1870/71 in den Kriegsbaracken.

Wie ich Bismarck in den Kinderjahren nahe stand, so ist es mir im späteren Leben vergönnt gewesen, einem anderen der großen Männer aus der Zeit der Kämpfe um das deutsche Reich in wirklicher Freundschaft verbunden zu sein. Als Kind habe ich mit Bismarck gespielt, als junges Mädchen in blonden Locken mit Moltke getanzt, und als das Haar hätte grau sein können, von Alter und von mancher Sorge gebleicht, hat mich innige Freundschaft mit dem Grafen Roon und seiner unvergeßlichen Gattin verbunden, so daß ich im engsten Familienkreise oft mit ihnen vereint war.

Diese Freundschaft hatte ihren Ursprung in den Kriegsjahren 1870/71, wo ich, unter Oberleitung der Gräfin Roon im Lazarett arbeiten durfte. Die zur Aufnahme der Verwundeten bestimmten Baracken waren auf dem Tempelhofer Felde errichtet, rechts von dem Denkmal, da, wo heute der Viktoriapark nicht ahnen läßt, wieviel Schmerzen dort gelitten, wieviel Seufzer ausgestoßen, wieviel Tränen dort geflossen sind.

Das Kriegsministerium, der Hilfsverein und die Stadt Berlin hatten sich zur Herstellung und Verwaltung dieses Lazaretts vereinigt. Es bestand aus 25 Baracken und den dazu gehörigen Gebäuden; in dem einen befanden sich die Räume für die Verwaltung, sowie eine kleine Kapelle, in der zwei[171] evangelische Prediger und ein katholischer Priester abwechselnd Gottesdienst hielten.

In einem anderen waren die großen Küchenräume, die Schlafzimmer für das Personal, Vorratsräume, sowie ein Eßzimmer für die in den Baracken wohnenden jungen Ärzte. In einem kleinen Gebäude lag der Operationssaal und die Apotheke. Für jede Baracke war ein Arzt, 2–3 Heilgehilfen und eine graue Schwester bestellt. Über dem Ganzen standen ein höherer Offizier, mehrere Chefärzte und die oben erwähnten Geistlichen. Jeden Morgen kam Professor Esmarch mit anderen Ärzten zur Operation heraus.

Hier entwickelte sich nun eine Liebestätigkeit, die, sich durch Monate erstreckte, Regen und Sturm über sich ergehen ließ und, fast im Schnee des besonders strengen Winters vergraben, bei 18 Grad Kälte, wo Gas und Wasser einfroren, geduldig ihr Werk weitertrieb.

Kurz bevor die ersten Verwundeten eintreffen sollten, erschienen in den Baracken an einem kalten, regnerischen Augustmorgen, von der Gräfin Roon zusammengerufen, einige 40 Damen, um alles einzurichten. Wenige kannten einander, keine wußte, was sie sollte, wenige, was sie wollten – jede aber faßte willig zu.

Manche Hand, die bisher wohl keinen Besen und kein Staubtuch, geschweige denn Schrubber und Scheuerlappen berührt hatte, griff mutig danach. Staubwolken erhoben sich, Wasserströme flossen, aber – geschafft wurde wenig, es war und blieb ein Chaos.

Gegen mittag legte sich der Tatendurst der meisten; schließlich[172] blieben nur Minette Oppermann, die langjährige treue Stütze der Gräfin Roon, und ich zurück.

Es wurden für den Abend noch Verwundete erwartet; wie sollten wir sie in Empfang nehmen?

Der Himmel bewahrte jedoch die armen Leute vor dem Geschick, in diese Wüstenei zu kommen, in der es an allen Lebens- und Stärkungsmitteln fehlte. Einige Kohlköpfe, Kartoffeln und Mohrrüben waren da, dazu ein paar Riesenkessel als Kochgeschirr, aber nichts weiter, vor allem kein Holz und keine Kohlen. So blieben nur wir beiden Opferlämmer dem Hungertode preisgegeben.

Früh 8 Uhr waren wir eingerückt, kalt war es, Regenschauer gingen hernieder. Eine mitleidige Unbekannte hatte, in der Erwartung, schon Verwundete erquicken zu können, ein Pfund Cakes mitgebracht; dies war unter die Gesamtheit verteilt, und da kam auf jede der 40 Helferinnen nicht viel. Nun saßen wir beide höchst unbehaglich da, in einer Stimmung, die auch der größte Patriotismus nicht viel über Null steigen ließ, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Wir hatten den Auftrag, bis 9 Uhr abends auszuhalten. Um 7 Uhr erschien, dem Raben vom Bache Kidron gleich, für uns arme, hungernde Propheten, ein Diener des Grafen Roon und brachte uns Mittagessen und, welch eine Freude in unserer Wüste, sogar Teller, Löffel und alles Zubehör dabei!

Sehr erfreut setzten wir uns an ein Fenster der Küche, das, wie alle anderen, jeglichen Vorhanges entbehrte, und aßen mit Behagen. Da rief vor dem Fenster die Stimme eines der vielen Müßiggänger, die gekommen waren, sich die Räume anzusehen:[173] »Da hat man's, wozu die Damens da sind – um sich zu pflegen und nachher rühmen zu lassen.«

Ob die da draußen wohl auch so gehungert hatten, wie wir?

Ordnung kam in den nächsten Tagen in das ganze Getriebe, aber Ruhepausen gab es nicht. Jeder der 15 vom Kriegsministerium eingerichteten Baracken wurden 2–3 Damen zugeteilt, die abwechselnd zwei Tage hintereinander kamen. Ohne andere zurücksetzen zu wollen, nenne ich hier nur diejenigen, die mir persönlich nahe getreten sind: Frau v. Rhaden mit Tochter, Frau Geheimrat Köllner, Gräfin Hardenberg, geb. Langenbeck, Frau v. Türckheim, Frau v. Schenk, Fräulein v. Olberg, Gräfin Harry Arnim.

