VII.

Ein Winter in Brüssel. Karl Marx.

[38] Ich kam wieder durch deutsche Lande. Ich ging von Bern ohne Aufenthalt über Basel nach Straßburg, von dort mit dem Dampfschiff, das zu jener Zeit in Straßburg seinen Ausgangspunkt hatte, nach Köln und dann weiter nach Brüssel, das gewissermaßen das geistige Zentrum der kommunistischen Verbindung bildete. Dort lebte Karl Marx. Ich war gespannt darauf, ihn kennen zu lernen. Ich fand ihn in einer höchst bescheiden, man darf wohl sagen ärmlich ausgestatteten kleinen Wohnung in einer Vorstadt Brüssels. Er nahm mich freundlich auf, befragte mich über den Erfolg meiner propagandistischen Reise, machte mir ein Kompliment über meine Broschüre gegen Heinzen, in welches seine Frau einstimmte, die mich freundlich willkommen hieß, und wie sie ihr Lebenlang den innigsten Anteil an allem nahm, was ihren Mann interessierte und beschäftigte, so war sie auch nicht ohne besonderes Interesse für mich, der ich ja für einen hoffnungsvollen Jünger der Lehre ihres Mannes angesehen wurde.

Marx, so wurde mir später erzählt, hatte als Bonner Student seine Frau auf einem Ball kennen gelernt; Fräulein von Westphalen, dies war ihr Mädchenname, gehörte einer preußischen, finanziell etwas zurückgekommenen Junkerfamilie an. Marx liebte sie und sie teilte seine Leidenschaft. Sie heirateten sich, gewiß nicht ohne Überwindung mancher Schwierigkeiten seitens der Familie von Westphalen. Diese Liebe bestand alle Proben eines ununterbrochenen[38] Lebenskampfes. Ich habe selten eine so glückliche Ehe gekannt, in welcher Freud' und Leid, das letztere in reichlichstem Maße, geteilt, und aller Schmerz in dem Bewußtsein vollster, gegenseitiger Angehörigkeit überwunden wurde. Ich habe auch selten eine in ihrer äußern Erscheinung wie in ihrem Herzen und Geiste so harmonisch gestaltete Frau gekannt, die bei der ersten Begegnung so sehr für sich eingenommen hätte wie Frau Marx. Sie war blond, ihre Kinder, damals noch klein, waren dunkelhaarig und dunkeläugig wie ihr Vater. Des letzteren in Trier lebende Mutter gab einen Beitrag zu den Bedürfnissen des Haushaltes, die Feder des Schriftstellers mußte wahrscheinlich für die Haupteinnahme sorgen. Marx hatte wohl die Bekanntschaft einiger freisinniger Politiker in Brüssel gemacht, doch kam es zwischen ihm und seinen Freunden, meist Ausländern, nicht zu einem wirklich geselligen Verkehr, und weder er noch seine Frau schienen einen solchen zu vermissen. Frau Marx lebte in den Ideen ihres Mannes, sie ging dabei ganz und gar in der Sorge für die Ihrigen auf und war doch so himmelweit von der strumpfstrickenden, den Kochlöffel rührenden deutschen Hausfrau entfernt. Mehrere Jahre später fügte sie am Schluß eines Briefes, den sie mir aus London geschrieben hatte, die Trauernachricht hinzu, durch welche innere Entrüstung ein wenig hindurchklang, daß ihre so treue und unverdrossene Magd, die gewissermaßen als ein Mitglied der Familie betrachtet wurde, sie verlassen habe.

In Brüssel wurde alljährlich am 29. November der Jahrestag der polnischen Revolution des Jahres 1830 von den dort lebenden polnischen Emigranten festlich begangen. Die städtische Verwaltung hatte dazu regelmäßig einen Saal im Rathause hergegeben. Diesesmal – geschah es im Vorgefühl der großen politischen Ereignisse, welche, von Frankreich ausgehend, sich über einen beträchtlichen Teil Europas verbreiten sollten? – waren für den 29. November besondere Festlichkeiten vorhergesehen, und deshalb lud man auch Vertreter anderer Nationalitäten als nur der polnischen, zu dem öffentlichen Akt auf dem Rathause ein. Unter den französischen Flüchtlingen war es ein Blanquist aus Marseille, namens Imbert, der mit einer Rede auftreten sollte; unter den Deutschen war Marx dazu berufen. Er wollte der Einladung sich entziehen, wahrscheinlich wohl, weil er in einer zu bunten Gesellschaft hätte auftreten müssen – Graf Merode, ein bekannter Führer der belgischen Ultramontanen, hatte den Vorsitz bei der[39] Feier – dann stimmte auch seine ganze politische Anschauung nicht recht zu dem Geiste, der in der polnischen Kolonie herrschte. Engels, der seit kurzem von Paris nach Brüssel übergesiedelt war, hätte ihn wohl ersetzt, aber – er war aus Paris ausgewiesen worden, und als die Regierung deshalb von einem Mitgliede der äußersten Linken interpelliert worden war, antwortete der Minister, es seien keine politischen Gründe gewesen, die zu dieser Ausweisung geführt hätten. Die Sache war durch alle Zeitungen gegangen, und Engels weigerte sich, mit seinem Namen jetzt hervorzutreten. Was zu seiner Ausweisung geführt hatte, war in der Tat nicht politischer Natur. Er hatte, von dem oben genannten Maler Ritter davon unterrichtet, daß ein französischer Graf X. sich von seiner Maitresse getrennt, ohne in irgend einer Weise für sie zu sorgen, diesem Grafen gedroht, die ganze Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, wenn er seine Menschenpflicht gegen die Verlassene nicht zu erfüllen gedenke. Der Graf wandte sich mit einer Beschwerde an den Minister, und der Minister wies den Fremden mit seinem Freunde Ritter aus.

