V.

Friedrich Engels. Der Kommunistenbund. Heinrich Heine.

[26] Friedrich Engels war in Paris vom Januar bis zum Herbst des Jahres 1847 mein einziger Umgang. Wir brachten die Abende fast ausschließlich zusammen zu und am Sonntag machten wir häufig gemeinsame Ausflüge in die Umgegend der französischen Hauptstadt. Er war um fünf Jahre älter als ich und nahm mich gewissermaßen in die Lehre. Ich hatte schon in Berlin sein Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England gelesen. Das bot Unterhaltungsstoff dar, er entwickelte vor mir die Grundzüge der Nationalökonomie, ich hörte ihn gern sprechen, ich war ein leicht fassender Schüler. Er führte mich in den Kommunistenbund ein. Engels und Marx glaubten an den Kommunismus. Bis zu den letzten Konsequenzen ihrer Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung vorgehend, sahen sie bei der zu erwartenden Aufhebung des Einzelbesitzes, der ihnen die Quelle aller Ungerechtigkeit auf Erden war, den Gesamtbesitz als die unausweichliche Folgerung ihrer Geschichtsauffassung und ihres daraus entstandenen sozialen Systems an. Ob die anderen Mitglieder des Kommunistenbundes an die Möglichkeit des Kommunismus[26] glaubten? Die Frage klingt sonderbar genug, ich kann sie doch nicht bejahen, obgleich ich selber noch vor Ablauf des Jahres den Kommunismus, wie wir später sehen werden, in einer von mir verfaßten Broschüre gegen einen seiner Angreifer verteidigte.

Was einen jungen Menschen meiner Natur für die Marx-Engel'sche Lehre zunächst einnahm, das war der wissenschaftliche Grund und Boden, von dem sie ausgeht. Sie erkennt das historisch Gewordene als das Notwendige an, kennzeichnet in einleuchtender Weise die verschiedenen Produktionsformen, welche einander in der Kulturentwicklung der Menschheit ablösen und nach gewissen Zeitabschnitten immer weiteren Kreisen die Bahn zur Freiheit und materiellen Unabhängigkeit öffnen; sie weist daraufhin, wie in unserer Zeit die herrschende Produktionsform, die der freien Konkurrenz, schließlich zum Krieg aller gegen alle geworden und zweifellos einer neuen Produktionsform Platz machen müsse, welche die ungehinderte Ausbeutung des Privateigentums, die zum Massenelend führe, durch Begründung des ausschließlichen Kollektiveigentums und der kommunistischen Gesellschaft ablösen müsse, die gewissermaßen den Abschluß aller wirtschaftlichen Kämpfe ausmachen und die Aufhebung der Klassengegensätze herbeiführen werde. Ob wir nun im Jahre 1847 die Lehre von der unvermeidlichen Verelendung der Massen und besonders die kommunistische Schlußfolgerung, die uns gewissermaßen als eine Krönung der gesamten Kulturarbeit von Jahrtausenden erscheinen mußte, gläubig hinnahmen? Was mich betrifft, so arbeitete ich mich in das kommunistische Glaubensbekenntnis, nicht mit dem Verstande, aber mit ganzer Seele hinein, ich ließ keinen Widerspruch aufkommen, weil er mich in das Nichts zurückgeworfen hätte, mein ganzer Witz wurde der Bekämpfung der aufsteigenden Zweifel dienstbar gemacht. Es ging mir wie allen denen, welche im Glauben allein sich glücklich fühlen und denen dabei der Spott gegen die Nichtgläubigen nicht ausgeht. Von einer wirklichen Überzeugung aber, daß der Kommunismus allein den Abschluß der gewaltigen wirtschaftlichen Bewegung unserer Zeit, ja, aller Zeiten bilden müsse, war schon deshalb nicht die Rede, weil man sich gar nicht bestrebte, sie zu gewinnen. Man glaubte.

