6. Christrosen.

[54] Wie merkwürdig, dachte ich, daß ich jetzt nach vierzig Jahren mit Fleiß das Haus aufsuche, das ich während meiner Kindheit jahrelang gemieden hatte wie meinen Feind. Hatte mich mein Weg in die Gegend geführt, so hatte ich jedesmal einen weiten Umweg gemacht. Wurde ich aber gar des Besitzers ansichtig, so machte ich eiligst Kehrt und lief, als würde ich verfolgt.

Heute suchte ich das Haus und den Mann! Auf dem Wege dahin durchschritt ich im Geiste alle Räume des Hauses, ja, alle, auch den kleinen, engen Hof und besonders den Ziegenstall. Ich seufzte tief auf und wischte mir die Augen. Dem Manne wollte ich die Hand reichen – ja, das sollte heute geschehen –, und ich dachte darüber nach, was ich ihm sagen wollte.

Da – als ich an der Stelle war – kein Haus! Auch kein anderes Haus, – ein leerer Platz![54]

Ich hatte ganz in aller Stille hingehen wollen, – jetzt mußte ich doch nach den einstigen Bewohnern fragen, und da erfuhr ich, der Mann sei tot und die Frau wohne an der Nossener Straße.

Als ich das dürftige Stübchen betrete, schlägt mir ein beißender Qualm entgegen, so als ob man nasses Holz verbrenne. Durch den Qualm hindurch entdecke ich am Fenster ein altes Weiblein, das mir bei meinem Eintritt erstaunt das Gesicht zuwendet.

»Guten Tag, Frau Triebel!« sage ich hustend und reiche ihr die Hand, »Sie erlauben wohl, daß ich hier ein Fenster öffne. Draußen ist's so wonnig warm, und hier haben Sie noch eingeheizt!«

Auf dem Gesicht der Frau malt sich maßloses Staunen, daß ich so eigenmächtig über ihren Rauch verfüge. »Nu,« sagt sie, als sich der Rauch verzieht, »Se haben eegentlich recht, – – su is ooch besser. 's Holz muß ni recht trocken sin, ich hab' mer'sch erscht heite aus 'm Zellwald geholt.«

»Aber weshalb heizen Sie denn bei der Hitze noch ein?«

»Nu,« sagt sie etwas gereizt, »wie soll ich denn sunst mei bissel Wassersuppe kriegen? Mieze, geh runter da, und laß die Dame sitzen.«

Sie nimmt das alte Kleidungsstück, auf dem die Katze gesessen, fort und deutet auf den Stuhl sich gegenüber. Wir sehen einander forschend ins Gesicht, und keine von uns findet auch nur im entferntesten Spuren einstiger Bekanntschaft. Endlich sagt die Frau: »Ich kann mich gar ni besinnen, daß ich Ihnen schon gesehen hab'! Wem sein Sie denn und was wollen Se denn bei mir? Se sein wohl im Errtum und sin verkehrt geraten.«

»Nein, Frau Triebel, ich bin nicht im Irrtum, wir[55] haben einander allerdings sehr lange nicht gesehen, aber wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, wird es Ihnen wohl einfallen, daß wir einander gekannt haben.«

Die Alte schüttelte zweifelnd den Kopf, sie prüft verstohlen mit den Fingern den Stoff meines Kleides, forscht wieder in meinen Zügen und sagt nach einer Pause: »Nee, – ich – kann mich ni besinnen.«

»Erinnern Sie sich wohl, daß Sie vor langen Jahren einmal ein Kind vom Forsthof bei sich hatten?«

Die Alte sieht mich starr an, dann sagt sie langsam: »Nu freilich – besinn' ich mich, – das war doch de kleene Cha–re–das?!«

»Ganz recht! – Nun, das bin ich.« –

»A! Is wahr?! Sie wär'n de kleene Charedas?!«

Ich nickte ernst.

