Zur Einleitung

Die vorliegende Lebensgeschichte des Fabrikarbeiters Moritz William Theodor Bromme in Ronneburg-Friedrichshaide erscheint nicht etwa deshalb, weil die in den letzten zwei Jahren veröffentlichten Denkwürdigkeiten und Erinnerungen des Fabrikarbeiters Carl Fischer zu einer literarischen Sensation wurden, und ich nun die Hoffnung hätte, mit dieser zweiten Arbeiterbiographie einen gleichen Effekt zu erzielen. Literarische Sensationen macht man nicht, noch kann man sie im voraus berechnen. Außerdem sind sie etwas sehr schnell Vorübergehendes. Ich verfolge vielmehr mit der Herausgabe auch dieses neuen Werkes einen sehr ernsthaften Zweck, nämlich allgemeine Kenntnis des wirklichen Lebens des heutigen Proletariats, und zwar aus der Feder von Proletariern selbst, so weit und so tief wie möglich zu verbreiten. Mit der Brommeschen Schrift war es mir noch im besonderen darum zu tun, in ihr die Lebensgeschichte eines jüngeren, der heutigen Generation angehörigen, ungelernten Fabrikarbeiters derjenigen des älteren, heute im Aussterben begriffenen Schlages gegenüber zu stellen und so zwischen der Brommeschen und Fischerschen Arbeit zu nachdenklichen Vergleichungen anzuregen. Deshalb habe ich auch für den Titel des vorliegenden Werks das Wort »modern« gewählt. Ich möchte mich deshalb fast entschuldigen, da ich es selber nur ungern gebrauche. Aber bei der angegebenen Absicht des Buches war es kaum zu umgehn, wollte ich dafür nicht sozialdemokratisch sagen, was wohl[5] sinngemäß, aber bei der vielfach noch herrschenden unglaublichen Voreingenommenheit gegen die Sozialdemokratie für die Verbreitung des Buches wahrlich nicht günstig gewesen wäre.

Das Gesamtergebnis eines Vergleichs des Inhalts der Fischerschen und der Brommeschen Schrift scheint mir nun ein über die Maßen niederschlagendes zu sein. Es ist mit einem Worte dies, daß alles in allem das wirtschaftliche und soziale Los des ungelernten Fabrikarbeiters der heutigen Generation in keiner Beziehung irgendwie erheblich besser erscheint als das der zwei vorhergehenden Generationen. Während sich, wie jedes Kind heute weiß, der Reichtum der Unternehmer- und Kapitalistenklasse in den letzten drei Jahrzehnten bei uns in Deutschland ins Riesige vermehrt hat, die Lage der industriellen Beamten und Meister erheblich gesicherter und wohlhabender geworden, ja auch die Lebenshaltung der gelernten Arbeiter wenigstens ein wenig gestiegen ist, sind die Einkommens- und Existenzverhältnisse bei der untersten und zugleich zahlreichsten Schicht der modernen Industriemenschen unverändert die gleich engen und elenden geblieben. Zwar bringen weder Fischer noch Bromme in ihren Werken dafür ein größeres Zahlenmaterial vor, dafür aber Milieuschilderungen ihrer eigenen Lage wie derjenigen ihrer gleichgestellten Lebens- und Leidensgefährten, die mindestens ebenso schlagend sind wie eine reichhaltige und umfassende Statistik. Dieselbe Unsicherheit der Arbeitsgelegenheiten hier wie dort, dieselbe immer neue Lohndrückerei bei beiden, das gleiche Leben von der Hand in den Mund, unter Auspressung der letzten Kräfte des Körpers wie des Geistes, ein Leben gleichsam ohne festen Halt und Boden, ein ewiger Kampf mit den Gespenstern der Krankheit und des Todes, des Hungers und der Gefahr, die gleiche schließliche Wurstigkeit bei den Einen, Verzweiflung bei den Andern, Hingabe an den niedrigsten materiellen Lebenstrott bei den Dritten und Meisten, der gleiche meist unausgesprochene und tief verhaltene, aber unausrottbare Ingrimm über ihr Los bei den Vierten und Besten. Dieselben Gestalten hier wie dort, hier wie dort mit einem sehr charakteristischen Merkmal: daß alle[6] die ungelernten Industriearbeiter, die in den Kleinfabriken der Kleinstädte stehn, einen in ihrer Gesinnung wie Lebensführung nach viel haltloseren, sozusagen derangierteren Eindruck machen, als diejenigen, die in Großbetrieben und größeren Orten arbeiten. Übrigens ein neuer, bisher kaum so zum Ausdruck gekommner Beweis der kulturellen Überlegenheit der modernen Großbetriebe über die industriellen Mittel- und Kleinbetriebe. Was im besondern den persönlichen Lebensgang der beiden Verfasser anlangt, so tritt die Enge und das Elend, zu dem ihr Leben verdammt ist, bei Bromme fast noch schärfer und niederschmetternder zutage, als es bei Fischer der Fall war, obwohl die Darstellung bei ersterem eine viel schlichtere, ich möchte sagen viel weniger pathetische ist, als bei letzterem. Das macht, daß Fischer Junggeselle geblieben ist, während Bromme ein Familienvater von sechs Kindern ist. Von dem gleichen kargen Lohne, mit dem Bromme acht Menschen beköstigen, bekleiden, beherbergen muß, brauchte Fischer nur sich selbst zu erhalten – was Wunder, daß er immer noch eine persönlich erträglichere Existenz hatte als Bromme, wenn man nicht etwa das Junggesellentum selbst als eine besondere Form und Folge sozialer Not dagegen einschätzen will. Die Wirkung ist aber bei beiden schließlich dieselbe: vor der Zeit verbraucht, entkräftet und für die Industriearbeit nicht mehr fähig. Fischer mit etwa 58, Bromme, der Schwindsüchtige, schon mit 33 Jahren.

