Anno 1709
§ 99

[245] Wie ich vor dem Jahre um diese Zeit beinahe im Feuer umkommen, so fehlte es nicht viel, daß ich nicht das folgende 1709te Jahr erfroren wäre. Es fiel der bekannte harte Winter ein, der vom letzten December 1708 an, bis zu Anfange des kommenden Frühlings dauerte. In der Neu-Jahrs-Messe kam mein Herr Gevatter Alberti, Prediger in Polenz, der jetzt in Großen-Hain Diaconus, und Herr M. Gehr, so damals in Taucha Diaconus war, nach Leipzig, und herbergten auf dem roten Collegio. Die Conversation mit denselben war mir jederzeit angenehm. Sie fuhren den andern Tag gegen Mittag wieder nach Hause; und, weil sie in Sellerhausen essen wollten, so versprach ich ihnen das Geleite dahin zu geben. Ich gieng aber zwei Stunden vorher, sie in Sellerhausen zu erwarten, und mit ihnen zu essen und zu trinken, und unsern Discours, den wir Abends zuvor bis in die späte Nacht gehabt, fortzusetzen. Nun war es nicht nur erbärmlich kalt, sondern es schneiete auch dermaßen, daß man weder Häuser noch Menschen davor sehen kunte, ohngeachtet der Schnee ohne dies schon hoch über der Erden, und auf den Dächern lag. Ich nahm den Weg durch den großen Kohl-Garten, der mir bekannt genug und den ich zu andern Zeiten, weil er im Sommer lustig zu gehen, vielfältigmal gegangen war. Auf dem Wege zwischen dem großen Kohl-Garten und Sellerhausen, ohngefähr in der Mitten, mußte ich meine Notdurft verrichten. Ich suchte mir ein bequem Plätzgen, wo der Schnee nicht zu tief lag, um mich nicht in denselben zu setzen. Als ich wieder auffstund, so wußte ich nicht auf welcher Seite des Weges ich mich niedergesetzet hatte, ob zur rechten oder zu linken. Denn da war keine Stadt, kein Dorf, kein Haus, kein Mensch vor Schnee zu sehen: Die Fußstapfen, wo ich gekommen, waren gleich wieder von Schnee verstrichen worden, weil ich zu lange verweilet hatte, so geschwinde ich mich auch zu expediren [erleichtern] gesuchet hatte. Da stund ich nun, und wußte nicht, wo ich zugehen sollte. Bald lief ich zurücke, bald wurde ich wieder dubiös, und kehrte wieder um, ohne zu wissen, ob ich zurükke nach der Stadt, oder nach Sellerhausen zuliefe. Da mich nun darüber schrecklich zu frieren anfieng, überfiel mich eine ungemeine Angst; denn man wußte schon Exempel von Leuten, die nach der Leipziger Messe auf dem Wege nach Hause sollten erfroren sein. Jetzt war es um das Ende der Zahl-Woche. Ich gedachte[246] an Mucke, und fieng im starken Fortgehen an zu beten, und zu Gott ängstlich zu schreien, er möchte mich doch nicht in Kälte umkommen lassen, da er mich vor 2 Jahren aus dem Feuer errettet. Da ich eine Zeit gegangen, und der tiefe Schnee die Beine ganz ermüdet, und Füße und Herz ganz erkältet hatte, sahe ich, wie einen Wagen vor mir in der Ferne. Ich gieng auf denselben zu, und da ich näher hinkam, war es ein Bauer, der Mist abschlug. Ich fragte ihn, wo ich wäre, und er berichtete mich, daß ich nicht weit vom Stintz wäre. Und da er hörte, daß ich nach Sellerhausen wollte, so wies er mir, wie ich zugehen sollte, so daß ich endlich glücklich daselbst ankam, und froh war, daß ich mich auch diesesmal nicht ergeben, noch aus Kleinmütigkeit und Mattigkeit mich in Schnee niedergeleget hatte, wie ich schon zu tun gesonnen war. Den beiden Predigern, wie sie mir nach der Zeit erzählten, war es in der andern Hälfte des Tages beinahe eben so ergangen. Der Pfarrer von Polenz hatte mit Kummer und Sorge kaum sein Dorf finden können, und Herr M. Gehr war mit seiner Frau etliche Stunden auf der Chaise roulante [Kutsche] gefahren, ohne zu wissen, wo er wäre; bis sie endlich, da es des Abends schon dunkel werden wollen, zu großer Freude, und ganz wider Vermuten gesehen, daß sie harte vor Taucha wären.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 245-247.
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