Die Alte seufzte tief, ließ den Kopf auf die Brust sinken, schloß die Augen und sagte leise: »Weihnachten! Ach, das Weihnachten! Ja, er war garscht'g zu dir, sehr garscht'g! Und der David war's doch gewest.«

»Der David?!« rief ich lebhaft. »So ist es also doch noch heraus gekommen? Und das höre ich heute, nach mehr als vierzig Jahren!?«

»Ich hab'n zum Geständnis gebracht! Wie hab' ich meinen Mann gebeten, er möchte doch uf dem Forschthof gehn und dir Abbitte tun, aber er hat gelacht und gesagt: ›en Kinde tut man doch keene Abbitte!‹ Ich hab's gar ni recht verwinden können, viele Weihnachten nachher hab' ich egal an dich denken müssen.« –


***

Was war es denn, was der alten Frau unruhige Weihnachten verschafft hatte? Während ich nach einer herzlichen Aussprache in der Dämmerung gedankenvoll[56] den Rückweg antrat, zogen Erinnerungen tief trauriger Natur an meiner Seele vorüber.


***

Ich war acht Jahr alt, da hörte ich, wie meine Eltern wieder eine Reise planten, sie wollten durch die Lausitz über Böhmen, Schlesien nach Krakau, um ihre botanischen Sammlungen zu verkaufen.

Ich saß in der Vorderstube auf einem Fußbänkchen und weinte leidenschaftlich. Neben mir auf dem Stuhl saß die Mutter und redete mir zu, aber es gelang ihr nicht, mich zu trösten. »Kind,« sagte sie, »mach mir das Herz nicht so schwer! Ich hoffe, daß wir Weihnachten wieder hier sind. Hör mal zu!«

»Wollen wir denn ein Bäumchen anputzen? Sollen wir dir etwas mitbringen? Warte, – ich stricke dir ein paar Müffchen! Mit hübscher bunter Wolle! Du sollst selbst sagen, wie du sie haben willst. Na, nun sag mir mal, wie sie sein sollen!«

»Laß nur,« sagte ich weinend, »ich will gar nichts, gar – gar – gar nichts! Nur euch will ich haben. – Bleibt doch bei mir! Warum müßt ihr immer reisen?«

Der Vater richtete sich von seinem Käferkasten in die Höhe und sagte: »Das verstehst du noch nicht!«

In diesem Augenblick klopfte es, und herein trat ein langer, schmalbrüstiger Mann, dessen bartloses Gesicht zwei rote, abgezirkelte Flecken zeigte. Das war der Sattler Triebel, der zur bevorstehenden Reise noch eine Arbeit ablieferte. Die Mutter bot ihm einen Stuhl, während der Vater das Geld auf den Tisch zählte.

»Und morgen soll's losgehen?« sagte der Mann mit hoher Stimme.

Die Mutter nickte.[57]

»Es hat wohl Haue gegeben,« sagte er, auf mich deutend.

»Mädchen schlägt man doch nicht gern, die müssen aufs Wort gehorchen lernen. Sie weint, weil sie nicht von uns will.«

»Wo kommt sie denn hin?«

»Zur früheren Madame Hänel. Ich geb' sie nicht gern hin, weil diese sie nur im Notfall haben will, da sie jetzt die Stiefkinder hat.«

»Wieviel geben Sie denn für das Kind?«

Die Mutter zuckte zusammen und sagte kurz: »Wieso?«

»Na, wenn Sie gut zahlen, dann finden sich auch noch andere Leute wie Madame Hänel.«

Der Vater sagte kalt: »Das ist doch kein Geschäft! Wir können nicht viel geben, sie soll aber nur zu Leuten, wo sie es ordentlich hat, die Verständnis für ein Kind haben.«

Der Mann lachte, aber er verharrte bei der Sache. Es wurde erregt hin und her gesprochen, und das Ende war, daß er mich haben wollte.

»Täschen!« sagte die Mutter bittend, »willst du wohl zu dem Manne gehen? Er hat gar keine Kinder und möchte jetzt eins haben. Willst du?«

Ich schüttelte entschieden den Kopf und blieb dabei: »Ich will zu keinen fremden Leuten!«

»Du!« sagte er, und rückte näher zu mir heran, »magst du wohl fahren?«

»Ja,« sagte ich lebhaft, »gewiß, sehr gern.«

»Soll ich dich mal auf dem Schiebbock in die Niederstadt fahren?«

Ich lachte, und die Mutter sagte scherzend:


Dann fährt mein Kind im Saus

Ganz bis vors Triebelhaus!«[58]


Mit so einem kindlichen Reimchen machte mir die Mutter jedesmal einen großen Spaß. Der Sattler hatte mich!

