8. Die Anfahrt.

[87] Wir wünschten ein Bergwerk in vollem Betrieb zu sehen. In Siebenlehn war das nicht mehr möglich, weil da kein Bergbau mehr getrieben wird. Deshalb wählte ich zu diesem Zwecke ein mir bekanntes Dorf. Ich hatte noch meine besonderen Gründe: ich wünschte Erinnerungen aufzufrischen.

Unser Weg führte uns durch das liebliche Muldental, vorbei an dem entzückend gelegenen Hammerwerk. Wir bogen in einen Hohlweg. Oben auf den hügeligen Abhängen stehen die verstreuten Häuschen der Bergleute. Weiterhin liegen die mächtigen Steinhaufen, Halden genannt. Der hohe Schornstein ist von den Gewerkschaftsgebäuden umgeben, in einiger Entfernung liegt das Pulverhaus. Aus der Bergschmiede dringt munterer Hammerschlag, und hier auf dem Hügel, im Mittelpunkt des Dorfes, liegt das Huthaus. In Gottes Hut begibt sich der fromme Bergmann, ehe er seine gefährliche Anfahrt beginnt.[87]

Es ist gerade drei Uhr, die Glocke läutet zur Schicht, von allen Seiten kommen die Bergleute herbeigeströmt, ganz so wie vor langen Jahren. Wir schließen uns ihnen an und nehmen hinter der schlichten Orgel Platz. Ja, das schöne Lied kenne ich noch, ich lausche, ich bin zu bewegt, als daß ich mitsingen könnte.


»Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!

Ein Grubenkleid – ein Totenkleid.

Drum falt ich betend meine Hände

Und flehe um Barmherzigkeit.

O Herr, du meine Zuversicht:

Verlaß, verlaß den Bergmann nicht!


Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!

Ein Grubenschacht – des Todes Schacht.

Wohin ich meine Augen wende,

Nur schweres Graun, nur tiefe Nacht.

Mein Heil, mein Licht, Immanuel,

Komm, mache du mein Dunkel hell!


Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!

Ein Grubenlicht – mein Lebenslicht.

Ein Tropfen löscht es gar behende,

Wie bald verweht's der Zugwind nicht!

Herr Gott, in Not und in Gefahr,

Nimm meines Lebens gnädig wahr!


Gib mir, o Herr, zum sel'gen Ende

Ein wachend und ein betend Herz.

Dein Wort als Leuchte in die Hände

Zur Fahrt hinauf und niederwärts.

Kommt dann die allerletzte Schicht,

Dann zag ich nicht, dann klag ich nicht!


Still leg ich dann am sel'gen Ende

Das schwarze Kleid der Grube ab;

Man legt die ausgelöschte Blende

Und mein Gezähe mir aufs Grab;

Mir reicht der Herr das weiße Kleid

Der himmlischen Gerechtigkeit.[88]


Einst fahr ich dann am sel'gen Ende

Herauf aus meines Grabes Schacht;

Hell leuchten alle Bergeswände,

Des Himmels Glanz durchbricht die Nacht,

Es steigt die Gnadensonne auf,

Und alles jauchzt: Glück auf! Glück auf!«


Wir haben von der Berghauptmannschaft aus Freiberg Erlaubnisscheine zur Anfahrt erhalten. Im Zechenhaus müssen wir unser Zeug mit der Bergmannstracht vertauschen. Jetzt stehen wir erwartungsvoll an dem gähnenden Schacht. Ich schaue schaudernd in die Tiefe. Weit unten bewegt sich ein einziges Lichtlein. Auf meinen fragenden Blick sagt mir mein Begleiter: »Das ist der Bergzimmermann, der die Sprossen untersucht.«