Nur wenige von der großen Zahl sind noch am Leben.

Mit der Pflege der Verwundeten hatten die Damen nichts zu tun; sie mußten nur Sorge tragen, daß alles, was an Nahrungsmitteln und an Wäsche nötig, auch vorhanden war. Dann die Kranken trösten, die Briefe derselben schreiben und so die guten Geister der Baracke sein.

Mir war die Leitung der ganzen Ökonomie übergeben. Herr v. Roon hatte mich, wie schon erwähnt, in Schönrade kennen gelernt und von der wohl richtigen Ansicht ausgehend, daß nur jemand, der den größten Teil seines Lebens auf dem Lande einen großen Betrieb geleitet hatte, imstande sein, den Anforderungen, die das Lazarett stellen müsse, zu genügen, hatte er mich seiner Frau, die ich damals noch nicht kannte, für diesen Posten vorgeschlagen.

Eine andere Dame übernahm die Sorge für die Wäsche, eine dritte für die Weinvorräte und zwei oder drei Damen,[174] die sich abwechselten, die Überwachung je einer Baracke. In jeder derselben war ein kleines Zimmer für die leitende Dame, sie aus der Küche oder den anderen Depots bedurfte; ein Raum für den Wärter, ein Badezimmer und eine kleine Küche.

Frau v. Roon selbst übernahm keinen bestimmten Posten, nur die Oberleitung des Ganzen. Gräfin Moltke hatte auch eine Baracke übernommen und einen Teil der speziellen Aufsicht über das Ganze, und so waren in dem Vorstand die drei Namen vereint, die in der Geschichte dieses Kriegs so große Bedeutung gehabt haben.

Herr Professor Esmarch hatte als seine Gehilfin eine Frau Professor Junghans aus Kiel mitgebracht. Sie wohnte als Gast im Kriegsministerium und fand sich frühmorgens draußen ein. Ihr war das Ordnen des Operationssaales, das Sauberhalten aller Instrumente übertragen, und sie mußte auch, was sehr angreifend war, bei manchen Operationen Hilfe leisten. Wir übrigen glaubten bei ihr eine etwas gefühllose Gemütsart voraussetzen zu müssen, da sie sich zu dergleichen hergab, fanden aber bei näherer Bekanntschaft ein zartes, liebenswürdiges Wesen in ihr. Mich hat eine besonders innige Freundschaft bis zu ihrem Tode mit ihr verbunden. Anfangs namentlich hatte der Betrieb und die Arbeit in meinem Ressort mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Ich meine nicht die beim Beginn natürlich bemerkbaren Unvollkommenheiten der Einrichtungen, von denen ich nur eine erwähnen will. Die jungen Ärzte, die den ganzen Tag da blieben und nach Anweisung der älteren Herren die Behandlung der Kranken besorgten, hatten anfangs keinen Raum, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen. So[175] kam jeder zur Mittagszeit, wann es ihm paßte, und Gräfin Arnim, meine Gehilfin, und ich mußten für jeden besonders anrichten. Wir hatten außer den riesengroßen Kesseln für die Leute anfangs nur eine ganz kleine Kochmaschine, was das Herstellen dieser Mahlzeiten für die jungen Ärzte ungemein erschwerte. War also die Arbeit auch in diesen äußerlichen Dingen nicht leicht, so wurde sie besonders durch das Mißtrauen erschwert, das ein Teil der leitenden Ärzte, ja der Damen selbst, der ganzen Einrichtung entgegenbrachte. Im Hilfsverein und in den städtischen Baracken hatte man die ganze Speisung der Kranken und des dienenden Personals Köchen übergeben, die aber natürlich doch dabei verdienen wollten. Nun meinten die Herren allgemein, eine Dame könne ein so großes Getriebe nicht leiten. Sie vergaßen dabei, daß nach unserer Einrichtung kein Abzug an dem geschah, was für die Soldaten an Geld geliefert wurde, ihnen vielmehr alles zugute kam. Glücklicherweise befand sich im Vorstand unserer Abteilung Generalarzt Dr. Hoffmann, der mich von lange her kannte und ganz mit der Art der Verwaltung einverstanden war. Er sagte mir, er werde täglich das Essen in der Küche kosten, um aller entgegenstehenden, böswilligen Nachrede begegnen zu können. So entstand Ruhe, und nach und nach verstummten die Klagen, aber schwere Stunden hat es vorher gegeben.

Auch der Landrat des Teltower Kreises verdächtigte mich ungerechterweise. Er hatte seine Bauern veranlaßt, Lieferungen für das Lazarett zu machen. Davon war ein Teil, jene oben erwähnten Kohlköpfe, Rüben, Kartoffeln usw., bereits eingegangen, als ich eintrat. Wenn später ein Bauer etwas brachte, erhielt er eine Bescheinigung über die Lieferung und reichte[176] sie dem Landrat ein. Jene ersten hatten aber, da sie nur die leeren Räume fanden, keine Bescheinigung erhalten und wurden vom Landrat, der dies nicht wußte, an ihre Pflicht gemahnt. Sie mögen nicht eben freundlich auf solche Mahnung geantwortet haben; der erbitterte Landrat schrieb nun an Frau von Roon und ließ sich in seinem Brief zu der Redensart hinreißen, sie habe zur Verwaltung des Haushaltes die erdenklich unpassendste Dame gewählt. Frau v. Roon teilte mir dies freundlicherweise mit, und so setzte ich dem Herrn Landrat den Sachverhalt auseinander und fügte hinzu, daß dadurch der Makel, den er meinem Namen angehangen, wohl aufgehoben sein würde.

