die Kinder

[59] die erste Sorge der Mutter, die Pflege, die Erziehung derselben ihr heiligster Beruf. Ein Gottessegen werden sie genannt vor anderen Gaben; aber von den Empfängern, den Eltern, hängt es zum großen Teil ab, ob sie wirklich zum Segen werden.

Was die körperliche Pflege der Kleinen anbetrifft, so ist dieselbe natürlich von größter Wichtigkeit, und keine Frau sollte versäumen, sich sorgfältig darüber zu unterrichten. Auch wenn die ersten, gefährlichsten Jahre glücklich vorüber sind und das Lernen für das Kind beginnt, sollte die Sorge für sein körperliches Gedeihen nicht nachlassen. Mens sana in corpore sano! Mit Freuden begrüßen wir deshalb die Bewegung, die sich bei uns seit kurzem kundgibt, in Schule und Haus mehr Rücksicht auf die Gesundheit zu nehmen, als dies bisher der Fall war. Im Hause geschieht dies am besten durch eine regelmäßige, einfache, den Bedürfnissen des Kindes entsprechende Lebensweise, sowie durch die sorgfältigste Reinlichkeit. In ersterer Beziehung warnen wir besonders davor, den Kindern viele Süßigkeiten zu geben oder zu erlauben, daß Fremde es thun. Man ist geneigt, wenn Kinder zu uns kommen, sie mit Konfekt zu füttern; lehnen sie es dann aber ab mit dem Bemerken, Mama habe verboten, daß sie dergleichen äßen, so denken wir unwillkürlich: die haben eine vernünftige Mutter, womit wir uns selbst das Zeugnis als unvernünftig ausstellen.

Ebenso scheint es uns schädlich, daß die Kinder ihr Abendbrot meist mit den Eltern einnehmen, also selten vor acht Uhr, und oft aus Speisen bestehend, die ihnen nicht[59] zuträglich sind. Ein frühes leichtes Abendbrot ist ihnen unendlich gesünder; es bleibt dann noch Zeit, die Mahlzeit zu verdauen, statt daß sie sich mit vollem Magen zu Bett legen und infolge dessen weniger gut schlafen.

Was in dem Kapitel über die Pflege des Körpers vom Baden und dergleichen gesagt ist, bezieht sich natürlich auch auf die Kinder. Ueberhaupt haben sie stets rein und nett zu erscheinen; aber nicht übermäßig geputzt! Es ist bedauerlich, zu sehen, welche Karikaturen die Eltern oft aus ihnen machen. Wie sie auf den Promenaden umhergehen: in ungebührlich, ja oft unanständig kurzen, aber mit Stickereien und Schleifen überladenen Kleidern, in lächerlich großen Federhüten, die kleinen Hände in Glacéhandschuhe gezwängt, zuweilen schon mit Schmuck behängt, machen sie den Eindruck kleiner Zierpuppen – um keinen schlimmeren Vergleich zu gebrauchen! – die, aller Kindlichkeit bar, nur als Modebild dienen können. Was Wunder dann, wenn aus der Zierpuppe später eine eitle Modedame oder ein affektierter Geck erwächst, die für nichts als Aeußerlichkeiten Interesse haben!

Daß die erwähnten Balleteusenkleider, welche die unteren Glieder der Kinder unbeschützt lassen, gesundheitsschädlich sind und, von Mädchen getragen (oft bis zu sieben und neun Jahren!), ihr Zartgefühl gefährden, sei hier noch besonders betont.