Nun stand ich doch mit zweiundzwanzig Jahren auf einer Bildungsstufe, welche eher zur Skepsis geneigt macht. Wie sah es aber bei der Mehrzahl der Mitglieder des Kommunistenbundes aus? Wie Leute aus dem Volke die Predigt des Herrn Pfarrers der ihnen persönlich[27] Vertrauen einflößt und ja ein braver Mann ist, so nahmen auch die jungen Kommunisten die Lehre von der Aufhebung des Privateigentums und seine Ersetzung durch das Kollektiveigentum ohne viel Kopf zerbrechen hin. Für sie handelte es sich, und das beschäftigte sie vor allem andern, um eine Besserung ihres materiellen Daseins, die ja auf Grund der Entwicklungsgeschichte der Menschheit doch einmal kommen mußte. Daran glaubten sie und das mit Recht. Zu welchem letzten Ziel die ihnen vorgetragene Theorie führte, ob dies auch erreichbar sei, das machte ihnen keine Sorge. Anders sollte es werden und besser. Das leuchtete ihnen ein. Und dann übt ja, um es nicht zu vergessen, das Geheime, das Verbotene einen ganz besondern Reiz auf den Menschen aus, namentlich, wenn er allein steht und für sein Tun nicht das Wohl von Weib und Kind abzuwägen hat. Man vergesse auch nicht, welchen Einfluß die Atmosphäre in Paris auf uns ausüben mußte. Man atmete den Hauch der großen Revolution und des Juliaufstandes, deren Denksäule auf dem Platz errichtet worden war, auf dem die Bastille gestanden. Die Pariser Arbeiter bildeten damals schon, was in Deutschland nirgends der Fall war, einen ausgesprochenen Gegensatz zur herrschenden Bourgeoisie, den die Unvernunft Guizots, sie von allen politischen Rechten hartnäckig auszuschließen, aufs höchste trieb. Die Blindheit dieses gelehrten, jedoch allem Verständnis für seine Zeite unzugänglichen Ministers brachte denn auch die revolutionäre Gesinnung der Pariser Bevölkerung rasch zur Reife. Man fühlte, daß die Dinge einer Entscheidung entgegentrieben, und in weniger als einem Jahr war in der Tat der Thron Louis Philipps zusammengestürzt, und fast der ganze europäische Kontinent stand in Flammen. Das Vorgefühl der kommenden Ereignisse zog uns, wie leicht erklärlich, von den Spekulationen über das letzte Ziel der Bewegung der arbeitenden Klassen um so mehr ab, als die Marx'sche Lehre entgegen derjenigen der Utopisten den politischen Sieg der Arbeiterpartei, ihre vor allen Dingen zu gewinnende politische Herrschaft als die Vorbedingung der wirtschaftlichen Umwälzung bezeichnete.

Der Kommunistenbund hatte keinen andern als einen propagandistischen Zweck. Er löste sich also während der politischen Umwälzung des Jahres 1848 auf. Wozu ein Geheimbund, sobald das Vereinsrecht und die Preßfreiheit als Grundrechte der Nation anerkannt wurden, und das allgemeine Stimmrecht, wenn auch im einzelnen mit gewissen Beschränkungen, zur Anwendung gelangte? Eines drängte sich mir schon mit greifbarer Deutlichkeit im Anfang[28] meiner Beteiligung an politischen Dingen auf: das war die Erkenntnis, daß mit der Gleichberechtigung aller die Gleichheit noch lange nicht erreicht ist, daß sie überhaupt unerreichbar ist, weil die Menschen in ihrer Begabung, ihrem Temperament, ewig ungleich sind. Wie die Natur nicht zwei absolut gleiche Ähren in einem Kornfeld hervorbringt, so weisen auch die politisch gleichberechtigten Mitglieder einer Gesellschaft nicht zwei gleiche Menschen auf.

Engels, der mir mein selbständiges Auftreten in Berlin im Jahre 1848 nie vergeben hat, machte mir den Vorwurf, ich hätte es im Revolutionsjahre »mit meiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu eilig gehabt.« Ich werde später auf diese ganz ungerechtfertigte Beschuldigung zurückkommen. Im Jahre 1847, als wir in Paris als die besten Freunde lebten, hatte er wohl bemerkt, daß er selber auf die eigentlichen Arbeiterkreise keinen Einfluß auszuüben vermochte. Er war denn doch der reiche Bourgeoissohn, der allmonatlich seinen Wechsel von seinem Vater, dem großen Fabrikherrn in Barmen erhielt; die Sorge des Lebens trat nie an ihn heran, er hatte nichts von einem Arbeiter an sich und war vollkommen in seinem Recht, wenn er eine Maske nicht anlegte, die ihm schlecht gestanden hätte. Als es sich in einer Sitzung des Geheimbundes darum handelte, einen Abgeordneten zum Zentralkomitee in London zu ernennen, machte man mich zum Vorsitzenden. Ich merkte, daß es sehr schwer fallen würde, Engels, der seine Ernennung wünschte, durchzubringen; es regte sich eine starke Opposition gegen ihn. Ich erlangte nur seine Wahl, indem ich der Regel zuwider, nicht diejenigen, welche für den Vorgeschlagenen, sondern diejenigen, welche gegen ihn waren, zum Erheben der Hand aufforderte. Dieses Präsidial-Kunststück erscheint mir heute als ein Greuel. »Das hast Du gut gemacht,« sagte Engels, als wir heimgingen. Ich aber hatte an jenem Abend zum erstenmale die Erfahrung gemacht, daß die Ungleichheit der Menschen nicht bloß in der Ausübung der Gewalt der Starken über die Schwachen, in den staatlichen Einrichtungen zu suchen ist, sondern auch in den Menschen selber liegt, daß die Ungleichheit zwar mit der steigenden Kultur immer mehr von ihrer Schärfe verlieren muß, nie aber ganz verschwinden wird. Ein ähnlicher Abstimmungsmodus wie der, von welchem ich eben erzählte, wird heute zwar von keinem Arbeiterverein zugelassen werden. Die Macht der Begabteren oder auch der Rührigeren über die minder Begabten und minder Rührigen bleibt deshalb doch eine ungeheure – nicht bloß bei den Arbeitern, sondern bei allen politischen Verbindungen.[29] Wir in der Schweiz wissen etwas davon zu erzählen, wie z.B. die Namen der für diese und jene Wahl aufzustellenden Kandidaten im stillen Hinterzimmer eines Cafés von wenigen Parteiführern gewogen, erlesen, auf die Liste gebracht und schließlich in öffentlicher Versammlung durch Mehrheitsbeschluß durchgesetzt werden. Ein anderer Modus ist nicht zu finden, woraus nur zu folgern ist, was ich oben gesagt, daß die Gleichberechtigung noch lange nicht die Gleichheit in der Praxis ist. Man kann seine Glossen darüber machen, wenn die Männer im Hinterstübchen, welche die Partei-Vorsehung spielen, sich einmal auffallend geirrt haben; ändern kann man es nicht, daß sie die Macht an sich reißen und ausüben und daß die andern sie gewähren lassen. Erfahrungen solcher Art führten natürlich nicht sogleich zu einer folgerichtigen Anwendung, doch blieben sie in meinem Gedächtnis haften und waren in späterer Zeit nicht ohne Einfluß auf meine Stellung zu jeder Parteipolitik. Der Knecht einer solchen bin ich niemals gewesen. Dazu war ich viel zu sehr Idealist und Individualist.