Und nun beginnt unsere Anfahrt. Es ist mir durchaus nicht geheuer, als wir aufgefordert werden, einige Meter auf der senkrechten Leiter hinabzusteigen. Ich zittere heftig. Ein Blick in die bodenlose Tiefe läßt mich zaudern. Die ungewohnte Kleidung, der Schein der Blende an den dunklen Felswänden macht mich ängstlich. Aber siehe da! Jede Bewegung meinerseits wird von meinem fürsorglichen Begleiter beobachtet und überwacht, bis wir da ankommen, wo die Fahrstühle sind. Jedem Fahrstuhl wird ein Bergmann beigegeben. Als wir untergebracht sind, gebietet unser Führer mit freundlichem Ernst absolute Ruhe. Er ermahnt uns, auch unsern Körper durch aus still zu halten. Und nun beginnt die gleichmäßige Fahrt in die Tiefe! Keinen menschlichen Laut vernehmen wir, aber dicht neben uns rasseln schwerfällig eiserne Ketten. Waggons, gefüllt mit Steinen, ziehen an uns vorüber. Ich wage kaum den Kopf zu drehen und habe vor mir nur die schräge, rötliche Wand. In kurzen Unterbrechungen sehen wir nur die Angabe der Meterzahl, die wir zurückgelegt haben. Endlich ein Ruck! Die[89] Fahrstühle halten, und sofort sind unsere freundlichen Erdgeisterchen bei der Hand und stellen sich in unseren Dienst. Wir hören, daß wir 550 Meter tief sind. Hier sind die Gänge, die ich als Kind auf der Karte gesehen habe. – Hatte ich mir damals eine Vorstellung von hellglänzenden Bergeswänden gemacht, so war das ein Phantasiegebild gewesen. Auch das gemeinschaftliche, fröhliche Arbeiten von vielen Bergleuten war eine irrige Vorstellung gewesen. Wir waren hier in einem Gang, der die Bezeichnung führte: »In Christi Hilfe stehender«. Hier war's einsam, dunkel, kalt und feucht. Auf einem schlüpfrigen Brett tappten wir vorsichtig weiter. Wir kamen an Seiten- und Nebengänge. Wenn man sich nun hier verirrt? Ist man dann nicht verloren? Mein Führer zeigt lächelnd auf seinen Kompaß. Wo ist das Silber und Edelmetall? Der Bergmann erhebt seine Blende und zeigt auf die rote Wand, diese matt glänzenden Streifen im Gestein enthalten Silber, aber sie sind vermengt und vermischt mit viel taubem Gestein. Vieles wird schon gleich als untauglich auf die Halde geworfen. Das erzhaltige Gestein muß viel Scheidungs- und Läuterungsprozeduren durchmachen, ehe es seinen Weg in die Münze macht. – – Vor einer fast senkrechten, dicht an das Gestein angebrachten, sehr unbequemen Leiter, machten wir halt und wurden nun aufgefordert, recht vorsichtig da hinauf zu klettern.

Unser Führer ging voran und öffnete oben eine niedere Tür. Wir krochen durch die Öffnung und befanden uns in einer Art Höhle, etwa von der Größe einer geräumigen Stube. Es fiel uns, die wir aus der Dunkelheit kamen, zunächst auf, daß es hier so hell war. Kein Wunder, – all unsere Blenden vereinigten sich, um den Raum zu erleuchten. Hier waren wir »vor Ort«, und zwei Bergleute begrüßten uns mit freundlichem Lächeln.[90]

Sie beobachteten uns interessiert, aber ohne zudringliche Neugierde. Unser Führer belehrte uns über die neue Art des Hauens, das aus den italienischen Bergwerken übernommen ist. Der gestreckte Arm führt mit kräftigem Schwunge den Hammer von unten nach oben, gegen die Stange, die in das Gestein hineingetrieben wird.

Die beiden tätigen Bergleute zeigten uns ihre Arbeit. Eine etwa 50 cm lange, nicht sehr starke, vorn zugespitzte Eisenstange wird durch kräftige Schläge in den Stein hineingetrieben. Eintönig, – taktmäßig fallen die Schläge. Bei dieser Arbeit pflegen sich die Bergleute durch Singen – vorwiegend geistlicher Lieder – gegenseitig zu ermuntern. –

Der Steiger maß nach und fand, daß die Öffnung so weit gediehen sei, daß eine Sprengung stattfinden könne.

Wir mußten diesen Raum verlassen. Die Holztür wurde geschlossen, und bald darauf hörten wir einen dumpfen Knall, der unheimlich in den Bergen widerhallte. Die Bergleute hatten vorher die Öffnung mit Sprengstoff gefüllt und die Schwefelfäden angezündet. Es ist sehr schwer, den Eindruck zu schildern, den wir von dem Ganzen hatten. Das Fremdartige überwältigte uns. Ein wahrhaft feierliches Gefühl bemächtigte sich unser.

Als ich zunächst das Gewölbe betrat, kam es mir vor, als ob wir uns in einem schauerlichen Gefängnis befänden; als ich mir aber die zufriedenen, in Gott vergnügten Menschen ansah, da schien mir eher, daß sie im Vergleich zu uns die Freien wären. Sind sie in ihrer abgeschlossenen Grube nicht unabhängig von Sommer und Winter, von Tag und Nacht? An den Schätzen, die sie graben, haben sie keinen Teil. Sie bleiben arm, ob sie guten Anbruch haben oder nicht. Singen sie doch bei ihrer unterirdischen Arbeit:[91]


»Laß Herr, genügsam und zufrieden

Auch eines kleinen Glücks mich freun;

Was deine Hand mir hat beschieden,

Kein unrecht Gut soll es entweihn!

Ein Scherf, auf dem dein Segen ruht,

Gilt mehr als großes Sündengut!«


Möchte doch das Silber auf seinen späteren, wechselvollen Wanderungen etwas behalten von der Poesie und dem Zauber, den die Art der Gewinnung auf uns ausübte. –

Uns aber, die wir keine Bergleute sind, leidet es nicht allzulange in der abgeschlossenen Tiefe. Unter der fürsorglichen Hut unserer Führer erreichen wir nach zwei Stunden wieder das Tageslicht.


»Glück auf, du holdes Sonnenlicht,

Sei innig mir gegrüßt!

Der achtet deiner Strahlen nicht,

Der täglich dich genießt.«


Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 87-92.
Lizenz:

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