Eine ganz ablehnende Anwort sollte aber dem polnischen Festkomitee nicht gegeben werden, und so forderte Marx mich auf, an seine Stelle zu treten. Ich war über diesen Vorschlag nicht wenig bestürzt; ich stellte ihm vor, daß ich dazu wohl zu jung sei. Das half nichts, und ich hielt die obligate Rede. Sie erregte nicht geringes Aufsehen. Keine Seele war auf die Idee gekommen, daß jemand bei einer solchen Gelegenheit, an dem der polnischen Revolution gewidmeten Gedenktage, im Brüsseler Rathaus eine Rede halten könnte, in welcher der nicht allzuweit entfernte Übergang von der politischen zur sozialen Revolution schließlich angedeutet wurde. Die äußerste Linke im Saal – auch hier gab es eine solche – klatschte stürmischen Beifall, die vornehme Gesellschaft auf den vorderen Stuhlreihen und auf den Präsidialsitzen war verschnupft, die Zeitungen suchten die Sache zu vertuschen, doch hatte ein Brüsseler Korrespondent in deutschen Zeitungen einen Alarmruf ausgestoßen, so daß selbst mein braver Freund Bisky mir erschrocken schrieb, ob ich denn die Absicht habe, mir den Rückweg ins Vaterland geradezu abzuschneiden? – Diese Befürchtung war nun freilich ganz grundlos. Nur noch wenige Monate, und die Welt hatte ein ganz anderes Aussehen. In Brüssel existierte damals ein deutscher Verein, der sich zumeist aus Arbeitern und jungen Angestellten in Fabriken und Handelshäusern[40] zusammensetzte. Er war von Mitgliedern des Kommunistenbundes ziemlich stark durchsetzt. Kommunismus und Kommunisten waren übrigens nur Worte, die niemand banden, über die man tatsächlich kaum sprach. Viel näher lag die in Frankreich immer entschiedener sich geltend machende Bewegung für die Reform des Wahlgesetzes. Mit Spannung verfolgte man die dortige Entwicklung der Dinge, man ahnte einen entscheidenden Schlag. Die Tagespolitik war also der Gegenstand unseres ausschließlichen Interesses. Nebenher sorgte jener Verein für etwas Unterhaltung. Karl Wallau, mit dem ich die von Herrn von Bornstedt herausgegebene Brüsseler Deutsche Zeitung setzte – er gehörte auch zum engern Bund –, besaß eine schöne Baritonstimme und sang an den Vereinsabenden gern gehörte, deutsche Lieder; andere musikalische Beiträge blieben nicht aus, es fehlte natürlich auch nicht an Deklamatoren, auch junge deutsche Damen wurden eingeführt, und man tanzte bisweilen. An der Schwelle des sturmerfüllten, geschichtlich so inhaltschweren Jahres 1848 versammelte man sich sogar zu einem gemeinsamen Abendessen. Ein von mir verfaßtes, ich brauche es nicht erst zu sagen, sozial-politisches Festspiel wurde aufgeführt. Unter den Anwesenden befand sich Marx mit seiner Frau und Engels mit seiner – Dame. Die beiden Paare waren durch einen großen Raum von einander getrennt. Als ich zu Marx herankam, um ihn und seine Frau zu begrüßen, gab er mir durch einen Blick und ein vielsagendes Lächeln zu verstehen, daß seine Frau eine Bekanntschaft mit jener – Dame auf das strengste ablehne. In Fragen der Ehre und Reinheit der Sitten war die edle Frau intransigent. Die Zumutung, auf diesem Gebiet ein Zugeständnis zu machen, wenn eine solche an sie gestellt worden wäre, hätte sie mit Entrüstung zurückgewiesen. Die Hochachtung, die ich für sie gehegt, wurde durch dieses Intermezzo sehr gesteigert. Es war jedenfalls überkühn von Engels, durch die Einführung seiner Maitresse in diesen meist von Arbeitern besuchten Kreis an einen, den reichen Fabrikantensöhnen so oft gemachten Vorwurf zu erinnern, daß sie die Töchter des Volkes in den Dienst ihrer Freuden zu ziehen wissen. Noblesse oblige. Engels hat für das arbeitende Volk so Bedeutendes geleistet als Schriftsteller und als Führer, sein Name steht so fest auf den Gedenktafeln seiner Partei, daß die Achtung vor denen, deren Sachwalter er bis dahin und dann sein Leben lang mit großem Ernst und vielem Erfolg gewesen ist, ihm hier[41] eine durch alle Umstände gebotene Zurückhaltung hätte auferlegen sollen. In Fragen des Ewig-Weiblichen oder Unweiblichen war er jedoch sehr sterblich.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 38-42.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Erinnerungen eines Achtundvierzigers
Erinnerungen Eines Achtundvierzigers
Erinnerungen eines Achtundvierzigers
Erinnerungen Eines Achtundvierzigers (German Edition)

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon