9. Der Voigtsberg.

[92] Vom Zechenhäuschen ersteigen wir noch einmal den Hügel des Huthauses und tief bewegt halte ich Umschau. Die schnarrenden Töne des Signalglöckchens, die in kurzen Pausen einander folgen, haben noch denselben seltsamen Klang, wie einst in meinen Jugendtagen. Es fehlt mir nichts in dem Bilde, alles ist da – und doch ist der Eindruck, den ich heute empfange, ein so ganz anderer, wie damals. Heute sind in der Natur noch die Tage der Rosen. Die kleinste Hütte, das ärmlichste Gärtchen liegt wie verklärt im goldigen Sonnenschein.[92]

Als ich einst hier stand, da war dasselbe Bild in dichte, feuchte Herbstnebel gehüllt, so daß alle Umrisse verschwommen und unklar vor mir lagen. Regen, Sturm und Schnee führten hier das Regiment. Und unklar, wie die Landschaft, so lag damals mein Leben vor mir. Auch mit mir trieb der Sturm sein Spiel, grade wie mit den dürren Blättern zu meinen Füßen. Es waren schwere Zeiten über uns hereingebrochen. Der Vater kam bei allem Fleiß und größter Genügsamkeit nicht vorwärts. Die Sammlungen wurden je länger desto schwerer verkäuflich. Es hing wohl damit zusammen, daß sich eine neue Richtung in der Naturwissenschaft anbahnte. Man schob das System beiseite und betonte mehr das Leben der Pflanze. Dem Vater fehlten die nötigen Bücher und Instrumente, auch der Austausch mit gleichgesinnten Männern, um sich in das Neue zu finden. Er wurde bitter, sprach von einem verfehlten Leben und überraschte uns eines Tages durch die Mitteilung, daß er eine Hauslehrerstelle beim Herrn von Schönberg in Herzogswalde angenommen hätte.

»Und unsere kostbaren Sammlungen?« fragte meine Mutter erschrocken.

»Freilich kostbar!« sagte er, »es stecken Tausende darin, aber hier würde mir kaum jemand ein Dreierbrötchen dafür geben. Verwertet müssen sie werden, du verstehst ja das Reisen, reife du!«

In diese schwere Zeit fiel meine Konfirmation. Ich fürchte, ich könnte überschwenglich werden, wollte ich versuchen, den Eindruck zu schildern, den die Vorbereitungsstunden auf mich machten. Die äußeren Stützen wankten. War mir doch zumute, als wiche der Boden unter meinen Füßen. Da war es ein unbeschreiblicher Segen, daß mir gerade zu der Zeit der Weg zu einem Glück gezeigt wurde, dem nachzujagen[93] jedem möglich ist, auch einem so armen Kinde wie mir. Zugleich mit diesem Glück entstand eine schmerzliche Sehnsucht nach klaren, festen Verhältnissen, nach innigem, geistigem Anschluß, wo die jungen Keime dieses neu erweckten Lebens gepflegt werden möchten.

Wie gern hätte ich mir diesen Höhepunkt der Begeisterung erhalten mögen, und statt dessen mußte ich wieder zu fremden Leuten, die nur darauf bedacht waren, aus dem schwächlichen Kinde möglichst viel Nutzen zu ziehen.

Wir trennten uns. Jeder von uns zog seine Straße. So glatt ging es nicht ab, es gab sorgenvolle Beratungen und Auseinandersetzungen, die bei mir einen tiefschmerzlichen Eindruck hinterließen. Meine Mutter mag in den schweren Wirren nichts Besseres haben finden können, sie gab mich zu jungen Handwerksleuten, die ein kleines Kind hatten. Sie bat die Frau eindringlich, Rücksicht auf meine Jugend und auf meinen schwächlichen Körper zu nehmen, ich sollte wohl der Frau zur Hand gehen, aber nicht überanstrengt werden. Zu mir sagte die Mutter, die Trennung solle nur für kurze Zeit sein, es sei wirklich nur ein vorläufiges Unterkommen, ich solle mich darauf verlassen, sie würde, so bald sie irgend könne, anderweitig für mich sorgen. Mein vereinsamtes, liebebedürftiges Herz schmachtete vergeblich nach einem freundlichen Wort oder Blick. Da fühlte ich dankbar, wie viel ich dem treuen Pastor schuldete, der dem suchenden Blick eine höhere Richtung gegeben hatte, der mir den Weg gezeigt hatte zu den Bergen, von denen uns Hilfe kommt. Von der Zeit her erschien mir der Beruf eines Pastors als der höchste und herrlichste, den es geben konnte. Wie herzlich verlangte mich nach der Gemeinschaft mit Menschen, die diesem Ziele nachstrebten![94]