Gehen wir nun auf die Erziehung der Kinder über, so ist es nicht möglich, diese hochwichtige Frage, ebensowenig wie die der Körperpflege, hier gründlich zu besprechen; wir müßten dann statt eines Kapitels ein Buch darüber schreiben. Auch handelt es sich in diesen Blättern ja nicht um die Geistes- und Charakterbildung der Menschen selbst, sondern um die Form, in welcher Geist und Charakter sich im Verkehr mit anderen Menschen darlegen. Da nun aber[60] Kinder noch nicht oder doch nicht in dem Maße wie Erwachsene die traurige Kunst erlernt haben, eine Form zu zeigen, die dem Inhalt nicht entspricht, etwas zu scheinen, was sie nicht sind, so ist ihre Beurteilung leichter, ja der scharfsichtige Gast wird nicht sehr irre gehen, wenn er von ihnen auf die Eltern schließt, denn


Wie die Alten sungen,

So zwitschern auch die Jungen!


Treten wir also in ein fremdes Haus ein und haben, während wir auf das Erscheinen der Eltern warten, Gelegenheit, mit den Kindern zu verkehren, so können wir aus den Produkten der Erziehung die Erzieher schon ein wenig kennen lernen. Da finden wir denn oft die wunderlichsten Wesen: jene eben beschriebenen Zierpüppchen, die uns auf ihr hübsches Kleid aufmerksam machen und unsere Toilette ihrer kindlichen Kritik unterwerfen; kleine Knaben, die sich augenblicklich unseres Stockes oder Schirmes bemächtigen, um darauf zu reiten; altkluge Kinder, die versuchen, Konversation zu machen, wie sie das von Mama gehört haben; zudringliche Kinder, die uns gleich, »beonkeln« oder »betanten« und auf unserem Schoß zu sitzen verlangen; oder aber scheue, mürrische Kinder, aus denen kein Wort herauszubekommen ist, die in gemessener Entfernung von uns stehen bleiben und uns anglotzen wie ein nie gesehenes Wundertier. Die ersteren Sorten sind heutzutage mehr vertreten als die letzte, beide Extreme aber sind Zeugnisse schlechter Erziehung.

Kinder sollten gelehrt werden, Fremde mit freundlicher Höflichkeit, aber ohne Zudringlichkeit zu empfangen. Der Knabe grüßt durch Neigen des Kopfes, das Mädchen durch einen Knix. Die Fragen, welche an sie gerichtet werden, haben sie artig zu beantworten, dürfen aber nicht selbst[61] welche stellen oder sich gar persönliche Bemerkungen erlauben. Es klingt zwar recht naiv, wenn ein Kind zu einem kahlköpfigen Herrn sagt: »Warum hast du denn keine Haare?« oder zu einer verwachsenen Dame: »Was hast du denn da auf dem Rücken?« aber die Gefragten wie alle Anwesenden geraten dadurch in die tödlichste Verlegenheit. Man sollte nie versäumen, Kindern, die ja auch in solchen Dingen meist recht klug und gelehrig sind, das Unpassende derartiger Fragen begreiflich zu machen.

Auch eine andere Naivetät, die wir schon erwähnten, das unterschiedslose »beonkeln« und »betanten« aller Fremden, halten wir für unberechtigt. Es sind meist die Wärterinnen, die den Kindern dies angewöhnen; man sollte es ihnen verbieten. Denn einerseits widerspricht dieser Gebrauch der Wahrheit und macht die Kinder später, wenn das verwandtschaftliche Verhältnis aufhören soll, verwirrt; anderseits ist die allzu vertrauliche Anrede den Fremden durchaus nicht immer angenehm, während die wirklichen Onkel und Tanten sich dadurch in ihren Rechten beeinträchtigt fühlen. Auch das Duzen der Fremden sollte den Kindern vom sechsten oder siebten Jahre an untersagt werden.

Eine ziemlich allgemein verbreitete Gewohnheit ist es, Kinder um, »ein Händchen, ein Küßchen« zu bitten. Man redet ihnen, wenn sie sich verdrießlich abwenden, zu, gibt ihnen die besten Worte, so daß sie natürlich die Idee bekommen, als sei eine derartige Liebkosung eine große Gunstbezeigung ihrerseits. Jedes pädagogisch fühlende Hetz wird über solche Verkehrtheit ergrimmen. Man sollte in solchen Fällen sagen: »Nein, einem so unartigen Kinde gebe ich keinen Kuß, gebe ich meine Hand nicht,« um ihm begreiflich zu machen, daß es die Gunst empfängt, nicht erteilt. Auch hier sind die Wärterinnen meist die Schuldigen; man kann[62] deshalb gar nicht vorsichtig genug sein, wem man sein Kind für so viele Stunden des Tages anvertraut.

