Anno 1706
§ 86

[223] Kurz vor Michael [29. Sept.] liefen Briefe von Hause ein, ich sollte kommen, so bald, als möglich. Ich tat es ohne Verzug, nahm die Post über Berlin, und Frankfurt, und kam glücklich wieder in meiner Vater-Stadt an. Ehe ich in die Stadt hinein fuhr, besuchte ich meine Schwester im Vorbeigehen, so in der Vorstadt wohnte. Sie war höchst erfreuet, daß sie mich, wie sie sagte, vor ihrem Ende noch einmal sehen sollte, welches nicht[223] ferne sein würde. Ich suchte ihr solche Gedanken zu benehmen; sie bestund aber darauf, und meinte, ihr Herze sage ihr solches. Sie war schwanger, und hatte etwan noch 2 Monate bis zu ihrer Entbindung: ein Weib von 36 Jahren, die bei [seit] 12 Jahren her schon einige Kinder glücklich zur Welt gebracht. Ich hatte sie unter meinen Schwestern am liebsten, und hat mich darnach sehr geschmerzt, als es so gieng, wie sie gesaget, und sie mir durch den Tod, der 10 Wochen darauf erfolgte, und sehr merkwürdige Umstände hatte, genommen wurde, wie ich unten erzählen will. Als ich in die Stadt kam, so war der Bürgermeister von Rawitsch zwar nicht zugegen, es vergiengen aber kaum etliche Tage, so vernahm ich, daß er angekommen, und daß ihn die Not nach Breslau getrieben. Er war ein kluger Mann, und wenn er merkte, daß eine Moscowitische streifende Partei kommen sollte, so entwich er, damit alsdann die Brandschatzung und Contribution, wenn die Hohen des Rats und der Stadt nicht zu Hause, erträglich wäre. Das verstund der Pöbel aber nicht, sondern schmähete und lästerte auf ihn, als ob er sie im Stiche ließe, und so oft Gefahr vorhanden, Reißaus gäbe. Er erzählte mir solches, da ich ihm die erste Visite machte, und sagte, er wolle einmal bei solchen Fällen zu Hause bleiben, um nur den Bestien zu weisen, was seine Gegenwart vor betrübte Suiten [Folgen] nach sich ziehen, und wie viel es die Stadt kosten würde; so hernach auch geschehen.

Weil er sich eine Zeit lang in Breslau aufhielt, so hätte er gerne gesehen, wenn ich einmal in Breslau geprediget hätte, damit er mich zum voraus hören, und mich desto sicherer hernach in Rawitsch aufstellen könnte. Ich versprach ihm solches zu tun, gab einen Schedulam petitoriam [Gesuch] beim Rate ein, wie gewöhnlich und gebräuchlich: gieng auch zu dem Herr Inspector Neumann, und ersuchte denselben, mir darzu behüflich zu sein. Er stellte sich, als wenn er mein größter Patron wäre, sagte aber, es wäre ihm leid, wenn ich in meinem Ansuchen nicht reussiren sollte: er habe mit den Obersten des Rats davon gesprochen, und sie trügen großes Bedenken, darinnen mir zu willfahren, es müßte mich jemand bei dem Rate sehr schwarz gemacht, und aufs höchste sehr disrecommendiret [schlecht empfohlen] haben; könnte er etwas zu meiner Beförderung hier, oder in andern Orten beitragen, so sollte ich versichert sein, daß er es daran nicht würde ermangeln lassen. Ich machte deshalben bei einigen des Rats meine Aufwartung, und insonderheit bei dem Herrn Syndico, D. Schwemlern, der zwar schon Alters wegen einen Substitutum[224] hatte, aber doch noch öfters auf das Rat-Haus gieng, und viel zu sprechen hatte. Als ich demselben erzählte, was Herr Inspector Neumann zu mir gesagt, so erstaunte er über des Mannes Politique [Verschlagenheit] und Verstellung, und noch mehr über seine Furcht, daß er nicht das Herze gehabt, mir selbst vorzuhalten, und mich wegen des zur Rede zu setzen, dessen er mich beschuldiget. Der Herr Inspector selbst ist es, sprach er, der ihn so schwarz bei uns gemacht hat, und ihn bisher am Predigen gehindert; er giebt ihm Schuld, er habe falsche Briefe erdichtet, und Uneinigkeit zwischen ihm und Buddeo, und D. Neumannen in Wittenberg stiften wollen. Ich erzählte dem Herrn Syndico die ganze Affaire wegen des Briefes, den, wie oben gedacht, ein Studiosus von Wittenberg an einen Studiosum nach Leipzig geschrieben; beteuerte, daß es keine erdichtete Sache sei, und zu mehrerer Versicherung hätte ich den Brief mit nach Breslau gebracht, indem es mir recht geahndet, daß ich dieses Briefes wegen Verantwortung haben dürfte. Der Syndicus war froh, da er solches hörete, und sagte: Wenn dem also wäre, so sollte meine Sache bald gut werden: er wollte morgen auf das Rat-Haus gehen, und ich sollte mich nur zu Hause, und den Brief parat halten. Ich tat es. Um 10 Uhr kam der Ausreiter, und begehrte von mir den Brief, den ich ihm auch versiegelt einhändigte. Sobald sie auf dem Rat-Hause den Brief, und zwar das Original sehen, und lesen, so schicken sie zu des Studenten Kochs, der den Brief geschrieben, Vater, und lassen ihn auf das Rat-Haus holen, und fragen ihn: Ob das seines Sohnes Brief und Hand sei. Er, der Vater affirmirte [bestätigte] es, und bringet noch etliche andere Briefe, so sein Sohn geschrieben, zum Vorschein, solches noch mehr zu bekräftigen. Was geschiehet? Der Rat schickt von Stund an [sofort] den Brief mit dem Ausreiter dem Herrn Inspector zu, und läßt ihm sagen: da könne er sich darinne ersehen und lernen, daß M. Bernd wohl kein Betrüger, und kein Mensch sei, der falsche Briefe mache: es wäre gar kein Zweifel, daß ihn Koch geschrieben, denn sein Vater habe es selbst gestanden, daß es seines Sohnes Hand sei. Herr D. Pezold, ein Medicus, der bei D. Schwemlern im Hause wohnte, hat mir solches alles erzählet, und bezeuget, daß er alles aus Syndici Munde habe. Was Herr Inspector Neumann mag dazu gedacht haben, weiß ich nicht; was er aber vor Mesures [Maßnahmen] seines Sohnes wegen nach der Zeit genommen, soll besser unten erzählet werden.