Nur ein tiefgehender Unterschied findet sich inhaltlich zwischen der Fischerschen und Brommeschen Lebens- und Menschenschilderung: bei jenem tritt die Sozialdemokratie noch fast gar nicht hervor, bei diesem steht sie in immer neu beleuchtetem Vordergrund. Sozialistische Erlebnisse, Gedanken und Interessen, sozialistische Arbeit und Gesinnung durchzieht wie ein – hier gilt also das Wort einmal buchstäblich – roter Faden jedes neue Kapitel des Brommeschen Buches. Man sieht deutlich, welche Bedeutung die sozialistische Weltanschauung für den Verfasser, seine engeren und auch weiteren Freunde und Arbeitsgenossen gewonnen hat: sie ist die geistige Lebenslust, in der sie atmen und ihre schwere[7] Existenz überhaupt noch weiter zu führen den starken Mut haben; sie ist ihnen Allen mehr oder weniger Lebensinhalt, Stecken und Stab, Schwert und Harnisch, Ideal und Wirklichkeit. Schließlich auch das Spalier, an dem sich auch die übrigen allgemeinen Bildungs- und insbesondere schöngeistigen und literarischen Interessen Brommes und seiner nächsten Freunde emporranken. Bei Bromme selbst kann man die Einwirkung der sozialistischen Gedankenwelt von einem Entwicklungsstadium zum andern mit fast mathematischer Genauigkeit angeben: die ersten Einflüsse durch den Vater, einen offenbar geistig sehr regen und tatkräftigen Mann, mit Hülfe eines sozialistischen Bilderbuchs, sozialdemokratischer Zeitungen und Kalender, sozialistischer Unterhaltungen und Exkursionen. Sodann die Wahlzeiten, die Höhnereien von Schulkameraden, Gespräche in den Fabriken. Schließlich die Lektüre Lassallescher Schriften und ähnlicher schwerer aber grundlegender geistiger Kost. Damit ist dann bei ihm mit einem Schlage aller Theaterfexerei, Jünglingsvereinsmeierei, allen Schundromanneigungen und militärischen Schwärmereien ein Ende gemacht, der geistige Zuschnitt des künftigen Mannes gegeben, und alles weitere folgt von selbst: leidenschaftliche Anteilnahme an Versammlungen und politischer Arbeit, an Gewerkschafts- und Konsumvereinsbewegung, schließlich Mitarbeit an parteipolitischen Blättern: das elende, gedrückte Leben dieses regen Geistes hat einen tiefen, dauernden, geistigen Inhalt bekommen, Richtung, Zweck und Ziel. Und wie bei ihm, so bei seinen gleichgearteten Freunden: er wie sie sind prädestinierte Sozialdemokraten. Und wer ja noch hoffen wollte, die heutigen Arbeitermassen der Sozialdemokratie abspenstig zu machen, der sehe sich die wirtschaftliche Lage, Entwicklung und Gesinnung eines Bromme und seiner Freunde an, die die Typen des modernen Fabrikproletariers bester Qualität sind –– um alle derartigen Hoffnungen für immer begraben zu können. Die Sozialdemokratie ist ihnen ein und alles, und darum sind auch sie wieder die festen Wurzeln, mit denen sich diese Bewegung in den Mutterboden des Volkes eingewachsen hat. Denn sie sind ihrerseits die lokalen geistigen Führer für die[8] übrige Masse, deren Glieder vielleicht weniger begabt, weniger rührig, weniger weitblickend, weniger öffentlich interessiert, weniger politisch selbständig sind, die aber gerade deshalb ganz selbstverständlich sich der Führung dieser Männer unterordnen, da sie instinktiv fühlen, daß alles, was diese tun und lassen, dichten und trachten, reden und schreiben, nicht nur in jener, sondern ebenso auch in ihrer eigenem Interesse geschieht, daß sie Fleisch von ihrem Fleische, Bein von ihrem Beine sind. Ich schreibe das alles hier, nicht um eine, in diesem Zusammenhange übrigens gänzlich zwecklose Lobrede auf meine Partei zu halten, sondern um an der Hand eines sehr schlagenden und zugleich sehr neuartigen Materials einen organischen politischen Prozeß aufzuweisen, der, eben weil er organisch, auch unaufhaltsam ist und schließlich nicht nur Arbeiter, sondern alle nicht kapitalistischen Massen ergreifen muß.