Nach und nach kam alles in ein ruhiges Geleise. Auch die widerwilligen Damen beruhigten sich, unter uns allen entstand ein freundliches Verhältnis, das für mich zu innigen Freundschaften führte, die ich mit den wenigen noch Lebenden bis heute aufrecht erhalte.

In den ersten Wochen wurde bestimmt, daß eine der Damen sogar des Nachts draußen bleiben solle; ich löste mich mit einigen anderen ab. Da sich allerlei Mißstände ergaben, ward dies aufgegeben, und die Köchin, die eifrige Johanne, erhielt die Leitung des Abends nach meinem Fortgehen. Ich muß ihr zum Ruhm nachsagen, daß sie sich des Vertrauens würdig gezeigt hat. So oft ich sie abends oder morgens einmal unverhofft kontrolliert habe, fand ich stets alles in bester Ordnung, glaube aber gern, daß nicht alles immer in Frieden und mit freundlichen Redensarten geschehen ist. Zu den vielen vortrefflichen Eigenschaften dieser Johanne konnte man Sanftmut eben nicht zählen. Aber es gibt ja nun einmal keine Engel, und[177] so ließ ich Johanne gern toben und freute mich, daß alle Mahlzeiten gut und pünktlich zur Stelle waren. Zu ungewöhnlichen Zeiten der Kontrolle halber herauskommen, hieß den weiten Weg nach dem Kreuzberg zu Fuß machen, da es elektrische Bahnen noch nicht gab und Droschken nicht so weit fuhren, also war ich froh, daß ich erkannte, wie eine solche Aufsicht nicht oft nötig war. Es hieß überhaupt acht geben, denn außer der Zeit war bei der großen Entfernung von der Stadt nichts zu haben, und jedes Vergessen rächte sich bitter.

Jeden Morgen um halb neun stand ein, von einem patriotischen Fuhrmann gestellter Omnibus auf dem Wilhelmsplatz vor dem alten Zieten, um die Damen, nebst den für den Tag nötigen Ergänzungen der Vorräte, in das Barackenlager hinaus zu führen. Später, im kalten Winter, standen wohl bis zum Erscheinen, resp. bis zum Abgang dieses Gefährts, die Damen klappernd und frierend, wie die Ritter von der traurigen Gestalt, auf der Straße, und die zahlreichen Pakete umlagerten sie auf dem Schnee des Pflasters oder auf nasser Bank. Bis die alte Gräfin Voß ein menschliches Rühren fühlte und uns, lebenden und leblosen Barmherzigkeitsengeln erlaubte, in ihr vis-à-vis gelegenes Palais zu flüchten.

Nach dem Glockenschlag 1/29 vom Dreifaltigkeitsturm wartete der Omnibus noch 5 Minuten, dann rumpelte er erbarmungslos davon. Wer nicht da war, mußte sehen, wie er hinauskam. Ohne diese strenge Bestimmung wären wir vielleicht schließlich um Mittag draußen angelangt.

Abends kam der Omnibus um 1/27 Uhr nach den Baracken, um uns abzuholen. Da erinnere ich mich eines Tages, an dem er sich etwas verspätet hatte. Wir standen gerüstet, ihn erwartend,[178] bereit, und eine jede hatte einen besonderen Grund zu dem Wunsche, gerade heute früh nach Hause zu kommen. Endlich erschien der Ersehnte auf der Bildfläche. Alles stürmte herzu. Die Tür soll geöffnet werden, aber diese wehrt sich. Eine Dame nach der anderen reißt an der Klinke; es hilft nicht. Da kommt diensteifrig die Ordonnanz aus der Küche; ihrem vergeblichen Streben folgt ein Wärter, diesem ein Arzt, der Major, ein Oberarzt, aber die Tür will nicht; die Feder des Schlosses ist und bleibt übergeschnappt.

Da half es denn nichts, wir mußten den Wagen voranfahren lassen und demselben folgen, bis endlich am Halleschen Tor ein Schlosser die widerwillige Pforte öffnete.

Wenn mich der Omnibus des Morgens an der Ökonomiebaracke absetzte, hatte Johanne schon alles vorbereitet, und bald stürzten auch Damen herzu: die eine rief nach Brühe, die andere wünschte sofort Sardellen zu haben, die dritte begehrte umgehend Butter, und was weiß ich noch. Das Wünschen und Verlangen nahm kein Ende.

Was ich nicht gutwillig gab, wurde wohl heimlich genommen, wobei dann freilich auch einmal ein in weißer Schürze zerschlagenes Ei den Verräter spielte. War dieser erste Sturm abgeschlagen, dann ging es an das Verteilen des 2. Frühstücks. Belegte Butterbrote für das Gros, Semmeln und besonders Brötchen für die schwerer Kranken. Jede Dame mußte an ihre Barackennummer, die über dem Anrichtetisch angebracht war, den Zettel hängen, auf welchem die Wünsche für jede Mahlzeit verzeichnet waren. Eine der Damen erfreute mich oft durch Verwechselung, so daß ich, wenn eilig verteilt werden sollte,[179] einen Zettel fand, der Hosen und Hemden begehrte und für die Wäscheverteilungskammer bestimmt war.

Nach dem Frühstück trat eine Pause verhältnismäßiger Ruhe ein. Da mußte ich rechnen, bestellen und alles weitere ordnen.

Hatte man meinen Rechenkünsten nicht getraut, oder dem alten Herren Schäffer eine Freude machen wollen, indem man seine Dienste nicht abwies, wer weiß? Jedenfalls wurde er mir als Rechnungsführer überwiesen. Da saß er nun am Schreibtisch.

