Pantoffelmacher

[162] In die Knopffabrik ging ich nicht wieder, sondern nun wollte ich das Pantoffel- und Holzschuhnageln lernen. Die Lehrmeister dazu hatte ich. Das Pantoffelnageln mußte mir Paul Bauer beibringen und das Holzschuhmachen mein Vater. Als ich den zwei, ten Tag bei Bauer lernte, bekam ich eine Karte von dem Geflügelhändler in Leipzig. Ich sollte nun antreten! Meine Eltern stellten mir es frei. Ich lehnte jedoch ab. Es wäre ja doch nichts Beständiges geworden, außer ich hätte vielleicht die Tochter geheiratet und das Geschäft als Mitgift bekommen. Und ich und solches Glück? Wer lacht da nicht? Überdies hatte ich Luft zur Pantoffelschusterei. Es war da der schon oft erwähnte Karl Schröder mit an unserm Arbeitstische und ein gewisser Emil Denzin aus Nakel bei Bromberg an der Netze. Da wurde den ganzen Tag über erzählt und die Zeit verstrich wie im Fluge. Den Hauptteil der Unterhaltung trug Karl Schröder. Er war unerschöpflich im Erzählen. Bald erzählte er von seiner Jugend, wie sie in Friesack den roten Husaren nachgesetzt, oder wie sie in den Torfmooren zwischen Friesack und Fehrbellin herumgetollt seien. Dort seien von den Torfstechern ganze Männer- und Pferdeskelette ausgegraben worden, die von dort versunkenen französischen Reitern aus den napoleonischen Kriegern herrühren sollten. Dann kamen wir wieder einmal Schauergeschichten aus der Ritterzeit dran, in denen namentlich die Quitzows vorkamen, die in der Markgrafenzeit in Friesack gehaust und sich gegen den Nürnberger Burggrafen Friedrich von Hohenzollern aufs heftigste gewehrt hätten. In Friesack sollen zu jener Zeit 16 reiche Berliner Bürger in der Gefangenschaft geschmachtet[162] haben, die Dietrich von Quitzow nur gegen ein hohes Lösegeld freigab. Die daran sich anschließenden Gespenstergeschichten sind mir heute entfallen. Ein andermal baute Schröder wieder einmal Zukunftsschlösser. Seinen 4 Jahre alten Sohn nannte er stets nur Dr. Arthur, denn der sollte einmal etwas Großes werden. Und die Zeit verging dabei und zugleich die Arbeit und das war die Hauptsache. Wenn dann Schröder einmal zu Ende war mit seinem Latein, dann sagte er oft zu seinem Nachbar: »Du, gib mal meinem Jungen seinen Tod her,« so nannte er nämlich seine Schnapsflasche, und dann nahm er aus ihr einen Schluck Nordhäuser. Ich will gleich noch diese Schnapsflaschengeschichte erzählen. Sie ist traurig genug und gibt ein außergewöhnliches Bild aus dem Proletarierleben. Schröder, der ein Schmöllner Mädchen geheiratet, hatte wie dies bei Schallers üblich war, dort bald Feierabend bekommen. Er war der erste Nagler bei ihnen gewesen und hatte dann selbst verständlich gegen die reduzierten Löhne Front gemacht. Um nicht müßig zu liegen und vielmehr seine Lage zu verbessern, hatte er mit einigen Kollegen und mit seinem alten Stiefvater Schulze eine Kurtpantoffelfabrik gegründet. Im Anfange ging die auch ganz gut, aber später, als die Außenstände wuchsen und nicht beglichen wurden, kam der Krach. In Schmölln war keine Arbeit mehr für ihn, und als er erfuhr, daß in Trebnitz an der Ostbahn eine Fabrik eingerichtet würde, so schrieb er hin und wurde auch als Werkführer, glaub ich, engagiert. Einer seiner Knaben hatte in jenen Tagen gerade eine Halskrankheit. Allein, die Reise mußte angetreten werden. Natürlich konnte nur 4. Klasse gefahren werden. Was das aber für ein halskrankes Kind bedeutet, in überfülltem Waggon, wie sie auf den Linien von hier nach Leipzig, von dort nach Berlin, und von Berlin nach der Ostbahn üblich ist, das kann nur ein Lungenkranker ermessen, der in diesen Tabaksrauch geschwängerten, mit schlechter Luft angefüllten Wagen schon oft gefahren ist, und das ist bei mir der Fall. In Wittenberg war es dann wohl, wo ein Reisender dem Schröder riet, für seinen kranken Knaben eine Flasche Tokayer-Wein zu kaufen. Er befolgte den Rat und flößte seinem Kinde solchen Wein ein. Kurz vor Berlin[163] verstarb jedoch der 2 1/2jährige Junge noch im Eisenbahnwagen. Die Tokayerflasche aber hatte Schröder aufgehoben, und sie seitdem als sein Schnapsfläschchen benutzt. Und deshalb nannte er sie auch »meinem Jungen sein Tod«.