Nun war keine Hindernis zwar mehr übrig mir die Kanzel zu[225] versagen, wegen anderer Ursachen aber habe ich doch nicht eher, als bis nach Weihnachten, und kurz vor meiner Abreise zum Predigen gelangen können. Denn der Herr Bürgermeister war inzwischen wieder nach Rawitsch gereiset, weil die Bürger wegen seiner Abwesenheit des Lästerns kein Ende machten. Die Herren Prediger in Rawitsch, und einige Rats-Herren daselbst, so von ihnen waren eingenommen worden, da sie hörten, daß der Bürgermeister einen von Leipzig zum Diaconat verschrieben [schriftlich angefordert] hätte, widersetzten sich, so viel sie kunten. Ihnen mochte auch nicht unbekannt sein, was vor dem Jahre, nämlich An. 1705 in Breslau mit mir vorgegangen, und daß die Rede gienge, als ob mir jetzt die Kanzel in Breslau noch untersaget sei. Zu mehrer Versicherung ließen sie bei dem Herrn Inspector zuhören [aushorchen], was ich vor ein Mensch sei, und was der Herr Inspector von mir hielte; sie bekamen aber zur Antwort: Er möchte von diesem Menschen weder Gutes, noch Böses reden: sie sollten aber den Herrn Con-Rector Krantz fragen, derselbe habe ein sattsames Erkenntnis von mir, der werde ihnen so viel sagen, als sie zu wissen begehrten. So ein Schoß-Kind, als ich auf dem Gymnasio des Herrn Krantzens, ja so ein Miracul ich mit meinem lateinischen Stylo und Orationen [Reden], so ich hielt, jederzeit gewesen: so war er doch jetzt mein Feind worden. Bei allem dem, was das Jahr zuvor in Breslau mit mir passiret, so fragte er mich doch noch denselben Sommer, ob ich tertius Professor in Thoren [Thor] werden wollte; da ich aber mich erklärte, daß ich auf einen Prediger studiret, und bei aller Philosophie und Oratorie, so er mir zuschrieb, keine Gaben zu einem Schulmann hätte; so antwortete er mir höhnisch, und sprach: Ich weiß wohl, was die Ursache sein wird, warum der Herr Magister diese Stelle nicht annehmen will: Wir Schul-Leute werden wohl geringe Leute in den Augen anderer sein und bleiben; Wir wollen alle groß in der Welt werden. Er war ein habiler [geschickter] und kluger Mann, und hatte gelernet, den Mantel nach dem Winde hängen. So lange Herr Inspector Neumann ein Spenerianer war, war er auch einer, und urteilte im Collegio Histor. Ecclesiast. 1697 ganz glimpflich von demselben; Wenn aber der Herr Inspector seinen Sinn änderte, so änderte er auch seinen Sinn, oder doch seine Sprache. Nun die Prediger aus Rawitsch schrieben an ihn, und baten sich ein Urteil und Gutachten meiner Person wegen von ihm aus. Was vor übele Dinge er aber von mir geschrieben, kam ich recht zufälliger Weise darhinder. Ich gieng einst in den Buchladen des Herrn[226] Steckens, den ich von der Schule her noch kannte, hatte mich aber kaum ein wenig unter den Büchern umgesehen, so kam der Sohn eines Predigers aus Rawitsch auch hinein, wo mir recht ist, so war es der Sohn des Herrn Feustels. Der Buch-Händler fragte ihn, was er guts Neues von Hause hätte; und siehe, da erzählte dieser in optima forma, und in meiner Gegenwart, weil er mich nicht kannte, daß ihr Bürgermeister einen verdächtigen Menschen der Stadt aufdringen wollte, den er von Leipzig kommen lassen, und daß sein Vater an den Herrn Krantz deshalben geschrieben, der ihm auch genügsame Nachricht von allen gegeben, von seiner Person, vom Humeur [Charakter], und daß er ein turbulentum ingenium [Wirrkopf] hätte, und viel andere Dinge mehr.