Vorläufig wurde ich aber in sehr entgegengesetzte Kreise geschleudert. Wir blieben nicht lange im Städtchen. Es kam häufig ein alter Mann mit Papieren und Dokumenten. Man verhandelte und unterschrieb, und eines Tages wurden die Sachen auf einen Leiterwagen geladen, das Kind in den Kinderwagen gepackt, und so wanderten wir bei strömendem Regen in dieses Dorf. Eine Kirche sah ich nicht, da sank mir der Mut noch mehr.

Als wir auf dem Hofplatz bei dem schiefergedeckten Häuschen ankamen, wurde uns ein seltsamer Empfang zu teil. An dem Abhange, der zum tiefer liegenden Grasgarten führte, stand eine kleine, alte Frau, die sich in einem heftigen Kampfe mit einer Schar schnatternder Gänse befand. Über ihrem Kopfe schwang sie einen kurzen Besenstumpf. Sie traktierte ihre schnatternden Feinde mit einer Flut gemeiner Schimpfworte, die sie ihnen in rauhem Gebirgsdialekt zuschrie. Ihre nassen Röcke hatte sie mit einem dicken Strick in die Höhe gerafft, so daß ihre Beine, die in derben Männerstiefeln saßen, bis zum Knie sichtbar waren. Die formlose Taille umschloß ein schmutziger Schafspelz.

Das Bild war wie aus einem Märchen. Als sie uns sah, schleuderte sie ihre Waffe kurzerhand unter die schnatternde Schar und wandte uns ein gelbliches, runzliges Gesicht zu, über das in feuchtem Gelock das ergraute Haar fiel.

Drinnen war der Hausrat soeben abgeladen, Stroh und Papier lagen auf der Diele, das Kind weinte, der Hund fuhr knurrend auf uns los. Die Alte öffnete die Tür, gab dem Hund einen Tritt, daß er jaulend das Weite suchte.

»Na, Haubelden,« sagte sie mit grimmigem Lachen, »macht's Eich kommode. Stellt Eich Eiern Krempel nor[95] balde zerechte, denn hinte (heute abend) wern de Bergleite kummen, um sich de neien Kramerschielte anzusehen. Fer de Dreierbrotchen und de Heringe is gesorgt.« –

Dann fiel ihr unruhiges Auge auf mich: »Wem is 'n die?!« fragte sie, und tippte mich an, »is das de Mad?«

»Nee, aber sie gehört zu uns,« brummte die Frau.

»Sulche feine werd Eich ooch viel helfen!«

Sie spuckte verächtlich aus und sagte höhnisch: »Jechen noch emal, Stiefelettchen haste an? Un su e Fähnchen? Marsch, zieh d'r en derben Kittel un ene Jäcke an, un Bandusseln an de Füße, du mußt doch 's Vieh beschicken. Gehste? Ich will d'r weisen, wie d's Schweinefutter zerechte machen mußt. De hast zwee Schweine, ene Ziege, 6 Gänse und 's Hühnervolk. Geh, wenn de wieder kommst, mußte Wasser holen, selte oben, bei dem kleenen Heischen mit den blauen Balken, da steht der Trog.«

Sie zeigte durchs Fenster auf die Dorfstraße hinaus. Ich hatte mich schon zum Gehen gewandt, da fragte sie: »Wie heeste denn?« »Charitas.«

Sie lachte laut auf und sagte halb gönnerhaft: »Ah! Mach mer doch nischt weis. Su heeßen doch keene Madeln! Karekas war doch e beriehmter Reiberhauptmann. Mei Gottlieb hat mersch vorgelesen. Hei! das war ener! Ich hab' sei Bild gesahn, e scheenes, buntes Bild war derbei. Nee, nee, hier herum heeßen mer Male, Gustel, Christel, Moarie. Sul'n mer'sche Moarie heeßen?«

Die junge Frau, die schon mit dem Zurechtstellen der Sachen beschäftigt war, nickte gleichgültig.

So hatte mir die Alte ohne Umstände alles abgestreift,[96] was mich mit der Vergangenheit verband. Ich kam mir selbst vor wie ein Wechselbalg.