Aber nicht nur der Inhalt, auch die Form der Darstellung fordert zu Vergleichen zwischen den zwei Fischerschen Bänden und dem Brommeschen Buch heraus. Während nun inhaltlich das Resultat hier wie dort fast das gleiche, und nur in einem eben dargelegten wichtigen Punkte stark verändert ist, so ist die Darstellung bei beiden eine desto verschiedenere. Es ist nicht zu leugnen, daß auf den ersten Blick und namentlich in den Anfangskapiteln das neue Werk formell von den Fischerschen Schilderungen überragt wird. Und wenn sich auch die Brommesche Biographie von Kapitel zu Kapitel an Lebhaftigkeit, Eindringlichkeit und Kraft der Schilderung steigert, so daß man auch ihr gegenüber fast die Empfindung hat, als entwickele sich vor einem ein ganz merkwürdiges, freilich sehr zurückhaltend gezeichnetes Drama, so bleibt trotzalledem als Endurteil: daß Fischer der größere Darsteller und Schilderer von beiden ist. Das macht einmal, daß dieser ein stark dichterisch, Bromme dagegen ein rein schriftstellerisch veranlagter Kopf ist. Aber es liegt andrerseits ebensosehr an den sehr verschiedenen Umständen, unter denen beide ihre Arbeit geschrieben haben. Fischer als fast Sechzigjähriger, der seine Arbeit als Fabrikarbeiter abgeschlossen, und[9] nun rückblickend sie und alle Erlebnisse in ihr als ein organisches Ganze überschauen konnte, der, bei nahen Verwandten in einer Kleinstadt freundlich und verhältnismäßig behaglich untergebracht, Jahre der Muße hatte, sein Werk, wenn auch mit geschwächten körperlichen Kräften, zu betreiben und zu vollenden. Im Gegensatz dazu Bromme, erst ein mittlerer Dreißiger, mitten im Fluß des proletarischen Lebens stehend, täglich im bittern Kampfe um die Existenz ringend, von früh bis abends in der Fabrik, mit mancherlei sozialistischen Ämtern betraut, lungenkrank, nur karg genährt, nur die Nachtstunden als Arbeitszeit für die Schriftstellerei zur Verfügung, in engster Wohnung, während die Frau noch bei ihrer erbärmlichen Hausarbeit frondete, müde und abgespannt – so hat er wenigstens die erste größere Hälfte seiner Arbeit niederschreiben können, also nur unter Bedingungen, die die denkbar ungünstigsten waren. Und wenn er für die Abfassung der zweiten Hälfte auch die Zeit in der Lungenheilanstalt hatte, so mußte er doch auch da die Kraft dazu seiner geschwächten, so sehr der Pflege bedürftigen Gesundheit abringen. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet ist sein Buch eine geradezu staunenswerte Leistung, die sich sehr wohl neben der Fischerschen sehen lassen kann. Dabei muß noch hervorgehoben werden, daß auch sie in ihrer Darstellung einen durchaus einheitlichen und eigenartigen Charakter aufweist. Zwar wird ganz schlicht nur Bild neben Bild, Erlebnis neben Erlebnis, Stimmung neben Stimmung gereiht, aber diese Zusammenreihung selbst ergibt als Ganzes ein Mosaikbild großen und tiefwirkenden Inhalts, von bleibender kulturgeschichtlicher, wenn auch nicht, wie zugleich bei Fischer, ästhetischer Bedeutung.

