Erste Wahrnehmung.

[266] Der Mensch, so wie er aus der Hand des Schöpfers kam und noch täglich kommt, ist in der That ein gut-artiges Geschöpf. Dieser, eben so wahre als menschenfreundliche Satz muß die Grundlage aller von dir zu erwerbenden Menschenkenntniß sein, so wie es der entschiedene Ausfall der meinigen ist.

Der Mensch ist gut-artig von Natur; das heißt zuvörderst: alle seine ursprünglichen Anlagen, Fähigkeiten, Kräfte und Triebe sind in ihrer Quelle[266] rein und mit keinem sittlichen Bösen vermischt; sie zwecken vielmehr alle, ohne Ausnahme, auf etwas recht Gutes, auf Beglückung des einzelnen Menschen und anderer mit ihm verbundener Wesen ab.

Der Mensch ist gut-artig von Natur; das heißt also auch zweitens: er will das Böse nie um des Bösen willen, sondern wenn er es will, so geschieht es, theils aus Unwissenheit und Kurzsichtigkeit, indem er das, was böse ist, für etwas Gutes ansieht, weil er die Folgen davon verkennt, theils aus Gedankenlosigkeit und Uebereilung, indem der Strom des Lebens ihn zu Handlungen fortreißt, bevor er Zeit hatte zu überlegen, ob das, was er thun wollte, gut oder böse wäre; theils aus Verwöhnung, indem er in den Jahren der Kindheit und der Jugend, also bevor er denken und überlegen konnte, gewisse Handlungsweisen annahm, die er nachher, wenn er ihre Schädlichkeit erkennt, wieder abzulegen, sich oft umsonst bemüht.

Der Mensch ist gut-artig von Natur; das heißt denn also auch drittens: er strebt nur nach Wohlsein und Vergnügen, und könnte er diese Absicht jedesmahl durch Beglückung Anderer erreichen, so würde man ihn bereit sehen, alles um sich her zu beseligen und niemand zu kränken. Daß er das Letzte dennoch häufig thut, daß er sein eigenes Vergnügen[267] oft auf Anderer Mißvergnügen, seine eigene Glückseligkeit oft auf die Trümmer des Wohlseins anderer Wesen zu gründen nicht erröthet, das kommt nicht daher, weil das Kränken, Quälen und Martern ihm Vergnügen macht, sondern lediglich daher, weil er seinen Zweck – den zu genießen – nicht anders erreichen zu können glaubt; also daher, weil er oft kurzsichtig und dumm genug ist, um nicht einzusehn, daß sein eigenes besonderes Wohl mit der allgemeinen Glückseligkeit durch unzerreißbare Bande zusammenhängt, und daß Jeder in eben dem Maße für sein eigenes wahres und dauerhaftes Vergnügen sorgt, in welchem er das Vergnügen und das Wohlsein Anderer zu befördern sucht. Diese große, dem beobachtenden Weisen so handgreifliche Wahrheit – der Grundstein seiner Ueberzeugung von dem Dasein eines liebevollen Gottes – liegt für den blöden Seelenblick des Alltagsmenschen zu hoch; er vermag es nicht, sich ihrer zu bemächtigen, und sie kann also auch nicht zur Richtschnur seiner Handlungen werden. Er wird daher selbsüchtig, neidisch, ungerecht und boshaft, weil er zu blödsichtig ist, um einzusehn, daß er aus Selbstliebe wohlwollend, mild, gerecht und wohlthätig sein müßte.

Woher ich aber wisse, fragst du mich, daß der Mensch ursprünglich so, wie ich eben sagte, nicht aber so geartet sei, wie schlechte Menschen-erzieher, zur Beschönigung ihres Unvermögens oder ihrer Trägheit,[268] ihn uns zu schildern pflegen? Aus mehr als Einem Grunde. Zuvörderst aus vielfältigen Beobachtungen über die unverderbte Menschheit in solchen Kindern, an denen man die reine Natur noch nicht durch mißverstandene Kunst verwischt oder durch unvernünftige Behandlungsarten noch nicht verunstaltet hatte; dann aus der Auflösung aller menschlichen Thorheiten und Laster in ihren einfachen Urstoff, welcher bei genauer Prüfung immer gut befunden wird; endlich aus dem Glauben an einen eben so mächtigen, als weisen und gütigen Urheber unsers Daseins, welcher die eine oder die andere von diesen göttlichen Eigenschaften erst hätte ablegen oder verläugnen müssen, wenn er den zur Sittlichkeit bestimmten Menschen mit sittlich bösen Eigenschaften hätte begaben oder nur zugeben wollen, daß er bei seiner Entstehung, von irgend einem andern Wesen damit begabt würde.

Denke aber nicht, mein Kind, daß die Begriffe, die wir uns von der ursprünglichen Natur des Menschen machen, zu den gleichgültigen Vorstellungsarten gehören, die man, ohne dabei zu gewinnen oder zu verlieren, haben oder nicht haben, sich so oder anders bilden kann. Es ist vielmehr für uns selbst und für die ganze menschliche Gesellschaft ungemein wichtig, daß wir die Reinheit und Güte der menschlichen Natur, so wie sie aus der Hand des Schöpfers kommt, nicht verkennen, sondern uns fest davon zu überzeugen[269] suchen. Für uns selbst; denn woher nähmen wir, ohne diese Ueberzeugung, Trieb, Kraft und Muth zu unserer eigenen sittlichen Vervollkommnung? Woher den Glauben an die Menschheit, der uns, bei unserm Umgange mit Menschen, zu unserer eigenen Ruhe und zu jeder tugendlichen Wirksamkeit auf Andere so ganz unentbehrlich ist? Für die menschliche Gesellschaft; denn wer, wenn er glaubte, daß der Urstoff des Menschen böse sei, würde noch Lust oder Beruf in sich verspüren, an der Ausbesserung und Veredelung dieses Geschlechts zu arbeiten? Wer würde Thor genug sein, um sich einfallen zu lassen, den Bösegebornen seiner verderbten Natur, ja – ich erschrecke vor dem ungeheuren Gedanken, indem ich ihn niederschreiben will – dem Schöpfer selbst zum Trotze wieder gut machen zu wollen? Und wer würde ein Geschöpf, das schon im Werden böse war, mithin unwiderbringlich böse bleiben müßte, noch seiner Liebe, seiner Dienste, seiner Aufopferungen würdig finden können?

Also fort mit jenen scheußlichen Gestalten, unter denen eine durch oberflächliche Beobachtungen und morgenländisch-jüdische Vorstellungsarten mißgeleitete Einbildungskraft sich die angeborne Natur der Menschen zu denken pflegt! Die Natur ist gut, weil sie das Werk eines guten und weisen Schöpfers ist; und sie kann daher, wenn sie durch einen nachtheiligen Einfluß außerwesentlicher Umstände mißgebildet und verschlimmert[270] ward: zu ihrer ursprünglichen Reinheit und Güte noch immer wieder zurückgebracht werden. Dieser Satz müsse denn, wie gesagt, die Grundlage des Gebäudes von Menschenkenntniß werden, welches du dir errichten willst, und zu dessen Aufführung ich nun fortfahren will, dir die ersten nothdürftigen Erfodernisse an die Hand zu geben.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 266-271.
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