Ein ausgesprochener Individualist trotz seiner kommunistischen Lehre war auch Engels. Wir konnten deshalb doch sehr leicht mit einander verkehren, weil wir beide ganz unabhängig von einander waren, ich mit meinem bescheidenen, doch für meine Bedürfnisse ausreichenden, er mit seinem bei weitem größeren Einkommen. Für die schönen Künste, besonders für Musik, hatte er keinen Sinn, er glich in dieser Beziehung meinem späteren Freund Rüstow, der die Trommel als das einzige musikalische Instrument bezeichnete, das er verstehen und das ihn erfreuen könne. Es kam Engels niemals der Gedanke, mir die Kunstschätze von Paris zu zeigen; ich besuchte ohne ihn die Galerien des Louvre; er sah sich im Theater des Palais Royal die tollsten Possen an, ich bewunderte im Théâtre francais die Rachel als Phèdre. Das hielt er wahrscheinlich für abgeschmackt. Er beschäftigte sich damals ausschließlich mit historischen Studien, deren Ergebnisse er in seinen späteren Schriften glücklich verwertete. Seinen näheren Umgang bildete noch in jenem Jahre ein im Quartier Breda wohnender Maler aus der rheinischen Heimat, namens Ritter, der in Paris für einen dortigen Bilderhändler echte Niederländer malte, dabei aber natürlich kein Krösus wurde, jedoch mit der lustigen Picarde, die sich zeitweise an ihn gefesselt, ein vergnügtes Dasein führte.[30]

Der zeitgenössischen Literatur zu folgen, bot mir ein Cabinet de lecture im Palais Royal die Mittel, das neben französischen und englischen auch die wichtigsten deutschen Zeitungen hielt und über eine ziemlich große Bibliothek verfügte. Dort saß ich eines Tages, tief versunken in die Weisheit eines Journalisten, als plötzlich in dem stillen Saal eine ungewöhnliche Bewegung sich kund gab. Ein Mann in vorgeschrittenen Jahren war eingetreten, bei dessen Erscheinen ein halbes Dutzend Leute dienstfertig ihm entgegen eilten. Man reichte ihm den Arm, man führte ihn zu einem bequemen Sessel, in den er sich niederließ, man gab ihm die »Augsburger Allgemeine Zeitung«. Ich betrachtete ihn staunend und teilnehmend. Das eine Auge war geschlossen, das andere schien unbeweglich, es folgte nicht den Worten des Zeitungsblattes, sondern dieses wurde vor dem Auge hin- und hergeschoben. Über dem blassen Angesicht lag der Zauber still getragenen Leidens und geistiger Verklärung. Ist das, was ihn unter so viel Schwierigkeiten zum Lesen jenes Blattes geführt, wohl die Anstrengung wert, die er dabei sich auferlegt? mußte ich unwillkürlich mich fragen. Er legte jetzt das Blatt beiseite und erhob sich. Wieder trat eine allgemeine Bewegung im Saale ein. Einer der Herren reichte ihm den Arm und begleitete ihn hinaus, andere folgten bis an den Ausgang des Saales, er nickte dankend, sie verbeugten sich, er verschwand. Wer mochte der Mann sein? Diese Frage beschäftigte, beunruhigte mich lange. Ich entschloß mich endlich, den Saaldiener nach dem Namen jenes kranken Besuchers zu fragen. C'était Monsieur Henri Heine, raunte er mir ins Ohr. Ich war todeserschrocken. Heine fuhr damals noch aus, er war noch nicht an die »Matratzengruft« gefesselt, von der aus er uns mit seinen erschütternden Lazarusliedern beschenken sollte.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 26-31.
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