Zweite Wahrnehmung.

[271] Es gibt unter den von Menschen und Umständen erzogenen und ausgebildeten Menschen, weder vollkommen gute noch vollkommen böse Menschen – weder Engel noch Teufel – sondern bei Jedem, ohne Ausnahme, findet sich, eine Vermischung von Licht und Schatten, von Wirklichkeit und Mangel, von guten und schlechten Eigenschaften; und der ganze Unterschied unter ihnen besteht nur in dem mehr oder weniger auf der einen und auf der andern Seite. Abermahls ein Erfahrungsatz, der keinem Zweifel unterworfen ist. Die tugendhaftesten und edelsten Menschen haben ihre Schwächen, und das ärgste menschliche Ungeheuer ist nicht ohne alle gute Eigenschaften. Beides aber muß man wissen, wenn man in die Welt und unter Menschen tritt; jenes, um keine überspannte Erwartungen mitzubringen, die anfangs Täuschung,[271] nachher Leiden verursachen; dieses, um duldsam, billig und gerecht in der Beurtheilung Anderer zu sein.

Nichts ist trauriger, als das Schicksal einer jungen Menschenseele, die, nachdem sie ihre erste Bildung unter den Händen sanfter und gutmüthiger Personen erhalten, und, fern von aller Bekanntschaft mit Bösen, ihre Einbildungskraft und ihr Dichtungsvermögen mit übermenschlichen Musterbildern (Idealen) aus der dichterischen Schäferwelt genährt hatte, nun auf einmahl, durch ganz gewöhnliche Umwälzungen menschlicher Schicksale, an einen fremden Ort, unter andere Menschen und in andere Verhältnisse geworfen wird, und zwar mit überspannten Erwartungen von guten und edeln Menschen, die sie dort zu finden hoffte, geworfen wird; und nun von allen ihren schönen Träumen auch nicht Einen in Erfüllung gehen sieht: überall Menschen von gewöhnlichem Schlage, nirgends einen Seraph Grandison, nirgends einen Seelenbruder Siegwart, sondern statt ihrer überall Leute findet, die ihr nur gerade so viel Vergnügen zu geben, als sie ihnen gibt, nur gerade so viel Dienste ihr zu leisten geneigt sind, als sie ihnen leisten kann! Wie die gute unerfahrne Seele aus ihren süßen Träumereien nun auf einmahl mit Schrecken erwacht! Wie sie die Augen aufreißt, und es anfangs gar nicht glauben will, daß das die nämlichen Menschen sind, in[272] denen sie noch gestern oder ehegestern, unter den für baare Münze genommenen Höflichkeitsbezeigungen der ersten oder zweiten Zusammenkunft, die Freunde ihrer Jugend, die Idyllen- und Romanenmenschen, leibhaftig gefunden zu haben wähnte! Wie sie sich nun auf einmahl verkannt, gedrückt und gemißhandelt fühlt! Wie ihre Einbildungskraft nun auf einmahl von dem einen Aeußersten, aus welchem sie sich verdrängt sieht, zu dem ganz entgegengesetzten über springt, und in eben den Menschen, in welchen sie Halbgötter zu finden hoffte, mit Entsetzen nichts als empfindungslose Barbaren und Unmenschen, wo nicht gar Furien und Teufel erblickt! Wie sie nun, statt darauf zu denken, sich die Zuneigung und das Wohlwollen dieser gar nicht satanischen, sondern ganz gewöhnlichen Menschen, zu erwerben und ihre Lage dadurch zu verbessern, plötzlich hinsinkt in einen Zustand der Zernichtung, der sie vollends unfähig macht, mit diesen Leuten in Einklang zu kommen und ihnen dadurch Geneigtheit für sich einzuflößen! Wie sie nun die Gesellschaft flieht, sich in ihr stilles Kämmerlein verschließt, oder andere einsame Oerter sucht, um das Bischen Seelenkraft, was ihr etwa noch übrig sein mag, vollends auszuseufzen und auszuwimmern! – Arme, schwache, von Schattenbildern irre geleitete Selbstquälerinn! Kehre um zu denen, die du fliehst! Siehe ihnen nur mit unbefangener Seele, und ohne dichterische Romanenbrille gehörig ins Gesicht; und du wirst finden,[273] daß sie keine Ungeheuer, sondern wirkliche Menschen sind, wie du und ich; Menschen, die freilich ihre Schwächen und Fehler, aber auch ihr Gutes haben, wie du und ich; Menschen, die, wie du und ich, sich nach Vergnügen und Genuß sehnen, nur vielleicht ihr Vergnügen und ihren Genuß in etwas Anderem suchen, als wir. Spähe ihre Neigungen aus, suche ihnen zur Erreichung ihrer Wünsche, so weit das ohne Pflichtverletzung und Niederträchtigkeit geschehen kann, behülflich zu sein: und ich stehe dir dafür, sie werden sich dir auf halbem Wege nähern, werden dich lieb gewinnen, und für dein eigenes Vergnügen sorgen, wie du für das ihrige.

Hundertmahl sind mir unglückliche junge Leute beiderlei Geschlechts in dieser verschrobenen Seelenstimmung vorgekommen. Einst war ich – warum sollte ich es verheelen? – selbst Einer von ihnen: aber, Gottlob! ich merkte meine Verirrung früh genug, um mich noch zu rechter Zeit aus der Romanenwelt in die wirkliche zurückzufinden. Ich weiß daher aus Erfahrung und Selbstgefühl, wie jammervoll der Zustand solcher Verirrten sei; und um dich, meine liebe Tochter, und andere junge Leute vor selbstgemachten Leiden dieser Art, welche mehr als andere, Leib und Seele auszumergeln vermögen, zu verwahren, setze ich hier mein Warnungszeichen hin. Es heißt: »Tritt, junge Weltbürgerinn, nicht mit überspannten[274] Erwartungen in die Welt; nimm die Menschen, die dir vorkommen, nicht gleich auf den ersten Blick für das, was sie zu sein scheinen, und halte sie, bevor du sie aus einer hinreichenden Anzahl von Handlungen kennen lernst, weder für außerordentlich böse, noch für außerordentlich gut, sondern für das, was zwischen diesen beiden Endseiten in der Mitte liegt!« So wird dein vorläufiges Urtheil über sie in den meisten Fällen der Wahrheit sicher am nächsten kommen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 271-275.
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