Sehr verkehrt ist es ferner, Kinder, ob größere oder kleine, an den Gesellschaften der Erwachsenen teilnehmen zu lassen. Beide Teile, die Gäste wie die Kinder, leiden darunter. Sind es größere, etwa im Alter von zehn bis vierzehn Jahren stehend, so muß man mit der Unterhaltung Rücksicht auf sie nehmen, darf nichts berühren, was für Kinderohren nicht paßt oder das Wiedererzählen nicht vertragen kann; oder aber die Kinder – welche bekanntlich sehr offene Ohren haben, wo es Dinge betrifft, die nicht für sie bestimmt sind – lauschen begierig den Besprechungen von Ereignissen und Zuständen, die außerhalb ihrer Welt liegen und von denen sie noch nichts wissen sollten. Ja, selbst bei einem harmlosen Scherz ist es störend, wenn die Kinder, welche die Pointe nicht verstanden, mitlachen, weil sie die anderen lachen sehen, oder gar um Erklärung des ihnen Unverständlichen bitten. Ein solches Einmischen in die Unterhaltung Erwachsener, dies Fragen: »Was habt ihr gesagt?« »Warum lacht ihr?« ist eine sehr häufige und sehr zu tadelnde Unart halbwüchsiger Kinder.

Ebensowenig sind die kleinen Kinder in den geselligen Zusammenkünften am Platz. Häufig werden sie bei solchen Gelegenheiten eben nur produziert: im schönsten Putz erscheinen sie dann, um sich von den Gästen liebkosen und bewundern zu lassen. Die kecke Antwort wird belacht, der Vorwitz ermutigt; und ist das kleine Wesen imstande, ein Verschen aufzusagen oder ein Stückchen auf dem Klavier zu spielen, so muß die ganze Gesellschaft die unerhörte Leistung entgegennehmen und dem Wunderkinde applaudieren! Ja, nicht selten erzählt die entzückte Mutter wohl gar in Gegenwart des Kindes von seinen Heldenthaten, seinen klugen Antworten! ... Ein fünfjähriges Mädchen,[63] das auf kurze Zeit die Gesellschaft verlassen hatte, fragte mich einmal bei ihrer Rückkehr, was man indessen von ihr gesprochen habe? Ist es da zu verwundern, wenn die Kinder eitel und eingebildet werden, wenn sie ihre angeborene und so reizende Natürlichkeit früh verlieren und statt dessen ein gemachtes, berechnetes, affektiertes Wesen annehmen?

Und wie peinlich ist es für die Gäste, wenn die Kleinen dann, aufgeregt und übermüde wie sie sind, auch ihre Unarten zum besten geben: wenn die Mutter vergebens mahnt, daß es jetzt Zeit sei, zu Bett zu gehen, die Wärterin in der Thür sie vergebens mit Bitten und Schmeicheln fortzulocken sucht und der Vater schließlich einen Machtspruch thun muß, worauf das »süße Geschöpfchen« dann strampelnd und heulend fortgetragen wird! ... Möchten doch die Eltern, statt vorzeitig kluge und interessante Kinder zu wünschen, nur dahin streben, gesunde und gehorsame Kinder zu haben!