Während Triebel die Schiebkarre holte, suchte die Mutter meine Sachen zusammen, und ich half ihr geschäftig. Hier in der Kammer war die Mutter ganz ernst, sie drückte mich heftig an sich und sagte: »Nicht wahr, du bleibst recht brav und artig? Sei doch recht fröhlich! Wenn du aber Not hast, dann klag sie dem lieben Gott, Er sieht und weiß alle Dinge, Er sieht auch deine kleinen Leiden, und wenn du ihn bittest, hilft er dir! Hüte dich nur, daß du niemandem weh tust!«

Mittlerweile war das Gefährt angekommen. Halb lachend, halb weinend nahm ich Abschied von den Eltern. Der Vater setzte mich fürsorglich auf das Bettbündel, und so fuhr ich den Forsthofberg hinunter. Die Eltern winkten, solange sie mich sehen konnten. Wirklich im Saus ging es den Niederstadtberg hinunter, und ich hielt einen verhältnismäßig vergnügten Einzug. Aber das Lachen hielt nicht lange vor.

Sie waren der Meinung, ein Kind wisse sein Maß nicht, es müsse recht knapp gehalten werden, sonst verderbe es sich den Magen. Zumal der Mann und seine Mutter waren nach der Seite hin sehr auf meine Gesundheit bedacht. Zum Haushalt gehörten noch die Frau und der Lehrjunge. Die Werkstelle, wo ich schlief, war ein niedriger, dumpfer Raum, wo Berge von verfilzten Haaren, Pferdekummete, Leder und allerlei Schrumpel herum lag. Meine Tagesarbeit bestand darin, die Haarpolster, die in alten Möbeln gewesen waren, auseinander zu zupfen. Die Arbeit ging nicht über meine Kräfte, aber sie war durch den Staub, der damit verbunden war, sehr widerlich. Schlimmer wurde die Sache abends für mich. Da mußte ich dem Meister und dem Lehrjungen[59] bei der Arbeit leuchten. Wenn sie an den schweren, großen Kummeten arbeiteten, mußte der Lichtschein bald von dieser, bald von jener Seite auf die Arbeit fallen. Der Lehrjunge sollte auch möglichst berücksichtigt werden, und da sie in arbeitsreicher Zeit manchmal bis nach Mitternacht arbeiteten, so wußte ich oft nicht, wie ich es vor Überanstrengung aushalten sollte. Ich tat wie die Störche, bald stellte ich mich auf das eine, bald auf das andere Bein. Ich stützte den müden Arm mit dem anderen, ich schlief im Stehen ein und wurde dann durch einen Schlag an meine Pflicht erinnert. Triebel war sehr aufgeregt und jähzornig, ich muß zu seiner Entschuldigung annehmen, daß er krank war, und daß er Nahrungssorgen hatte. Viele Worte machte er nicht, er schlug zu. David bekam sein reichlich Teil, ich ging aber auch keineswegs leer aus.

Meine Erholung war die Schule, obgleich ich in der Zeit gewiß die schlechteste Schülerin war. Zu meinem Glück hatten wir gerade damals einen ganz prächtigen Lehrer. Er war ein großer Kinderfreund und hatte ein ganz besonderes Verständnis und großes Erbarmen mit der Not armer Kinder. Er kam gerade vom Seminar, unterrichtete mit Eifer und Begeisterung, um so bewundernswerter war es, daß er für eine so schlaffe, weinerliche Schülerin so viel Nachsicht und Geduld hatte. Ich konnte mich oft beim besten Willen nicht wach halten, mein müder Kopf fiel auf den Tisch, und ich schlief ein.