Was ein einigermaßen geweckter Sextaner in 5 Minuten zusammengerechnet hatte, dazu brauchte der, freilich 80 Jahre alte Herr endlose Zeit. Mehr noch, um die Bestellzettel auszufüllen. Diktierte ich 20 Pfd. Zucker und 500 Semmeln, dann drehte er sich um und sagte: »Liebes Fräulein, sollten nicht 19 und 490 Semmeln genügen?« und so weiter.

Gräfin Roon und ich waren uns bald einig, daß diese Geduldsprobe den phlegmatischsten Menschen veranlassen müsse, mit den Beinen zu trampeln, und so endigte die Tätigkeit des braven Herrn Schäffer bald, und zwar mit einem höchst komischen Schluß. Seines Zeichens Weinhändler, verwaltete er auch zuerst dies Fach in den Baracken.

Er fand es sehr passend, am 30. September, dem Geburtstag der Königin, eine Zulage zu geben.

Es war schönes Wetter, und die Rekonvaleszenten wurden vor den Türen der Baracken versammelt. Wir alle traten hinzu. Herr Schäffer erschien, verteilte seine Gaben, stellte sich in die Mitte des Kreises und begann eine schwungvolle Rede. Da feierte er zu nächst alle Damen, dann die Ärzte, ich glaube, er[180] vergaß kaum Johanne und die Küchenfrauen, aber die Königin, der es galt, die vergaß er, von der war mit keinem Wort die Rede. Natürlich entstand schallendes Gelächter, welches er aber auf seine Art deutete. »Ja, wenn man es nur versteht,« sagte er, »dann weckt man die Herzen zur Freudigkeit.« Mit diesem Bewußtsein ist der alte Herr von uns und von den Baracken geschieden.

Sonntags wurde dem gewöhnlichen Essen, welches für die leicht Erkrankten und Rekonvaleszenten aus Gemüse und Fleisch bestand, ein Gang zugefügt, und da gab es bei Johannes unfriedlicher Gemütsart vermehrte Unruhe, so daß ein überhöflicher Wärter, der die Speisen für seine Leute in Empfang nahm, sich mir gegenüber zu dem Ausspruch bewogen fühlte: »Des Sonntags habe ich die Ehre, das gnädige Fräulein zu bedauern.« Wirklich – ich tat mir oft selber leid.

Für die Schwerkranken mußte alles angeschafft werden, was die Ärzte verlangten. Freilich war Vorbedingung, das Gewünschte am Tage vorher zu bestellen, denn im Augenblick war nichts zu beschaffen. Ich sehe noch das liebe, freundliche Gesicht des Dr. Trueheart, eines Amerikaners, vor mir, der plötzlich ein »Federtier« gebraten zu haben wünschte und selbst lachen mußte, als ich ihm vorschlug, wir wollten beide versuchen, draußen eins zu greifen!

Auf dem Deckel eines Kochbuches, das mir Baronin Türckheim, die Gattin des badischen Gesandten, verehrte, ist dieser Vorgang bildlich dargestellt.

Schrecklich war es, wenn plötzlich, kurz vor einer Mahlzeit, Passanten kamen, für welche immer eine Baracke frei gelassen wurde.[181]

So erschienen eines Tages fast unangemeldet 80 Mann zu Mittag. Wo sich, da es doch den täglichen 4–500 Kostgängern nicht abgezogen werden konnte, schließlich etwas fand, ist mir heute nicht recht klar, aber, weiß Gott, es war da, und alle wurden befriedigt. Gewiß kam an solchem Tage unerwartet, wie es oft geschah, eine Sendung von einer der vielen großen Garküchen in Berlin und machte aller Not ein Ende.

Einmal war gerade das Mittagessen ausgeteilt, alles nach meiner Ansicht befriedigt, und ich dankte Gott, der mir gnädig beigestanden hatte. Da erschien plötzlich die mir sehr liebe Gräfin Hardenberg, deren schwarzes Kleid von oben bis unten mit den sauren Kartoffeln begossen war, die ihren Leuten hatten zur Speise dienen sollen. Der Wärter hatte aus dem Blecheimer den größten Teil auf so unrechter Stelle niedergelegt. Natürlich wünschte sie dringend Ersatz, woher nehmen? Aber auch hier wurde schließlich noch Rat geschafft.

In den Wochen vor Weihnachten wurde in den Baracken überall die Sehnsucht nach Gänsebraten wach. In unseren Küchenräumen so viele Gänse zu braten, war ganz unmöglich. Ein Kriegsrat, den Gräfin Roon und ich abhielten, hatten folgendes Ergebnis. Ich ging zu dem Koch Huster in der Mohrenstraße, der Besitzer des »Englischen Hauses« war und uns oft mit vorzüglichen Liebesgaben erfreut hatte. Ihm trug ich den Fall vor. Er kam unseren Wünschen in liebenswürdigster Weise entgegen und erklärte, daß er für 90 Taler die aus nahe 300 Personen zählende Barackengesellschaft mit Gänsebraten speisen werde. Ich solle nur Kartoffeln kochen lassen. Nicht ohne einiges Bangen saß ich am Sonntag vor meinem Kartoffelkessel. Würde Herr Huster auch Wort halten? Aber siehe, zur festbestimmten[182] Zeit erschien sein Wagen, eine große Kupferpfanne nach der anderen wurde ausgeladen; die Gänse waren darin portionsweise verteilt. Außerdem hatte der edle Huster noch eine Menge des schönsten Rotkohls mitgeschickt. So war ein Festessen bereitet, das damit endete, daß aus jeder Baracke einer abgesandt wurde, um im Chor vor der Küche mein Wohl in schallendem Ruf auszubringen. Von den Resten bekamen die Herren Ärzte am folgenden Tage ein prächtiges Frühstück, so reichlich war alles bemessen. Außerdem ließ mir Huster sagen, daß für den nächsten Tag das Gänseklein eine gute Mahlzeit verspräche. Wiederum sollte ich nur Kartoffeln liefern. Eine ausreichende Menge kräftige, dicke Reissuppe, mit dem Gänseklein darin, gab am Montag die zweite Festmahlzeit.