Gerade der Gehorsam aber ist es, der in der heutigen Erziehung so oft fehlt. Die Schwäche der Eltern trägt meist die Schuld daran. Sie können dem Liebling nichts abschlagen, sich nicht entschließen, seine Unarten zu strafen. Die Mama droht wohl: »Wenn du das nicht lässest, so gibt's was!« aber der kluge Schelm weiß schon, daß dies unbestimmte, »was« nicht zur Ausführung kommt. Oder sie beruft sich auf den Papa: »Ich werde es ihm erzählen und dann bekommst du Schläge!« Aber bis der Papa nach Hause kommt, ist die Sache vergessen, und es wäre auch ganz falsch, eine Strafe »kalt zu stellen« und sie zu erteilen, wenn das Kind längst wieder artig ist. Auf diese Weise werden alle bösen Keime in dem Kinde entwickelt und kleine Tyrannen erzogen, die oft das ganze Haus regieren. Da haben denn Dienstboten, Lehrer, Angehörige und Fremde darunter zu leiden, am meisten aber die Kinder selbst; denn[64] wenn das Leben erst ihnen den Gehorsam, die Unterordnung lehren muß, welche die Verhältnisse von jedem Menschen verlangen, so ist es eine harte Schule, die sie durchzumachen haben!

Ein fast noch schlimmerer Mangel bei der Kindererziehung ist der der Wahrheitsliebe. Sie, die Kardinaltugend par excellence, die Grundlage eines ehrenhaften Charakters, sollte wie der seine Duft einer Blume die Atmosphäre jedes Hauses durchziehen, alle seine Angehörigen durchdringend. Leider aber ist das nur selten der Fall. Man setzt die Unwahrheit bei den Kindern schon voraus, man fragt: »Ist das auch wahr?« statt daß man ihnen die Lüge als etwas so Verwerfliches, so Feiges und Niedriges darstellen sollte, daß sie sich schämen müßten, sie über die Lippen zu bringen. Andere kleine Vergehen: das Zerbrechen einer Vase, eine Vergeßlichkeit, sollte man milde bestrafen, vorausgesetzt, daß das Kind es gleich eingesteht. Es muß wissen, daß offenes Bekennen jeden Fehler verringert, daß aber Leugnen, Lügen der schlimmste und strafwürdigste aller Fehler ist.

In keinem Lande habe ich Wahrheitsliebe unter den Kindern so allgemein gefunden wie in England. Das ganze Erziehungssystem beruht darauf. Eine kleine Engländerin, welche in Deutschland lebte, war einmal höchlich entrüstet, als man in der Schule eine schriftliche Entschuldigung wegen einer Versäumnis verlangte. Daß ihre einfache Erklärung, sie sei an dem Tage krank gewesen, nicht genügte, empfand sie als eine schwere Beleidigung. Selbst sehr ungezogene, zu allen bösen Streichen aufgelegte Knaben habe ich nie ihre Missethat, wenn sie entdeckt wurde, leugnen hören; zum Lügen waren sie zu stolz.

Möchten wir diesen so segensreichen Stolz auch unseren Kindern einflößen![65]

In Bezug auf den Verkehr mit älteren Personen sollte man den Kindern jene Ehrfurcht vor dem Alter einprägen, die der Jugend zum schönsten Schmucke dient, aber leider heutzutage nur selten zu finden ist. Die Geringschätzung, mit welcher schon unsere Quartaner oft von ihren »Alten« sprechen, ist ein trauriges Zeichen der Zeit. Wahrlich, wenn man sieht, wie in manchen Häusern die Kinder die erste Rolle spielen, wie sie den Eltern widersprechen, sie wohl gar zurechtweisen, dann bekommt das bekannte Scherzwort: »Was haben die Kinder jetzt mit den Eltern auszustehen!« eine schlimme, sarkastische Bedeutung. Fremden gegenüber nehmen sie sich schon mehr zusammen; aber da versäumen sie häufig jene kleinen Aufmerksamkeiten, jene Dienstfertigkeit, die so angenehm berührt. Einer Dame einen Shawl, ein Paket abzunehmen, ihr eine Fußbank zu bringen, etwas Hingefallenes aufzuheben und dergleichen kleine Dienste zu leisten, sollte jedem Kinde zur Gewohnheit gemacht werden.