Zum Schluß muß ich noch einige Bemerkungen über den Umfang der von mir ausgeführten Redaktion des ursprünglichen Brommeschen Manuskripts machen. Ich hatte seinerzeit Herrn Bromme zur Abfassung der Arbeit aufgefordert mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß er aus seiner Erinnerung heraus alles ihm wichtig Erscheinende so niederschreiben möchte, wie es ihm in die Feder fließen würde. Die ganze Redaktion würde ich dann besorgen.[10] Zugleich hatte ich ihm ein Exemplar der Fischerschen Denkwürdigkeiten zur vorherigen Lektüre und eventuellen Beachtung zur Verfügung gestellt. Darauf erhielt ich dann ein sehr ausführliches Manuskript, schon in Kapitel und Abschnitte planmäßig eingeteilt. Von diesem Manuskript habe ich nun mit seiner Zustimmung etwa ein Drittel des Gesamtumfangs gestrichen, teils ganze Kapitel und Abschnitte, teils und noch mehr einzelne ganze, halbe und viertel Seiten. Und zwar alles das, was mir nebensächlich, unbedeutend, überflüssig und zu dem Zweck, der verfolgt wurde, nicht gehörig schien, außerdem Wiederholungen, Weitschweifigkeiten und einzelne Geschichten oder Mitteilungen, die geeignet waren, gegenwärtig noch Lebende irgendwie zu verletzen. Demzufolge habe ich z. B. aus dem Kapitel: In der Lungenheilanstalt alles beseitigt, was sich nur als eine Kritik der Anstalt herausstellte; denn einmal gehörte das kaum hierher, andrerseits war es auch vielfach zu sehr ins einzelne und kleine gehend. Ferner habe ich ein ganzes Kapitel über Konsumvereinsgründung ausgeschlossen; das kann anderswo ein mal besser verwertet werden. Sodann die Schilderungen von Spaziergängen, von allerhand alltäglichen Vorgängen im Fabrik- und Parteileben, Knabengeschichten, wie sie jeder Junge aller Stände zu erleben pflegt, und ähnliches. Gleichwohl glaube ich nichts wesentliches beseitigt oder durch diese Weglassungen das ganze Bild gefälscht oder übermalt zu haben. Kaum daß ich retuschiert habe. Jedenfalls habe ich nur das mit dem Manuskript getan, was jeder geübtere Schriftsteller an seinen Arbeiten stets selbst vornimmt. An den so entstandenen Lücken habe ich dann, natürlich nur soweit es unbedingt nötig war, einige verbindende Worte, selten einmal einen ganzen oder gar anderthalben Satz eingeschoben – im übrigen ist der ganze Stil durchaus brommisch. Sehr zahlreich habe ich allerdings auch die Namen der in der Arbeit vorkommenden Personen geändert, um allen Kompromittierungen und Klagen aus dem Wege zu gehn. Nur die Hauptpersonen haben, da Änderungen hier zwecklos, unausführbar und verwirrend gewesen wären, ihren wirklichen Namen behalten.[11]

Da in dem Buche auch das Geschlechtliche stellenweise mit großer Offenheit und Ehrlichkeit erörtert oder gestreift wird, so warne ich ausdrücklich davor, es Kindern – kleinen wie großen – in die Hand zu geben.

Und endlich noch eins: auch Herr Bromme hat mir, wie Herr Fischer, versichert, daß alles, was er geschildert hat, auf lauterer Wahrheit beruhe.


Berlin-Zehlendorf, am 18. Oktober 1905


Paul Göhre[12]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971.
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