»Laßt sie,« sagte er dann, wenn die anderen mich aufrütteln wollten, »sie kann nicht, aber ihr könnt, ihr seid bei euren Eltern. Wenn die erst wieder zu Hause ist, dann sollt ihr mal sehen, dann wird's wieder besser. Mache keine von euch ihr das Leben schwer! Macht, daß sie gern herkommt, daß sie uns alle lieb hat!« Und seine guten Worte blieben nicht ohne Wirkung. Man[60] ging mit mir um, wie etwa mit einer Kranken. Viele wetteiferten, mir Gutes zu tun, und sie entwickelten ordentlich ein Zartgefühl beim Geben. »Komm!« sagten sie, »probier mal unsere Grievenbemme,« oder: »Hast du schon mal solche Apfel gegessen?«

Besonders empfänglich für die Worte: »Wohlzutun und mitzuteilen«, wurden alle durch die Vorbereitung auf das nahende Weihnachtsfest. »Bereit' das Herz zur Andacht sein!« Das wurde uns ernst mahnend zugerufen. »Vergeßt über der äußeren Vorbereitung nicht die innere. Richtet eure Wünsche nicht auf sichtbare Gaben, trachtet vielmehr danach, wie ihr den würdig empfangt, der auf Erd' ist kommen arm, daß er unser sich erbarm'! Auch das ärmste Kind hat Teil an der ewigen Freude! Es ist aber auch niemand so arm, daß er nicht Weihnachtsfreude verbreiten könnte. Wer nicht Geld und Gut hat, kann durch den guten Willen, durch Fleiß und Freundlichkeit doch beitragen zu dem Wohlgefallen, wovon in der Engelbotschaft die Rede ist.«

So sprach Herr Dietze zu uns, und unsere kindlichen Herzen entzündeten sich an den guten Worten. Es entfaltete sich eine Geschäftigkeit, ein Flüstern und Planen wurde hörbar, so daß man fühlte, es liege etwas Ungewöhnliches in der Luft, man warte auf etwas Besonderes. Auch mein Kindesherz wurde von dem Wunsche beseelt, an dem allgemeinen Wohlgefallen zu bauen. Aber was konnte ich tun? Nun, ich konnte dem Sattler die Lampe mit besonderer Geduld und Aufmerksamkeit halten, so daß er nicht zum Zorn gereizt wurde. Das war freilich gar keine sichtbare Gabe, aber es war das, was ein armes Kind geben konnte. So deutete ich mir wenigstens die Worte des Lehrers. Aber ich hatte die Sehnsucht nach der Seligkeit des tatsächlichen Gebens. Dem verehrten Lehrer hätte ich so sehr gern etwas Sicht- und[61] Greifbares geschenkt. Fiel mir denn gar nichts ein? Sollte es mir wohl möglich sein, einen Reim? – Vers? – Gedicht? – zusammen zu bringen? Das war freilich ein Unternehmen! Aber wenn ich es nun so gern wollte? Natürlich konnte ich das nur abends im Bett, wenn es um mich herum ganz still war, wenn nichts mich störte. Wenn ich nun aber darüber einschlief? Oder wenn ich den Reim am Morgen wieder vergessen hatte? Ja, das waren so meine Weihnachtspläne und Weihnachtssorgen!

Am letzten Schultag vor dem Fest, sagte mir Wenzel-Emilchen aus Breitenbach, ich möge am ersten Weihnachtstag doch zu ihr hinaus zum Mittagessen kommen. Am Nachmittag gingen sie aus, aber essen könne ich da. Das war ja viel, worauf ich mich freuen konnte! Im Sattlerhause wurde gescheuert, die Ziege war geschlachtet, und Kuchen und Stollen wurden gebacken. Es war der Vormittag vom 24. Dezember. Die alte Frau Triebel hatte mir gesagt, ich möge oben ihr Kämmerchen fegen. Das tat ich, und beim Fegen kam mir ein freudiger Gedanke. Wie, wenn ich außer dem Reim vielleicht noch eine Zeichnung machte für meinen lieben Lehrer? Am liebsten hätte ich ja ein Bild von der Weihnachtsgeschichte gemacht, aber ach! – das überstieg bei weitem meine Kräfte! Das konnte ich wohl mit meiner Seele schauen, aber selbst bilden?! Kein Gedanke! Was konnte es denn sonst sein? Beim Vater hatte ich Sonntags nachmittags zeichnen müssen. Er legte mir dann von unseren gepreßten Pflanzen eine vor, und ich mußte sie nachzeichnen. Also nur eine Blume konnte es werden. – Aber welche? Halt! – Ich hab's! Helleborus niger, die Christrose!