Aber nicht immer war heiteres Lachen, – manche ernste Feier fiel in diese Zeit.

Ich erwähnte schon, daß jeden Sonntag Gottesdienst in unserer Kapelle abgehalten wurde. Die Königin (später Kaiserin) erschien öfters dazu.

Einmal im Frühjahr war Abendmahlsfeier angesetzt. Sie hat wohl auf alle Teilnehmer einen erschütternden, tiefen Eindruck gemacht.

Der größte Teil der Damen und Rekonvaleszenten hatte sich dazu eingefunden. Unter letzteren waren elende Krüppel aller Art. Einigen fehlte ein Arm, andere kamen auf Krücken, mit Stelzfüßen, im Rollstuhl, und viele elende, bleich aussehende Gestalten traten herzu, manche nahten fast kriechend, viele konnten sich nur mit Hilfe anderer von den Knien erheben. So war es in dem engen Raum ein Bild des Jammers, den[183] der Krieg erzeugt. Kein Auge blieb wohl tränenlos. Dennoch waren alle voll Lobes und Dankes, daß Gott sie soweit geführt, ihnen das Leben erhalten hatte, und es mag wohl manches Gelöbnis zum Himmel hinausgedrungen sein, die erhaltenen Kräfte fortan ihm weihen zu wollen.

Manches junge Leben freilich erlag in den Baracken seinen Wunden, und wir hatten einige achtzig Todesfälle zu beklagen, darunter drei Offiziere. Unter diesen waren es zwei, die mir als Verwandte des Birkholzer Hauses von Kindheit an bekannt waren. Der Eine, Graf Solms, war schon länger in den Baracken, der andere, Richard von Plötz, war in den Weihnachtstagen, nachdem er schon aus einem anderen Lazarett als geheilt entlassen, wegen wieder aufgebrochener Wunden zu uns gebracht. Ich war einige Tage abwesend gewesen; nach meiner Rückkehr sagte mir die pflegende Schwester, ein junger Leutnant, dessen Namen sie nicht nennen solle, bäte mich, ihn zu besuchen. Ich fand mit Richard Plötz zusammen Jury Solms. Beide zwar im Bette, aber in der ausgelassensten Laune. Wir unterhielten uns lange, und beide fragten mich endlich, ob ich schon gehört hätte, daß sie an Blutvergiftung erkrankt wären. Ich gab ihnen die Versicherung, daß mir Blutvergiftung, wie sie sich bei ihnen äußere, nicht gerade gefährlich vorkäme. Nach kurzer Zeit, besuchen konnte ich sie der vielen Arbeit wegen ja nicht oft, wurde mir die Nachricht gebracht, daß beider Zustand hoffnungslos sei.

Plötz starb im Lazarett. Ich saß mit der Mutter des jungen Solms an dessen Bette, das nur durch einen Vorhang von dem des anderen Kranken getrennt war, als ich Richard plötzlich husten und furchtbar stöhnen hörte. Ich stürzte herbei und sah,[184] wie ein Blutsturz seinem Leben augenbliklich ein Ende zu machen drohte; da Wärter und pflegende Schwester das Zimmer verlassen hatten, richtete ich ihn zu seiner Erleichterung auf. Sobald der Wärter kam, eilte ich, um an seine Schwester, die in der Stadt war, zu telegraphieren. Als ich am anderen Morgen noch einmal an sein Bette kam, lebte er noch und richtete einen Blick freundlichen Erkennens auf mich; wenige Stunden nachher war er tot. Seine nächsten Verwandten waren an seinem Sterbebette versammelt. Da er in Berlin begraben werden sollte, wurde der offene Sarg in die Leichenhalle unseres Lazaretts gebracht. Die Schwester, die selbst krank war, schickte mir Blumen und bat mich, sie in seinen Sarg zu legen, so ging ich mit dem Wärter nach dem traurigen Ort. Ich fand ihn in der Uniform seines Regiments, aber wie so anders war sein Anblick, als damals, wo er voll Übermut in seinem Bette lag. Wie hatte die Blutvergiftung, von der er damals so lachend sprach, den blühenden, jungen Körper zerstört. Wenige Tage nachher haben wir ihn auf dem Garnisonkirchhof begraben. Unter den Leidtragenden, zwischen zwei Brüdern seiner verstorbenen Mutter, stand sein Bursche, der die Kriegsgefahren mit ihm geteilt hatte und es sich nicht nehmen ließ, auch seine Pflege zu teilen; er hatte manche Nacht an dem Bette des Kranken gewacht. Tränen standen dem wackeren Burschen in den Augen, und alle Verwandten drückten ihm in dankbarer Teilnahme die Hand. Einer der Herren versprach, ihm nach der Dienstentlassung eine gute Stelle auf seiner Besitzung zu verschaffen.

Jury Solms wurde wenige Tage vor seinem Tode in die Wohnung überführt, die er vor dem Feldzuge, als Fähnrich[185] bei den 1. Gardedragonern benutzt hatte. Er wurde auf dem Familiengut begraben. Ich habe mit seiner Mutter an seiner Leiche gesessen, und ich möchte sagen, ich habe die weinende, schmerzerfüllte Frau, die den einzigen Sohn verloren hatte, beneidet, weil sie doch an der sterblichen Hülle des geliebten Kindes wenigstens weilen konnte; während unser Werner, den ich von Kind auf wie eine Mutter geliebt hatte, so fern von der Heimat und so plötzlich dahingerafft war.