Im Verkehr der Geschwister untereinander ist die erste Tugend die Verträglichkeit. Auch darin, wie in allem Gutem, haben die Eltern das Beispiel zu geben. Herrscht zwischen ihnen der Geist des Friedens, üben sie Nachsicht gegen des anderen Schwächen, so werden auch die Kinder sich leichter vertragen, während das Streiten und Disputieren der Eltern ein nur zu reges Echo bei ihnen findet. Aber selbst die bestharmonierenden Gatten haben oft streitsüchtige Kinder. Schon auf der Flur tönt da dem Fremden Weinen und Geschrei entgegen. »Der Karl hat mich geschlagen!« »Die Anna hat mir mein Buch fortgenommen!« mit solchen und ähnlichen Klagen kommt eins nach dem anderen zur Mama gelaufen, sie in ihrer Arbeit oder gar im Gespräch mit dem Besuch störend. Da sucht sie denn das Weinende mit einem Kuß zu beruhigen, bringt[66] das andere durch eine energische Handbewegung zum Weinen und schickt beide fort mit dem Befehl, sich zu vertragen, der natürlich nicht fünf Minuten befolgt wird.

Nein, nicht durch Küsse und Ohrfeigen ist Verträglichkeit zu erzwingen, auch nicht durch lange Auseinandersetzungen und Moralpredigten. Man pflege vor allem die Liebe unter den Geschwistern, so daß solche Streitigkeiten nicht oft vorkommen; geschieht es aber doch einmal (wie das bei den artigsten Kindern nicht zu vermeiden ist), so lege man sie mit Ruhe und Sanftmut bei. Die Kinder müssen wissen, daß es häßlich ist, einander zu verklagen, daß der Kläger wie der Verklagte bestraft wird des Unfriedens halber, vielleicht indem man das streitige Objekt beiden entzieht; sie müssen wissen, daß ihr Streit die Eltern betrübt, und so, aus Liebe zu ihnen und zu dem mitleidenden Brüderchen oder Schwesterchen, werden sie sich leicht versöhnen lassen.

Natürlich erwartet man von den älteren Geschwistern Nachgiebigkeit gegen die jüngeren, sollte sie auch von dem Knaben dem Mädchen gegenüber erwarten. Jene Zuvorkommenheit und Dienstfertigkeit, welche wir von allen Kindern verlangten, sollte besonders dem Knaben zur Pflicht gemacht werden, und zwar nicht nur in Bezug auf das Alter, sondern hinsichtlich des ganzen weiblichen Geschlechts, die eigenen Schwestern mit einbegriffen.

Ich kann nicht umhin, hier abermals einen Vergleich mit England anzustellen, wo die Brüder es als ihre Pflicht betrachten, den Schwestern hilfreich zu sein. Sie sind es, welche die gemeinsam benutzten Bücher, das gemeinsam benutzte Spielzeug wegräumen; die Bestellung übernehmen, welche, »eins von den Kindern« ausführen soll; bei Spaziergängen die Reservetücher und Schirme, die Proviantkörbe tragen und nachher den Inhalt derselben herumreichen und[67] die Gäste bedienen. So lernt der Knabe früh jene Ritterlichkeit gegen das weibliche Geschlecht, die den Mann so wohl kleidet, und zugleich gewöhnt er sich dadurch, an die Bedürfnisse anderer zu denken, auf sie Rücksicht zu nehmen – eine Gewohnheit, die den natürlichen männlichen Egoismus in ersprießlicher Weise einschränkt.