An statt nun, daß ich mich darüber hätte betrüben sollen, so erfreuete ich mich vielmehr, als ich alles dieses so mit anhörete; indem ich nicht die geringste Lust nach Rawitsch hatte, und mich immer nach Leipzig wieder sehnte; insonderheit da ich hörete, daß die Kirche in Rawitsch so groß, und von lauter Holz gebauet wäre, und folgentlich meine Kraft und Stimme eine solche Kirche auszufüllen viel zu schwach sein dürfte; welches ich auch in der Tat hernach, da ich predigte, wahr zu sein befunden habe. Weil nun der Herr Bürgermeister in Rawitsch gegenwärtig war, so machte er Anstalt zu meiner Gast-Predigt, und wurde ich solche auf den 21. Sonntag nach Trinitatis in der Vesper abzulegen, eingeladen. Ich machte dieselbe bei Zeiten fertig, wie sie mir denn 14 Tage zuvor angesaget wurde. Binnen dieser Zeit gieng ich einstens vor das Oder-Tor, auf dem Wege nach Polen zu, bei nahe eine Meile weit spazieren, weiß nicht mehr, ob um die Zeit zu vertreiben, oder um meine Predigt durchzugehen, und zu memoriren. Ehe ich michs versahe, so begegneten mir eine große Menge Soldaten zu Pferde. Aus der blauen Monture erkannte ich gleich, daß es Schweden sein müßten. Ich hätte mich bald zu fürchten angefangen; doch ich dachte: sie sind Schweden, die Schweden sind der Schlesier Schoß-Kinder, der König [Karl XII.] ist beinahe ihr Baal-Peor [Abgott, vgl. 4. Mos. 25], sie werden dir nichts tun. Und ich urteilte recht, denn ihre Furcht war größer, als die meinige. Sie jagten zum Teil mit ihren Pferden, als wie die Bauren-Pferde-Knechte, wenn sie bei Breslau um einen Ochsen um die Wette reiten: Viel stärker als die Sachsen, da sie An. 1700 von den Schweden, so über die Düne [Düna] setzten, in die Flucht geschlagen worden. Sie kamen daher zerstreuet, wie Schafe, die keinen Hirten haben[227] [Matt. 9,36]: recht so, wie der Prophet Micha die Kinder Israel einst im Traume gesehen hatte [Micha 2,8–12]. Der eine hatte nur einen Arm, der andere nur einen Fuß: der eine hatte den bloßen Degen an der Seite ohne Scheide, und der andere eine bloße Scheide ohne Degen. Viel waren im Gesichte, oder im Leibe verwundet, die meisten sahen mehr toten Leichnamen als lebendigen Menschen ähnlich. In dieser Zeit habe ich aus der Erfahrung gelernet, mit was vor Furcht des Todes ein flüchtiger Feind umgeben ist, und fieng nun an zu glauben, was mir einige Wochen vorher, da ich durch Lübben reisete, die Wirtin von den flüchtigen Sachsen nach der Schlacht bei Fraustadt, und von ihrer Furcht erzählet hatte. Denn diese, die jetzt aus Polen kamen, flohen auch vor einem siegenden Feinde nach der unglücklichen Schlacht bei Kalisch, die doch 18 Meilen von Breslau lag, in welcher die Schweden den Kürzern gezogen, und nach genommener Abrede vor der Schlacht, sich jetzt nach der schlesischen Grenze retiriret hatten. Sie legten sich in die Wirts-Häuser und Gast-Höfe in der Vorstadt, und war sonderlich der sogenannte Stein-Kretschem [Wirt] vor dem Oder-Tore noch denselben Abend mit Schweden angefüllet. Die Breslauer kamen in Menge vor das Tor, sie zu sehen, beschenkten auch viele aus Liebe, so sie zu den Schweden trugen. Sie hatten auch einen Kalmucken mitgebracht, den jedermann zu sehen begierig war.

Mittlerweile rückte der 21. Sonntag nach Trinitatis herbei, in welchem ich die Gast-Predigt ablegen sollte, und ich war Freitags zuvor schon auf die Kutsche bedacht, die ich mieten wollte, im Fall der Wagen des Bürgermeisters nicht ankommen sollte. Doch er kam; allein mit der betrübten Nachricht, daß der Schmigelscky, so ein berühmter Partei-Gänger des Königs in Polen war, vor Rawitsch gekommen, und den Bürgermeister gefangen mit weggeführet, und daß also vor diesesmal die Gast-Predigt nicht vor sich gehen könnte, sondern aufgeschoben werden müßte, bis der Bürgermeister ausgelöset, und wieder gegenwärtig wäre.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 223-228.
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