Jetzt schnell hinunter in die warme Stube! Ein Blatt aus dem Heft und ein spitziger Bleistift das ist[62] alles, was ich brauche. Mit klopfendem Herzen und glühendem Gesicht gehe ich an die Aufgabe. Daß mich nur niemand stört! Nein, alle sind bei ihrer Arbeit. Die Frau ist am Backofen, die alte Frau Triebel ist auf ihrem Auszugsstübchen oben, und Meister und Lehrling arbeiten in der Werkstatt. Ach! – Nun habe ich keine Vorlage, und nun, da ich bei den Blättern angekommen bin, möchte ich doch gern mal nachsehen! So? – Ist's nicht doch so? Ich halte das Papier in Armeslänge von mir und stelle mir vor, was wohl der Vater dazu sagen würde: »Na – na!?« höre ich ihn fragen und will eben einige Verbesserungen anbringen, als plötzlich die Tür aufgeht. Es ist die alte Frau Triebel! Schnell in die Tasche mit der Zeichnung!

»So?« ruft sie zornig, »hier sind' ich dich, du kleiner Spitzbube! Wer heißt dich an meine Mutsche gehen und mir den schönsten Prinzapfel stehlen?«

Mir wird schwarz vor den Augen, die Stube dreht sich mit mir, ich kann nichts sagen. Da stürzt Triebel mit einem Riemen herein.

»Zeig deine Tasche!« ruft er. »Du denkst doch nicht, daß du den noch findest? Den hat sie doch aufgegessen!« sagte die Alte. Ganz mechanisch ziehe ich meine Zeichnung hervor und kehre die Tasche um. Er wirst einen flüchtigen Blick auf das zerknitterte Papier, öffnet die Ofentür, und ich sehe, wie sich mein Werk in eine rotglühende Fläche verwandelt.

»Nicht einen Augenblick darf man sie allein lassen,« schilt Triebel und nimmt mich mit festem Griff beim Handgelenk. Er schleppt mich über den verschneiten Hof in den leeren Ziegenstall und züchtigt mich in so erbarmungsloser Weise, daß endlich auf mein lautes Weinen die Frau hereinstürzt. Sie fällt dem zornigen Mann in den Arm und ruft: »Leberecht! – Laß das! – Hau[63] sie nicht zu Schanden! – Es ist ein fremdes Kind! Denk an die Mutter! – Leberecht! – Es ist Weihnachten!!«

Dann gingen beide. Der Mann machte den Pflock vor die Tür.

Wimmernd vor Schmerz lag ich auf der Streu. – Was hatte ich denn getan? Dieb?! Ich ein Dieb?! Und wenn nun das der Lehrer hörte? Ob der es wohl glaubte? Ob die Kinder es glaubten? Ob sie mich nun alle verachteten? Ich weinte schmerzlich. Was würde die Mutter sagen? Die würde mir glauben, die hatte das beste Zutrauen zu mir.

Dunkel und kalt um mich her. Dunkel und kalt in mir! Wann würde der Pflock von der Tür genommen? Und selbst wenn er weg war, – was dann weiter? Du Gott siehst und weißt ja alle Dinge! Du weißt, daß ich kein Dieb bin!

Wie lange ich in Schmerzen und quälenden Gedanken da gelegen hatte, wußte ich nicht, aber ich hörte, daß leise der Pflock gezogen wurde. Es wird Frau Triebel gewesen sein.

Verweint und zerschlagen kam ich ans Tageslicht. Drinnen sah ich, daß sie zu Mittag gegessen hatten.

Als zum Kaffee aufgedeckt wurde, sagte Triebel: »Spitzbuben kriegen in meinem Hause nichts zu essen. Stell dich dahin, und sieh zu, wie uns der Kuchen schmeckt.«

Nein, ich bekam an dem Tage nichts zu essen. Ich stellte mir vor, wie in der Dämmerung in anderen Häusern die Weihnachtsbäume angezündet wurden. Die Glocken läuteten zum Abendgottesdienst. Die Christenheit feierte überall Weihnachten!