Auch mit Emil Denzin hatten wir unsern Spaß. Das war ein Bursche von 20 Jahren. Ein großer, breitschultriger Mensch, der in wenigen Wochen bei der Fußartillerie in Ehrenbreitenstein eintreffen mußte. Es war ein Pantoffelnagler, wie ich in meinem Leben keinen wieder getroffen habe. Zwickzange gab es einfach nicht bei ihm: in seinen Fingern hatte er soviel Gewalt, daß er mit ihnen das Leder straff zog! Dann schlug er niemals zweimal auf eine Klammer. Klammern oder Krampen heißen die Drahthaken, mit denen der Draht, der das Leder an der Holzsohle festhält, befestigt wird. Denzin gab einen Schlag und die Klammer saß fest Er hätte mit Leichtigkeit an einem Tage 100 Paar Pantoffeln nageln können. Manchmal machte er sie auch, manchmal auch nicht. Mittags, er kam stets 1/2 2 Uhr, legte er sich gewöhnlich erst bis 1/2 3 Uhr auf sein Schurzfell und hielt Mittagspause. Und kein Chef sagte ihm etwas! Das war damals noch alles möglich!

An den Montagen wurde damals auch nur selten gearbeitet Mein Vater blieb dann einfach zu Hause, und da ich die letzte Zeit mit ihm zusammenschaffte, konnte ich auch nichts tun. Die andern kegelten gewöhnlich, und wir machten dann manchmal im Schurzfell und Holzpantinen Streifzüge durch die Stadt. Eines Freitags hieß es plötzlich, nächsten Sonntag habe unsere ganze Branche Versammlung im Schützenhaus. Diese sei vom Schuhmacherverband arrangiert und als Redner komme ein Herr Karl Munsch aus Altenburg. Selbstverständlich war ich auch mit zur Stelle, mein Vater, Bauer und alle waren da; namentlich aber aus der großen Schallerschen Fabrik, die vor kurzem einen Neubau bezogen und jetzt zirka 300 Arbeiter beschäftigte, waren zahlreiche Arbeiter erschienen. Ich hatte bis dahin noch nichts von Gewerkschaften gehört. Der Referent legte die Bedeutung derselben klar. Er forderte die Arbeiter auf, nicht mehr dem alten Schlendrian nachzuhängen. Ganz besonders hob er hervor: »Solange der deutsche Arbeiter[164] noch ein Stückchen schlechte Wurst zu fressen hat, ist er zufrieden. Das aber dürfe nicht sein. Schon der große Organisator Ferdinand Lassalle habe gesagt: Eure schlechte Lage kommt nur von Eurer verdammten Bedürfnislosigkeit. Ihr sollt Euren Anteil am Leben fordern.« Das war eine Sprache, die eigentlich noch verlockender für die Arbeiter war, als die sozialdemokratischen Wählerversammlungen, die ich bis dahin hörte. Die Rede zeitigte unmittelbar die Gründung einer Zahlstelle des Vereins deutscher Schuhmacher, der auch ich, mein Vater und Bauer beitraten.

Inzwischen hatte Herr Pohle, unser Chef, eine Vergrößerung seines Betriebes geplant und zu diesem Zwecke die Mühle in Berndorf bei Lucka gekauft. Er wollte die Wasserkraft zur Hölzerschneiderei benutzen und die Handschneiderei, welche er bisher betrieb, aufgeben. Seine Maschinen kaufte er von der Firma Richter in Leipzig. Er brauchte Bandsägen, einen Horizontalgatter, eine Holzschleif- und Tellerfräsmaschine. Wir bekamen schon Hölzer aus dem neuen Betriebe nach Schmölln. Jedoch nur Pantoffelhölzer. Aber zu der Zeit wußte der Chef kaum aus noch ein. Die Arbeit drängte und es mangelte an Schuhhölzern. Er wußte jedoch einen Ausweg. Da wurden die Schnallenstiefel ganz einfach auf solche in Berndorf hergestellte Pantoffelhölzer genagelt. Sie sind alle versandt worden. Ein Fachmann wird das zwar für unmöglich halten, aber wahr ist es doch. Der Herr hat überhaupt einen komischen Charakter. Sein erster Werkführer war ein Brandenburger Namens Menzel, der im Anfang auch gleichzeitig mit reiste. Er war dann 14 Tage auf der Tour und verkaufte da soviel, daß er dann 4 Wochen wieder als Zuschneider zu Hause arbeiten konnte. Mit diesem kam der Chef einmal in Streit und nannte ihn einen Ruinierer und Schwindler. Der Werkmeister aber nannte den Herrn einen Bauersmann. Dann spuckten sie sich gegenseitig an und nach kurzer Zeit waren sie wieder einig. Nach Weihnachten sollte die ganze Fabrik nach Berndorf übersiedeln. Mein Vater hatte aber keine Lust, mit nach jenem Dorfe zu ziehen. Er hatte gehört, daß in Ronneburg eine neue Fabrik eingerichtet würde und fuhr deshalb einmal dorthin. Er wurde auch eingestellt, denn[165] Wilhelm Tismer, den wir von der Versammlung in Meerane her kennen, fungierte als Werkmeister und Brendel war Zuschneider. Außerdem waren noch 2 ehemalige Arbeiter aus der Schallerschen Fabrik da beschäftigt. Schell und Heilmann. Auch mich versprach Tismer einstellen zu wollen. Vorläufig blieb ich aber 14 Tage zu Hause. Mein Vater jedoch fuhr von nun sofort gleich den übrigen erwähnten Kollegen Montags früh nach Ronneburg und Sonnabends zurück. Um Ostern herum sollte dann der Umzug der gesamten Familie stattfinden.