Die Alten blieben einige Wochen in der Krämerei. Sie bewohnten die Oberstuben. Der Alte erfreute sich einer gewissen Berühmtheit im Branntweinbrennen. Der junge Nachfolger sollte die Kunst beim Alten lernen.

Ich stand unter der besonderen Zucht der Alten. Sobald früh 5 Uhr das Glöckchen vom Huthause zur Schicht rief, war es mit meiner Ruhe vorbei. Eben daß ich mir ein Röckchen überstreifen konnte, dann stand sie schon scheltend hinter mir und machte es mir ein für allemal zur Pflicht, noch ehe ich angezogen sei, die Asche hinauszutragen, Feuer anzuzünden, damit nur ja das liebe Vieh bald beschickt würde. Ich hörte kein freundliches, teilnehmendes Wort; wenn ich nicht flink genug war, so half die Alte durch einen Puff nach.

Hatte ich gehofft, mir wenigstens die Liebe des Kindes zu erwerben, so wurde ich auch darin getäuscht, das welke, kränkliche Jungchen durfte ich höchstens Sonntags zur Erholung warten, sonst gab es so viel harte, schwere Arbeit für mich, daß ich nur am Abend zu einer ruhigen Beschäftigung in die Stube kam.

In der großen, dunklen Küche wurde Branntwein gebrannt. Es wäre etwas zur Darstellung für einen holländischen Maler gewesen, wenn er uns gesehen hätte. Die Holzscheite loderten und beleuchteten grell den nächsten Raum beim Herde. Beim Schein dieser düsterroten Glut hantierten wir eifrig mit großen Steinkrügen und hohen Filzbeuteln. Der Alte hatte einen schottischen, vertragenen Schlafrock an, der ihm eigentlich recht im Wege war. Er sprach mit heiserer Stimme und gab mit großer Überlegenheit seine Anordnungen. Wenn der widerliche Dunst die Küche erfüllte, so erschien sie mir ganz wie eine Hexenküche.[97]

Ein Handwagen wurde angeschafft, ich wurde davor gespannt und mußte täglich, ausgenommen Sonntags, mit einem Tönnchen Branntwein nach Siebenlehn zu den verschiedenen Kaufleuten fahren. Für den Rückweg wurde mir der Wagen mit Krämerwaren und Dreierbrötchen gefüllt.

Wie ich seelisch und körperlich litt, können Worte nicht ausdrücken. Die Wege waren bei Regen und Schnee äußerst beschwerlich, die Kräfte reichten nicht aus. Mein äußerer Mensch machte bald einen sehr heruntergekommenen Eindruck, denn ich bekam weder Zeit noch die mindeste Anleitung, mir etwas in Ordnung zu bringen, zudem schwollen die Hände von Frost und harter, ungewohnter Arbeit. Es kam eine heiße Angst über mich, daß ich verdummen und versumpfen würde, grade diese Angst aber hielt mich wach, und schließlich erhielten Phantasie und Gemüt reichliche Nahrung, und zwar durch die Bergleute. Abends gingen die Alten hinauf, und dann entfaltete sich in der großen Wohnstube ein ganz eigenartiges Leben.

Wären alltägliche Menschen gekommen und hätten sich über gewöhnliche Tagesereignisse unterhalten, dann wäre ich sicher nach den Strapazen des Tages eingeschlafen, so aber ermunterte ich mich mit Gewalt, um doch ja kein Wort von dem zu verlieren, was hier geredet wurde. Beim spärlichen Schein einer altmodischen, hochbeinigen Blechlampe, die noch in einfachster Weise mit Öl gespeist wurde, da man Petroleum noch nicht kannte, stand ich hinter dem Ofen, in Sachsen die »Hölle« genannt, und wusch auf. Oder ich saß, mit Dütenpappen oder Kaffeeverlesen beschäftigt, mit am Tisch. Nach und nach füllte sich die Stube mit Bergleuten.