***[64]

Trotzdem ich mich am nächsten Tage noch krank an Leib und Seele fühlte, ging ich doch zum Wenzel-Emilchen nach Breitenbach. Als ich da still und traurig ankam, sagte die gute Bauerfrau: »Du bist ja so blaß? Bist du krank?«

»Du bist ja so still?« sagte Emilchen. »Was hat dir denn das Christkind gebracht? Du mußt ja auch meine Sachen sehen.«

Da kamen sie wieder hoch, die Tränen! Ich würgte daran. Um sie zu verbergen, drehte ich das Gesicht dem Fenster zu. Noch die Tränen in den Augen und in der Stimme, rief ich plötzlich lebhaft und streckte den Finger nach dem Garten: »O, da habt ihr ja Christrosen im Garten!«

»Meinst du die weißen Blumen da drüben? Findest du sie denn hübsch? Sie sind ja nicht bunt, sie sehen fast aus wie der Schnee, so weiß.«

»Ach, Frau Wenzel, bitte, schenken Sie mir doch eine!« bat ich.

»Ei freilich! Die kannst du gerne kriegen! Ich muß mich nur wundern, wie du so hinter den Blumen her sein kannst! Na, das liegt dir ja wohl so im Blut, von Vater und Mutter her.«

Emilchen und ich gingen hinaus. Da, mitten in Eis und Schnee stand ein ganzer Büschel Christrosen.

»O, Helleborus niger!« rief ich beglückt und breitete gleichsam liebkosend die Hände darüber. Dann schob ich den Schnee etwas zur Seite. War es nicht, als ob die bleichen Blumen gefrorene Tränen an den Bäckchen hätten? Die noch nicht erblühten ließen wie träumend das Köpfchen hängen. An einigen der Blüten zeigte sich eine ganz zarte Andeutung von Rot. O, etwas Zarteres, Lieblicheres konnte man sich kaum denken![65] Und so unbeachtet, so halb vergraben im kalten Schnee entfalteten sie ihre Schönheit. Mit vor Freude zitternden Händen bog ich die kräftigen Blätter, die die Blumen gleichsam schützend umstanden, ein wenig zur Seite und löste sie vorsichtig von der Wurzel. Eins der grünen kräftigen Blätter nahm ich mit. Drinnen band ich sie mit einem Faden zusammen.

Frau Wenzel sah mir lächelnd, kopfschüttelnd zu. Endlich sagte sie: »Du bist wohl ganz hin in deine Blumen, siehst wohl gar nicht die Puppe, die ich hier für dich hergelegt habe?«

Eine Puppe? Für mich?! Ich war also nicht von der Weihnachtsfreude ausgeschlossen!? Eine liebe, liebe Puppe! Ein Kind, für das ich sorgen mußte, das ich lieb haben durfte, dem ich alles, alles erzählen durfte! Wieder kamen mir die Tränen hoch, aber diesmal waren es Freudentränen. Als ich der Frau und dem Emilchen einen Dank aussprach, sagte ich zu letzterer: »Wenn die Eltern wieder kommen, schenk' ich dir auch was recht Schönes!«

»Du?! Was denn?« sagte die Frau lachend und verwundert.

»Du kannst dir nur wünschen!« sagte ich großmütig, »wir haben so viel! Eine schöne Muschel, einen Käfer, einen bunten Schmetterling oder einen schönen Stein! Du kannst nur kommen, ich bitte Vater, daß er dich aussuchen läßt!«

»Das laß nur,« sagte die Frau lachend.

Wieviel hatte ich! Die Puppe für mich, die Blumen?! Das war mein Geheimnis! Als ich das Sträußchen sinnend betrachtete, fiel mir meine Zeichnung ein. Ich mußte wehmütig lächeln und mich fast freuen, daß die Flammen mein Machwerk verzehrt hatten. Wie unaussprechlich gut hatte es Gott mit mir im Sinn, er[66] gab mir statt der stümperhaften, ausdruckslosen Zeichnung seine eigenen holden Blumen!