Die Kaiserin-Königin Augusta widmete den Baracken ihre besondere Teilnahme. Jeden Dienstag und Freitag fuhr sie bei uns vor. Bei gutem Wetter stieg sie aus, kam aber, um keine Baracke zu bevorzugen, in die Küche. Sie litt nicht, daß ich ihr einen Lehnstuhl, der an meinem Schreibtisch ziemlich unbenutzt stand, in die Küche holte. Auf der Holzbank nahm sie Platz und wies selbst einen Teppich, den ich ihr unter die Füße legen wollte, um sie vor dem kalten Steinpflaster zu schützen, mit den Worten zurück: »Wo Sie den ganzen Tag stehen, kann ich wohl kurze Zeit ohne Teppich sitzen.«

Einmal durfte ich der Königin Kaffee kochen, und Johannes stolzester Moment war, als sie ihr ein anderes Mal einen Eierkuchen backen konnte.

Die Königin verlangte stets genaue Auskunft über die besonders schwer Verwundeten. Die Dame der betreffenden Baracke wurde dann gerufen und mußte die Herrscherin zu den Leidenden führen, denen sie in leutseligster Weise Trost zusprach.

War schlechtes Wetter, dann mußte ich zu der Königin in[186] den Wagen steigen und Bericht erstatten. Als ich zum erstenmal dahin gerufen wurde und vortrat, fragte der Lakai, dem ich im schwarzen Kleide mit großer, blaugestreifter Schürze wohl nicht sehr hoffähig erscheinen mochte, etwas von oben herab: »Wer sind Sie denn?« Als ich ihm dann mit einiger Grandezza meinen Namen nannte, öffnete er mit höflichster Bereitwilligkeit die geheiligte Pforte.

Aber nicht immer war das Erscheinen vor der Herrscherin so einfach. Eines Sonntags in der Frühe wurde ich durch eine Depesche des draußen stationierten Arztes geweckt; es hieß: »Bitte gleich nach den Baracken herauskommen, Majestät will einen bald eintreffenden Sanitätszug empfangen, eine Dame des Vorstandes muß da sein!«

Also anziehen und fort. Überall hoher Schnee, denn um ihn fortzubringen, fehlten Menschen und Pferde. Droschken gab es wenige, in dieser Herrgottsfrühe sicher keine; so wanderte ich denn nach dem Tempelhofer Felde hinaus, bis hinter den Kreuzberg, dessen schönes Monument damals noch auf ödem Sande stand.

Eine andere, aus Vorsicht ebenfalls herbeigerufene Dame kam gleich nach mir. Der Sanitätszug war da, die Kranken durften aber nicht herausgehoben werden, sondern sollten der Königin harren. Wir standen mit den Ärzten am Zuge; der Wind pfiff schneidend, und es war mehr Selbstsucht, als Patriotismus, die uns die Kaiserin herbeisehnen ließ. Kurz vor 8 Uhr, es war eben hell geworden, erschien sie, bei ihrem Alter und ihrer Gebrechlichkeit wirklich eine rührende Leistung.

Mir brachte diese frühe Expedition die Freude, mich zu[187] überzeugen, daß Johanne auch zu so ungewohnter Stunde auf dem Posten war.

Durch die Droschkenmisere jener Zeit erlebte eine gute Freundin ein tragikomisches Abenteuer. In der Dorotheenstraße kam sie abends gegen 1/29 aus einer Gesellschaft. Eine Droschke zieht gemächlichen Schrittes die Straße entlang. Freudig eilt sie darauf zu, um einzusteigen. »Wo wohnen Sie denn, Madamken?« fragt der Rosselenker Auf die Entgegnung: »am Lützowplatz« ruft er: »Na denn losen Sie man, det is recht jesund, so weit lost mein Pferd nich« und fort fuhr er.

Der Berliner Droschkenkutscher ist übrigens der alte geblieben in seinen Bemerkungen.

Als vor einigen Wintern eine Bekannte vom Lande herein kam und beim Bezahlen etwas lange Zeit brauchte, um durch die vielen Umhüllungen zu ihrem Portemonnaie zu gelangen, sagte der Kutscher: »Na Madamken, wenn Sie sich nun jenug jeschuppt haben, dann bezahlen Sie wohl mal.«


Die hohen Besuche des Lazaretts gaben bisweilen zu scherzhaft wirkenden Äußerungen der über die wirtschaftlichen Verhältnisse wenig orientierten fürstlichen Damen Anlaß. So war die Kaiserin einmal sehr erstaunt, in eine Wanne eine Menge Rindfleisch eingelegt zu sehen. Sie fragte sehr verwundert, was ich damit wolle. Und auf einer Erwiderung, daß es zu Schmorfleisch dienen solle, sagte sie kopfschüttelnd: »Das habe ich noch nie gehört.«

Eine Prinzessin fragte mich beim Anblick von etwa 400 Flaschen Bier: »Ist das Fleischextrakt?« Und meinte auf die[188] Meldung, daß zu Mittag Mohrrüben gekocht würden: »Wachsen denn die hier?«

Sehr interessant war mir eine lange Unterhaltung mit dem Großherzog von Weimar, dem Bruder der Kaiserin. Er war das ganze Lazarett durchgegangen, hatte sich eingehend von dem vielen Leid, das dort vereint war, überzeugt, und sprach nun davon, daß das eigentliche Elend des Krieges, wie er es hier erkannt hätte, denen, die ihn in höheren Stellungen mitmachten, gar nicht so zum Bewußtsein käme.