Ich wollte, es gelänge mir, den Eindruck wiederzugeben, den dieses intelligente, eigenartige Völkchen auf[98] mich machte, das hier nach den Mühseligkeiten des Tages in bescheidenster Weise seine Erholung suchte. Eine eigenartige Welt voll Poesie brachten diese bleichen Gestalten mit sich, ich kannte das Wort damals wohl kaum, aber ich fühlte seine Wirkung. Fromm, treuherzig und abergläubisch und klug in ihrem Fach, belebten sie mit ihren zum Teil schauerlichen Geschichten die nüchterne Stube der Dorfkrämerei. Es wurde von ihnen ein Dreierbrötchen und ein marinierter Hering gefordert, dazu gehörte nach ihrer Ansicht ein herzhaftes Schlückchen, das sie aus kleinen Zinngefäßen tranken. Dabei wurde die Kunst des Alten gerühmt. Üble Wirkungen habe ich nie verspürt. Ich meine, 20 Pfennig hat die Zeche des einzelnen wohl nicht überschritten.

Es war für mich eine Zauber- und Märchenwelt, in der sich ihre Reden bewegten, ich war aufs äußerste erregt, am Abend war es, als ob gleichsam meine Seele aufwachte. Ich konnte nicht unterscheiden, wo die Wirklichkeit und die Dichtung ihre Grenzen hatten. Der Aufenthalt hier war so durchaus verschieden von dem in anderen Dörfern, da hatte man über Wetter, Viehpreise, Ernte und Lustbarkeiten gesprochen. Das waren Dinge, die sich unter uns allen abspielten, die Reden waren aus dem Leben gegriffen, das uns umgab. Ganz anders hier! Die Bergleute erzählten von schlagenden Wettern, von versoffenen Gruben, von stehendem und hängendem Gestein, von Teufen und Gezeugstrecken. Sie erzählten aber mit gleichem Ernst von schlohweißen Frauen, von Koboldchen und wunderbaren Berggeistern, die ihnen in der Grube in der verschiedensten Gestalt erschienen. Da waren es zwergenhafte Bergmännchen mit langem Bart, oder weiße, nebelhafte Greisengestalten, die sie geängstigt und erschreckt hatten. Auch in allerlei Tiergestalt erschien der[99] Kobold, als riesenhafter, schwarzer Kater mit glühenden Augen, als Vogel, oder als Mäuschen. Sie zeigten meist einen guten Anbruch, stellten für ihre Dienste nur geringe Forderungen, eine Hauptbedingung war aber die Verschwiegenheit. Diese Forderung schien über die Kraft der Bergleute zu gehen, entweder äußerten sie ihre Freude oder Verwunderung, oder sie plauderten das Geheimnis aus, und damit war es vorbei mit der Güte und Freigebigkeit des Koboldchens, giftiger Odem wehte den Schwätzer an, und der Tod war sein Los. Alle Geschichten endeten tragisch und ich war innerlich empört über diese Schwäche. Wenn mir nur ein Koboldchen einen Schatz schenken wollte, ich würde gewiß den Mund halten. Sie erzählten aber auch von tatsächlichen Funden, die sie ohne Beihilfe von Geistern gemacht hatten. Sie schilderten die Silberadern des rotgüldigen Erzes, sie brachten zackige Kristallformen mit, die ich mit Augen sehen und mit Händen greifen konnte.

Der Steiger breitete sogar eine Karte aus, auf der man die innern Gänge des Schachtes verfolgen konnte. Mit dicken roten und blauen Linien waren da Haupt- und Nebengänge bezeichnet, die wie Straßen in einer Stadt sich durchkreuzten und durchquerten. Diese Gänge bezeichneten sie mit fremdartig klingenden Namen. Sie sprachen vom Einigkeiter Morgengange, von dem in Christi Hilfe stehenden, vom Peter- und Andreasgange.

Ja, wie wurde an diesen Abenden meine Phantasie erregt! Wie brennend wünschte ich die silber- und kristallfunkelnde, geheimnisvolle Stadt mit der wunderbaren Bevölkerung der Erdgeister zu sehen, die zwischen den hämmernden Bergleuten ihr verderbliches Tun trieben. War es ein Wunder, daß nach solchen Abenden,[100] an denen die Bergleute besonders eifrig er zählt hatten, die Nächte für mich sehr unruhig waren? Die Spukgeschichten verwebten sich in meine Träume, und wenn mich um 5 Uhr das Glöckchen vom Huthause weckte, so erfuhren meine Träume gleichsam eine Fortsetzung, wenn ich beim Hinaustreten im nächtlichen Dunkel die Bergleute von nah und fern herbeieilen sah. Wie schwirrende Glühwürmchen leuchteten auf den Höhen und in den Tälern die Blenden. Vom nahen Hutha as klang der fromme Gesang durch das Dunkel des winterlichen Morgens.

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 92-101.
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