finaliter, tamen totaliter. Ich machte ein Argument darwider, so wie ich es dazumal zu machen fähig war, folgendes Inhalts: Si Deus lapsos gratia sua revocatrice ad pœnitentiam revocat, sequitur, quod non totaliter Dei gratia excidant; Atqui verum est prius, ergo & posterius. Der Herr D. Schmidt antwortete anfangs ad Majorem [auf den Obersatz], und sprach: Es sei in der Thesi gar nicht die Rede de gratia externa, & revocatrice ad pœnitentiam [von der äußeren und zur Buße zurückrufenden Gnade], sondern de gratia Spiritus Sancti interna & inhabitante [von der inneren und innewohnenden Gnade des Heiligen Geistes]. Wenn man sage, daß die Electi totaliter [Auserwählten völlig] aus der Gnade Gottes fallen, so meine man die inwohnende Gnade des Heiligen Geistes, welche den Kindern Gottes eigen. Si Deus lapsos gratia sua revocatrice ad pœnitentiam revocat, sequitur, quod non totaliter Dei gratia inhabitante excidant; Nego Majorem. Darnach kam er auch auf Minorem [den Untersatz], und sagte ausdrücklich, (quod Deum testor [wozu ich Gott zum Zeugen anrufe], denn ich weiß es noch, als ob es gestern geschehen wäre) daferne die Gottlosen verstockt, und halsstarrig wären, und Gott lange vergeblich rufen ließen, so könnte es wohl geschehen, daß ihnen Gott auch die Gratiam revocatricem [die bekehrende Gnade] entzöhe [entzöge], und sie nicht mehr zur Buße rufte: Er sähe ihnen 4, 6, 8, auch wohl 10 Jahr zu, und warte auf ihre Besserung; ließen sie aber die Gnaden-Zeit ohne Buße vorbei streichen, so möchten sie es ihnen [sich] selbst zuschreiben, wenn sie verdammet würden. Und wenn dergleichen geschähe, so wäre es klar, daß solche keine Electi [Auserwählten] gewesen wären; und, wo mir recht ist, so führete er noch dazu Dannhauers Worte an: Deus revocat lapsos semel, bis, ter, interterdum tantum semel.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 102-104.
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