Dieser Egoismus aber wird bei uns geradezu genährt. »Räume deinem Bruder die Sachen fort,« – »hole ihm seine Schulbücher,« – »trage seinen Ueberzieher in die Küche, das Mädchen soll ihn tüchtig abbürsten,« – solche und ähnliche Anforderungen werden fortwährend an die Schwestern gestellt, und damit die Vorstellung in dem Knaben großgezogen, daß jene nur dazu da seien, ihn zu bedienen. Mag sich die junge Frau dann nicht wundern, wenn der Herr Gemahl nur an seine Bedürfnisse, an sein Behagen denkt und stetes Bedienen von ihr verlangt – er ist das so gewohnt! Gewiß: »Dienen lerne das Weib nach seiner Bestimmung,« – wir bestreiten das durchaus nicht; die Frau wird, auch in reichen Verhältnissen, stets die erste Dienerin ihres Hauses, ihrer Angehörigen sein. Aber diese kleinen äußeren Dienste leiste der Mann der Frau; sie ehren ihn, wie sie sie erfreuen, sie bilden einen Hauptreiz des Familien- wie des geselligen Lebens, und da auch in dieser Beziehung Hans nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, so sollte man unsere lieben »Hänschen« recht früh unterweisen, zuvorkommend und dienstfertig gegen unsere »Gretchen« zu sein!

Doch gar bald kommt die Zeit, wo sowohl Hans wie Grete die Schule besuchen müssen und die Eltern unter den mannigfaltigen Anstalten, die sich da bieten, zu wählen haben. Auch bei dieser Gelegenheit macht sich das schon gerügte, »Strebertum« oft geltend. Daß die Eltern ihren Kindern eine gute Bildung zu geben wünschen, daß sie für[68] sie in der Beziehung Höheres erstreben, als sie selbst erreicht haben, ist nicht nur begreiflich, sondern lobenswert; daß aber der Handwerker seinen Sohn auf das Gymnasium schickt und durchaus zum Gelehrten machen will, ohne daß der Knabe hervorragende Talente für diesen Beruf hätte; daß dem Krämer die einfache Mädchenschule für sein Töchterchen zu schlecht ist und er sie die höhere Töchterschule besuchen läßt – das ist verkehrt und schädlich. Die Erziehung, welche die Kinder in jenen Schulen erhalten, stimmt nicht mit der häuslichen überein; die Genossen, mit denen sie dort verkehren, stehen ihrer Lebenssphäre fern; sie werden entweder von ihnen über die Achsel angesehen und fühlen sich dadurch unglücklich, oder man nimmt sie in die vornehmen Kreise auf, und dann gewöhnen sie sich an Umgebungen, an Bedürfnisse, die ihr Heim ihnen nicht bietet und die sie dort schmerzlich vermissen. Gute Schulen existieren ja gottlob! bei uns für alle Klassen der Gesellschaft; so wird es den Eltern nicht schwer werden, eine solche zu finden, die für ihre Lebensstellung paßt und von der aus ihre Kinder, wenn sie das Zeug dazu in sich haben, eine höhere Sprosse der gesellschaftlichen Leiter erklimmen können, ohne sie der Gefahr der Halbbildung auszusetzen, die sie für den eigenen wie für einen höheren Stand untüchtig macht.

Solange die Kinder die Schule besuchen, werden die Eltern selbstverständlich darauf sehen, daß sie ihre daraus erwachsenden Pflichten treulich erfüllen, dem Unterricht regelmäßig beiwohnen und weder diesen noch auch die häuslichen Arbeiten wegen eines Vergnügens vernachlässigen. Jene Anstalten können nur dann so ersprießlich wirken, wie sie sollten und möchten, wenn das Haus sie unterstützt. Deshalb werden Eltern, denen die Erziehung ihrer Kinder am Herzen liegt, sich mit den Lehrern resp. Lehrerinnen[69] derselben in Verbindung setzen, und wie sie selbst ihnen stets mit Hochachtung begegnen, es auch niemals dulden, daß ihre Kinder in anderer Weise von ihnen sprechen, oder gar den letzteren recht geben, wenn diese sich über die Strenge des Lehrers, über eine Strafe oder dergleichen beklagen.

Ehe wir nun die Kinder auf ihrem Lebenswege weiter verfolgen, wollen wir das Leben im Hause betrachten, wie es sich anschließt an


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 59-70.
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