Nun hatte ich noch ein schweres, wichtiges Stück Arbeit vor, ich mußte meinen Vers niederschreiben, und dazu hatte ich vor innerer Erregung kaum die Ruhe.

Freundlich entlassen, begab ich mich nun auf die Wanderschaft. Breitenbach liegt dicht an Siebenlehn, aber mir kam der Weg durch den Schnee, trotzdem ich in Gesellschaft der Puppe war, recht lang vor. Ich lief in weiten Zickzacklinien so drauf los, wie mir's das Herz eingab. Die Zeit war mein, und ich tat genau damit, was ich wollte; es kümmerte sich auch niemand darum, was ich damit anfing, wenn ich nur am Abend wieder zur Stelle war.

»Sieh,« sagte ich zur Puppe, »nun gehen wir zuerst nach dem Forsthof, da ist ›Daheim‹, – und da laß ich dich! – Ich nehm dich nicht mit zum Sattler. Warum nicht? – Ach! – Laß nur! – Das verstehst du noch nicht!«

Auf dem Forsthof ging ich mit angehaltenem Atem hinauf vor unsere Stubentür. Ich klinkte am Türdrücker, dann legte ich das Ohr an die Tür, endlich hob ich mich auf die Fußspitzen und guckte durchs Schlüsselloch – lange – lange – immer noch einmal!

»So, jetzt darfst du!« sagte ich schluchzend. »Siehst du was? Nein? Doch – du siehst etwas! Sieh mal ordentlich hin, da steht doch auf dem Tisch die Streichholzbüchse und das Lämpchen!«

Weinend brachte ich die Puppe zur Wirtin. Ich drückte ihr kaltes Köpfchen an mein Gesicht und küßte sie heftig. »Nicht für lange!« sagte ich tröstend, »dann trennen wir uns nie wieder!« – »Frau Claus,« wandte ich mich an die Wirtin, »ich muß aber wissen, wo Sie sie hinlegen!«[67]

»Ja doch, ja! Komm mit an die Lade, sieh, hier leg' ich sie zwischen die Wäsche, du kannst sie dir da selbst wieder weg holen.«

Nun wanderte ich weiter. Bis ich zur Schule kam, war es dämmerig geworden. Auf mein Klopfen erfolgte ein deutliches »Herein!«

Nun, da der lang ersehnte, bis ins einzelne ausgemalte Augenblick da war, verlor ich fast die Fassung. Was mir so wichtig und so groß erschienen war, das schrumpfte plötzlich in ein Nichts zusammen. Ach, wenn er nur nicht lachte! Nein, nicht lachen! – Nicht lachen!

Da wurde die Tür geöffnet, der volle Lampenschein fiel auf meine dürftige Gestalt, als ich dastand und stumm, mit bittendem Blick, das Sträußchen mit dem Vers hinhielt.

»Ei! – Christrosen! –« rief der Lehrer freundlich. »Komm doch herein, hier setz dich! Wie geht es dir denn? Und du machst mir solche Freude!«

Da war's, als sollte mir das Herz brechen vor innerer Erregung.

»Diese Blumen,« fuhr Herr Dietze fort, »gehören mit zu meinen Lieblingsblumen. Es ist eine kleine tapfere standhafte Blume! Wir wollen sie gleich in Wasser setzen, da hält sie sich lange, die ist abgehärtet! Deine freundlichen Worte dazu aber will ich mir aufbewahren. Warte, ich zünde die Spiritusflamme an. Eh' wir's uns versehen, haben wir eine Tasse Kaffee, und in dieser Kiste ist ein schöner Rosinenstollen, den schneiden wir an, und bis das Wasser kocht, singen wir eins von unseren schönen Weihnachtsliedern.« Er holte die Geige von der Wand und stimmte mit seiner kräftigen, jugendlichen Stimme an, und ich fiel mit meiner schwachen schüchtern ein. Wir sangen:[68]


»Es ist ein Ros' entsprungen

Aus einer Wurzel zart,

Als uns die Alten sungen,

Von Jesse kam die Art,

Und hat ein Blümlein bracht

Mitten im kalten Winter,

Wohl zu der halben Nacht.«


Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 54-69.
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