Vierzehn Tage darauf fing auch ich in der Ronneburger Holzschuhfabrik von Thomas und Co. an zu arbeiten. Jetzt nagelte ich nun selbständig Pantoffel, kam aber auch nur auf höchstens 9 Mark die Woche, denn ich bekam nur kleine Nummern und die härtesten Buchenhölzer zu verarbeiten. Diese waren so hart, daß wir sie in heißes Wasser werfen mußten, und trotzdem schlug ich dann 2 bis 3 Klammern krumm, bevor ich eine hineintreiben konnte. Manchmal mußte ich alle Klammern zur Hälfte abkneifen, um sie in das Holz zu bringen; dann klebte der Draht nur so daran, und wenn die Kinder einige Male mit den Pantoffeln umgekippt sind, so ist sicher das Leder ein Stück abgegangen. Hier in Ronneburg war das Schnapstrinken noch mehr in der Mode als in Schmölln. Und die Hauptvertilger waren mehrere aus Schmölln her bekannte Arbeitskollegen. Ich als Jüngster mußte natürlich wieder den Schnaps holen, für einige von ihnen gleich in der Selterswasserflasche. Zum Dank dafür »setzten sie mir manchmal einen Stift«. Das ist eine noch heute bestehende Unsitte. Auf den niedrigen Schemel wird an einer Stelle, wo der Hosenboden Platz nimmt, ein kleiner Drahtstift geschlagen, der so kurz und so spitz als möglich abgekniffen wird. Manchmal vergißt man trotz aller Vorsicht, mit der Hand über den Schemel zu tasten, und setzt sich rasch darauf, um sofort mit einem Schmerzensschrei wie elektrisiert wieder in die Höhe zu schnellen.

Während mein Vater und die andern Schmöllner bei dem Rentier Thieme in der Bergkellergasse logierten, hatte ich mich bei der Witwe Schneider einquartiert. Außer mir logierten noch ein Vizewerkmeister[166] Michaelis und der in der Hölzerschneiderei beschäftigte frühere Weber Friedrich Weise mit mir zusammen. Von dem letzteren wohnte auch noch ein Bruder mit in dem Logis, der aber noch als Weber arbeitete. Diese beiden Brüder tranken jeden Morgen Mehltrank zu ihren Semmeln, der ja auch unstreitig gesünder ist als Kaffee. Es war ganz gemütlich in dem Quartier. Nur die Bodenkammern waren verdammt kalt in jenem Winter. Michaelis legte sich immer nur mit Unterhosen, Strümpfen und der Weste bekleidet ins Bett. Dieser war auch schon verheiratet und hatte 2 Kinder. Seine Familie befand sich jedoch noch in Magdeburg, der Heimatstadt seiner Frau. An den Sonnabenden fuhren wir stets nach Hause und ich war jedesmal froh, wenn wir wieder in Schmölln waren. Denn mir war Ronneburg zuwider, trotzdem stimmte ich zu, mit hinüber zu ziehen. Es kostete ja auch immer doppeltes Geld, diese doppelte Wirtschaft. Mein Vater war dazu noch nicht richtig gesund. Er hatte immer noch mit den Nachwehen der Gelbsucht zu kämpfen und da gehörte mehr Ordnung im Leben dazu. So siedelten wir denn am 3. Osterfeiertag des Jahres 1891 nach Ronneburg über. Es war gleichwohl eine Dummheit; denn in Schmölln war doch immer noch eher Arbeitsgelegenheit vorhanden als in der Weberstadt Ronneburg. Und meiner Mutter graute es jedenfalls ebenso fort als mir. Sie meinte, sie würde nicht lange mehr in Ronneburg am Leben bleiben. In jener Zeit hatte Robert Koch den Tuberkelbazillus entdeckt und seine Lymphe erfunden. Als ich ihr das vorlas, meinte sie, nun werde ich vielleicht auch wieder gesund. Da merkte ich erst, daß sie lungenkrank war. Ich dachte bis dahin, es fehle ihr nur im Magen, denn damit hatte sie sich schon von jeher gequält. Wenn sie einmal etwas mehr aß, so übergab sie sich sofort. Deshalb aß sie so wenig, daß man gar nicht glaubte, es reiche für ein Leben aus. Es ist in der letzten Zeit viel geschrieben worden, daß Papst Leo in seinen letzten Lebensjahren täglich nur 2 Eier und ein Glas Wein zu sich genommen habe; aber meine Mutter hat noch viel weniger gegessen. Wir zogen zu dem Weber Jurascheck, der in Ronneburg als Atheist verschrieen war. Sein Sohn wurde mein Freund.[167]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 162-168.
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