Dritte Wahrnehmung.

[275] Alle Menschen wollen genießen, und bei weiten die Meisten wollen von dem, was ihnen Genuß ist, Andern nur gerade so viel abgeben, als sie entbehren können, und als sie hoffen, daß der Andere oder statt seiner ein Dritter, ihnen entweder in gleicher Münze oder in gleichem Werthe wiedergeben werden. Laß dich, mein Kind, durch die anscheinende Härte dieses Satzes nicht erschrecken! Vernimm vielmehr meine Erklärung darüber; und du wirst finden, daß der edleren Menschheit dadurch nichts vergeben wird, und daß man ihr die erhabenen Tugenden der[275] Uneigennützigkeit und der Großmuth keinesweges streitig zu machen gesonnen ist.

Genuß nenne ich alles, was die Triebe, Neigungen und Wünsche der Menschen befriediget. Nach dieser Erklärung ist es sogleich von selbst einleuchtend, daß der Mensch alles, was er freiwillig thut, um irgend eines Genusses willen thue, weil er freiwillig nichts thut, als was seinen Trieben, Neigungen und Wünschen angemessen ist.

So wie nun aber die Triebe und Neigungen der Menschen sehr verschieden sind und in dem Einen diese, in dem Andern jene die Oberhand haben: so streben sie auch nach verschiedenen Arten von Genüssen, der Eine nach dieser, der Andere nach jener. In dem Einen herrscht die Sinnlichkeit; und er thut, was er thut, in der Absicht, sich angenehme sinnliche Empfindungen zu verschaffen. In einem Zweiten hat der Ehrtrieb das Uebergewicht; und seine Handlungen zwecken darauf ab, Beifall, Lob und Rhum zu erhaschen. Ein Dritter ist geldgierig, und wenn dieser Andern Dienste leistet, so geschieht es unter der Voraussetzung oder in der Hoffnung baarer Bezahlung. Ein Vierter ist herrschsüchtig; dieser wird dir, wenn du ihn darum bittest, Schutz und Beistand leisten, um dich – zu seinem Geschöpf zu machen. Ein Fünfter ist nach den Freuden des Himmels lüstern, ohne[276] sie durch Tugenden verdienen zu wollen, und entschließt sich, so sauer es ihm auch ankommen mag, einen unbeträchtlichen Theil seines ungerechten Mammons aufzuopfern, um, seiner Meinung nach – die ewige Verdammniß damit abzukaufen. Ein Sechster endlich – aber leider! wird dieser unter Allen der seltenste sein! – hat sich zu der reinen Höhe einer, zwar nicht ganz uneigennützigen, aber doch von jedem groben Eigennutz geläuterten Tugend erhoben; und dis ist der einzige, der aus Pflichtgefühl, aus Tugend handelt, weil er die alles übertreffende Süßigkeit der Empfindung, welche das Bewußtsein wohlerfüllter Pflichten begleitet, schon aus Erfahrung kennt, und dieser Seligkeit so oft als möglich theilhaftig zu werden wünscht.

Also überall ein Streben und Sehnen nach Genuß, überall – wenigstens eine Art von Eigennutz; nur daß freilich die zuletzt erwähnte Art desselben so reiner und edler Natur ist, daß die Sprache gesitteter Völker sich mit Recht gescheuet hat, sie mit den übrigen unter einem und eben demselben Worte zu begreifen. Man hat vielmehr diese edlere Art von Eigennutz den übrigen entgegengesetzt, und ihr zur Unterscheidung von diesen die Namen Uneigennützigkeit, Großmuth, Tugend u.s.w. angewiesen.

Nun siehe noch einmahl auf den Erfahrungssatz zurück, den ich durch diese Auseinandersetzung erläutern[277] wollte, und du wirst die erste Hälfte desselben, wenn du ihn mit dem kleinen Vorrathe deiner eigenen Erfahrungen und mit deinem Selbstgefühle vergleichen willst, minder anstößig und um vieles wahrscheinlicher finden, als es dir anfangs klingen mochte. Fortgesetzte Beobachtungen über dich selbst, und über Andere werden dir die Wahrheit desselben immer einleuchtender machen. Sie werden dich lehren, daß wir Alle, der Weise wie der Thor, der Tugendhafte wie der Lasterhafte, schlechterdings nichts thun, ohne irgend einen Lohn, irgend einen auf uns selbst zurückfließenden Vortheil dabei im Auge zu haben; nur daß freilich ein mächtiger Unterschied zwischen dem ist, was der Eine und was der Andere für seinen Vortheil hält; nur daß freilich die ungeläuterten Begierden des Einen dabei auf grobe Sinnlichkeit, die edleren Neigungen des Andern hingegen auf feinere, sittlich geistige Genüsse gerichtet sind; nur daß freilich der Eine dabei sich selbst, der Andere aber seine Pflichten den Hauptgegenstand seines Augenmerks sein läßt; nur daß endlich freilich der Eine sich der Absicht zu genießen gar wohl bewußt ist, bei dem Andern hingegen diese Absicht, die für ihn nur Nebenabsicht ist, sich in dem dunkeln Hintergrunde seiner Vorstellungen verbirgt, und sich hier nicht selten aus seinem eigenen Bewußtsein verliert.

Was die andere Hälfte des obigen Satzes oder die Behauptung betrifft, daß bei weiten die meisten[278] Menschen – denn daß es der Fall bei allen sei, begehre ich nicht zu behaupten – von dem, was ihnen Genuß ist, Andern nicht mehr abgeben mögen, als ihnen entweder völlig entbehrlich ist, oder als sie hoffen dürfen, daß ihnen auf die eine oder die andere Weise werde wiedergegeben werden: so darf ich, glaube ich, mich zum Beweise derselben gleichfalls auf die Erfahrung eines jeden Menschenbeobachters dreist berufen. Du aber, liebe Tochter, wirst wohl thun, diese Versicherung so lange auf Treue und Glauben anzunehmen, und sie bei den Ansprüchen, die du aus Anderer Dienste und Gefälligkeiten machst, so lange vor Augen zu behalten, bis einst eigene Erfahrungen dich in den Stand setzen werden, über den Grund oder Ungrund derselben selbst zu urtheilen. Bis dahin wird es wenigstens rathsam sein, von Andern lieber etwas zu wenig, als zu viel zu erwarten, und ihnen für das, was sie zu deinem Vortheil thun werden, lieber etwas zu viel als zu wenig Erkenntlichkeit zu beweisen.

Wie fruchtbar übrigens auch dieser Erfahrungssatz an Klugheitslehren für das thätige Leben und für den Umgang mit Menschen sei: das werde ich dir nachher zu zeigen Gelegenheit haben.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 275-279.
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