Ein alter Russe kam einmal, ließ sich viel erzählen von unserer Arbeit und legte eine Summe Geldes auf meinen Schreibtisch für die Kasse des Lazaretts. Dies geschah öfters, er aber drückte mir dann noch ein Goldstück in die Hand, mit den Worten: »Für Ihre Mühe.« Der alte Mann war so herzlich und gut, daß ich ihm freundlich dankend sagte: »Wir wollen das zu dem anderen legen, denn ich habe genug an dem Bewußtsein mit arbeiten zu können für das Vaterland.« Und so schieden wir mit einem warmen Händedruck.

Ein anderes Mal kam mit großer Vehemenz eine ziemlich starke, ältliche Dame hereingeplatzt. Trotz des schwarzen, seidenen Kleides und der schweren, goldenen Kette deutete das Ganze mehr auf Schlächterladen, als auf Salon. Sie glaubte in mir die Fürstin Bismarck zu sehen, küßte mir die Hand und ließ sich von der Anrede: »Durchlaucht!« nicht abbringen, dabei überschüttete sie mich mit Versicherungen ihrer höchsten Verehrung von unendlichen Verbeugungen begleitet. Als wir endlich über dies Stadium hinweg waren, entpuppte sie sich als die damals vielgenannte Mutter Simon; so hieß die treffliche Frau bei den Soldaten und in den Lazaretten, wo sie oft erschien und[189] von ihrer Wohlhabenheit reichlich mitteilte. Nachdem sie sich von ihren Ehrenbezeugungen, ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, unterhielten wir uns ganz gemütlich. Ihre Erzählungen vom Kriegsschauplatz, von ihren Soldatenkindern, waren mit viel unfreiwilligem Humor gewürzt.


Der Glanzpunkt aller Besuche war aber der des Kaisers, wenige Tage nach seiner Heimkehr aus Frankreich. Aus der Unter den Linden belegenen Wohnung des Dr. Tobolt, Leiter der 1. Baracke, sah ich den Kaiser einziehen. Richtiger muß man sagen: still in seine Hauptstadt hereinfahren.

Durch wogende Menschenmengen hindurch fuhr die Kaiserin zum Bahnhof, um den Gemahl zu empfangen, und bald darauf sah man den altbekannten einfachen Halbwagen vom Brandenburger Tor wieder daherkommen. Beide Majestäten saßen darin der Kaiser in dem historischen grauen Mantel mit dem Helm auf dem Haupte, die Kaiserin in schwarz und weiß gestreiftem Umhang, in dem wir sie so oft in den Baracken gesehen hatten.

Kein Gepränge von Fahnen, keine Ehrenpforten, kein Aufzug von Gewerken. Und doch gab es wohl kaum eine Erscheinung, die so alle Gemüter bewegte, so tief, daß kaum ein Jubelruf ausbrach, und nur gefaltete Hände und Augen voll Tränen den heimkehrenden Herrscher grüßten.

Des Kaisers Erscheinen in den Baracken sollte wohl lediglich den Verwundeten gelten. In seiner großen Freundlichkeit gab er dem Drängen der Gräfin Roon nach, die ihn, um mir eine Freude zu machen, bewog, auch dem Küchenterrain einen Besuch abzustatten.[190]

An der Türe wurde ich dem Kaiser vorgestellt. Meine Nichte Käthe Wedemeyer, die ich, wissend, was der Tag bringen würde, mit hinausgenommen hatte, blieb in bescheidener Entfernung stehen. Ihr jugendfrisches Aussehen und ihr Traueranzug lenkten den Blick des Kaisers auf sie: »Wer sind Sie denn?« fragte er, und sprach, als er den Namen und die Ursache der Trauer erfahren hatte, sehr herzlich seine Teilnahme aus. Beim Fortgehen trat der Kaiser noch einmal an Käthe heran und sprach: »Sagen Sie Ihren Eltern, daß es mir innig leid tut, daß auch sie solch Opfer bringen mußten.«

Die gute Gräfin ließ nicht nach, der Kaiser mußte in den großen Kaffeekessel sehen, und die Massen von Zwieback und Semmeln anstaunen – er sagte dann freundlich zu mir: »Verwöhnen Sie meine Soldaten nicht.«

Worauf die Gräfin als höchstes Lob für mich hervorhob, daß ich die ganze Zeit mit ein und derselben Köchin gewirtschaftet hätte. Was der Kaiser sich dabei gedacht hat, ist mir nie klar geworden. Ich weiß nur, daß alle Damen mein langes Aushalten mit Johanne für ein besonderes Kunststück hielten. Ich hatte ihnen auf alle diesbezüglichen Anfragen und Vorschläge geantwortet, man möge mir eine Köchin schaffen, die in aller Arbeit so tüchtig wie dieser Drache und dabei sanften Gemütes wäre, dann könnte Johanne gehen. Ein solches Juwel war natürlich nicht aufzutreiben, und so befolgte ich die einfache Taktik, fortzugehen, wenn Johanne tobte, und nutzte ihre guten Seiten zum Besten des Ganzen aus.

Leicht war es wirklich nicht, täglich für 400–500 Menschen zu kochen und alle Mahlzeiten pünktlich und gut fertig zu haben. Es wurden wohl Rekonvaleszenten zum Kartoffelschälen kommandiert,[191] auch Franzosen. Mit Lust war aber keiner dabei. Diese erweckte ihnen erst ein Glas Wein, das ich jedem gab. Der Deutsche sagte: »Ick dank' och«. Der Franzose hob das Glas und sagte: »à la santé de madame«.


Wieviel Jammer und Elend haben diese Baracken gesehen! Oft machte die Kaiserin den schwer Leidenden noch die Freude, für sie Weib und Kind oder alte Eltern kommen zu lassen. Das waren freilich nur letzte Sonnenblicke, die in die Leidensnacht der Sterbenden fielen, und herzzerreißend war oft der Jammer der Hinterbliebenen nach der kurzen Freude des Wiedersehens.

Mir ist aus jenem Leben, so anstrengend es auch war, viel nachhaltige Freude erwachsen.

Alle dort Arbeitenden begegneten einander freundlich, aber natürlich vereinten sich doch nur einzelne zu wirklicher Freundschaft.

Für mich gehörte zu den dort erworbenen treuen Freunden die Frau des damaligen badischen Gesandten, Baronin v. Türckheim. Eine Süddeutsche, hatte sie die volle Frische und Gemütlichkeit ihrer Landsleute. Trotz des Ernstes, der uns alle bewegte, und den auch sie teilte, brachte sie doch viel Humor in den täglichen Verkehr.

Um 3 Uhr nachmittags war in jeder Baracke – jede Dame hatte in der ihrigen ein kleines Zimmer – Versammlung zu einer Tasse Tee. Hatte sie mich in den Vormittagsstunden nicht gesehen, so schickte Frau v. Türckhein eine schriftliche Einladung. Eines Morgens erwartete der Fleischlieferant, der in der Wilhelmstraße wohnte, unsern vorüberfahrenden Omnibus in[192] heller Verzweiflung, weil er nicht wußte, was nach dem erhaltenen Bestellzettel zu tun sei. Er überreichte ihn mir, und siehe, da stand: »Liebes Tantchen, kommen Sie zum Tee, bringen Sie aber Zucker, ich zeige Ihnen auch einen französischen Offizier, der sagt: La seule chose que j'envie à la Prusse c'est Bismarck.

Ihre Fanny.«

Da hatte ich Unglückswurm die Einladung dem Schlächter geschickt und den Bestellzettel in der Tasche behalten.

Das war meine Schuld. Ein anderes Mal hatte sie mir in der Stadt Sauerkohl besorgt, und ich erhielt dann folgende Rechnung: Für Frau Baronin v. Türckheim. Pantoffeln, Stiefeln usw. angefertigt. Trotz der freundlichsten Gesinnungen für Baden konnte ich mich doch nicht bereit finden, hier zahlend einzutreten.

Das gab denn manche Neckerei, und in all dem Elend, das man täglich sah, war das nicht nur herzerquickend, sondern nötig, um nicht zu erlahmen.

Der Scherz um diese verwechselte Rechnung wirkte um so nachhaltiger, da Frau v. Türckheim an demselben Morgen noch folgendes Erlebnis hatte. Sie sah zum zweiten Frühstück die Ärzte ihrer Baracke nach ihrer Ansicht goldklaren Wein trinken. Da sie oft den Ärzten zu dieser Mahlzeit kleine Delikatessen mitbrachte, so äußerte sie sich in scherzhafter Weise pikiert, daß man ihr von dem schönen, allgemein belobten Getränk, nicht anbot. »Exzellenz werden das nicht trinken,« sagte man ihr. »Gewiß,« erwiderte sie, und als das Glas nur halb gefüllt wurde, rief sie: »O, nur zu, voll muß es sein.« Sie nahm einen herzhaften Schluck und – da war es alter Nordhäuser Korn. Natürlich wurde nun die Verwechselung auf einen[193] kleinen Schwipps geschoben, und ich schickte ihr am anderen Morgen zum Frühstück einen sauern Hering mit Blumen bekränzt. Sie freute sich des Scherzes und sammelte feurige Kohlen auf mein Haupt. Gegen Abend kam die Großherzogin von Baden zu ihr. »Wo ist Tantchen?« hörte ich Frau v. Türckheims Stimme vor dem Küchenfenster. Ich zerlegte eben einen Rehbock und rief nur zurück: »Kommen kann ich leider nicht, Sie müssen schon zu mir kommen.« Richtig, da kam sie mit der Großherzogin und sagte: »Königl. Hoheit, unser Barackentantchen.« Die Großherzogin trat zu mir und unterhielt sich lange auf das Gnädigste mit mir.

Die Freundschaft mit Frau v. Türckheim hat die Barackenzeit überstanden, ich habe sie wiederholt auf ihrem Gut in Baden besucht und stand bis zu ihrem Tode in Briefwechsel mit ihr.

Um unter der schweren Arbeit die Fröhlichkeit zu erhalten, unterbrach bisweilen ein Scherz, wie ich schon oben andeutete, den Ernst des Tagewerks, das Schmerzliches genug brachte. So ordnete die Gräfin Roon, als Bismarck Fürst geworden war, große Cour bei mir an. Ein Stuhl wurde auf den Tisch gesetzt, darauf mußte ich mich niederlassen, und alle Damen zogen, sich verbeugend bei mir vorüber, natürlich unter Lachen und Scherzen.

Mit dem April sollte das Lazarett geschlossen werden. Die Verwundeten räumten es nach und nach, teils geheilt, teils in andere Lazarette übergehend. Am Nachmittag des Tages, an dem wir die Baracken verließen, versammelte Gräfin Roon alle Damen und Ärzte bei sich. So waren wir, die während so vieler Monate des harten Winters die anstrengende Tätigkeit geteilt hatten, noch einmal vereint und tauschten ernste und heitere Erinnerungen.[194]

Quelle:
Bismarck, Hedwig von: Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen. Halle 151913, S. 171-195.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen
Erinnerungen aus dem Leben einer 95-jährigen: Nachdruck Der Originalausgabe Von 1913 In Frakturschrift

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