Neunte Wahrnehmung.

[310] Die Menschen aller Orten und aller Stände haben mancherlei Uebereinkünfte (Conventionen) in Ansehung des Aeußerlichen getroffen, über deren Beobachtung sie gemeiniglich strenger, als über die Befolgung der Sittengesetze halten. Dieses Uebereinkünftliche nennen wir die Sitten und den Wohlstand. Wer sie aus den Augen setzt, wird für stolz oder albern und dumm gehalten; zieht sich Verachtung zu, und schadet seinem Glücke, sofern es von dem Wohlwollen und Zutrauen der Menschen abhängig ist, oft mehr, als durch eigentlich unsittliche Handlungen. – Dahin gehören ungefähr folgende Dinge: 1. Kleidung und Anzug in Ansehung dessen in jedem Lande eine gewisse Form, die man Tracht nennt, eingeführt ist, und die nach Verschiedenheit des Standes und des Zwecks (ob man sie im Hause gebraucht, oder außer dem Hause vor Andern, Niedern, Gleichen oder Höhern, damit erscheinen will) verschieden ist. 2. Die Reinlichkeit und Nettigkeit im Anzuge, in der Wäsche und am Körper, die außer dem, daß sie von Andern mit Wohlgefallen bemerkt wird, auch noch den wesentlichen Vortheil gewährt, daß sie zur Erhaltung der Gesundheit dient. 3. Die gewöhnlichen Zeichen des Ranges, welche in Ausdrücken, Körperstellung, Körperbewegungen, und sogar im Schall der Stimme liegen; daß man, z.B. in Gegenwart Anderer sich keine nachlässige[311] Lage des Körpers oder eines einzelnen Gliedes sich erlaube; Jeden nach dem Grade seines Standes behandle, bei Verbeugungen, Begrüßungen, Erwiederungen des Grußes, beim Neben ihm gehen oder Sitzen, beim Zugreifen u.s.w., und danach selbst die Menge des Sprechens, den Ton, so wie die Stärke und Schwäche der Stimme und den Grad der Ehrerbietigkeit in den Mienen abmesse. Da einmahl Unterschiede der Stände in dieser Welt sein sollten: so müssen auch Zeichen sein, wodurch Jeder zu erkennen gibt, daß er diese Unterschiede anerkenne. Und da diese Zeichen, wenn sie verstanden werden sollen, übereinkünftlich und eingeführt sein müssen: so ist es eben so nöthig, daß ein Mensch sie beobachte, als es nöthig ist, beim Sprachgebrauche zu bleiben. 4. Alle Zeichen der Achtung überhaupt, die ich jedem Menschen schuldig bin, und die besonders in einer gewissen Freundlichkeit des Gesichts, Bescheidenheit des Tons und des Ausdrucks und in den allgemeinen Höflichkeitsbezeugungen bestehn. 5. Die eingeführte Sitte von Hohen, Alten und Personen des andern Geschlechts sich in einer gewissen ehrerbietigen Entfernung zu halten, und sich gegen sie keine Zudringlichkeit und Vertraulichkeiten zu erlauben. 6. Die gewöhnlichen Zeichen der Stille und Andacht beim Gottesdienste. 7. Die Unterlassung aller der Handlungen im Angesicht Anderer, welche nach eingeführter Sitte nicht gesehen oder bemerkt[312] werden dürfen, wodurch die äußerliche Schamhaftigkeit bestimmt wird.«1 Man kann noch hinzufügen: 8. die eingeführten Titel und Wohlstandsbräuche beim Reden und Briefschreiben, deren Nichtbeobachtung von denen, welche auf dergleichen Armseligkeiten etwas halten, entweder einem unerträglichen Stolze oder einem Mangel an Weltkenntniß und Lebensart zugeschrieben wird.

Was nun das Allgemeine und Merkwürdige in Ansehung aller dieser, an sich gleichgültigen Dinge betrifft: so besteht es theils darin, daß die Meisten, wie schon oben angedeutet worden, weit strenger darauf halten, als auf die Beobachtung der Gesetze des Rechts und Unrechts oder der innern Sittlichkeit; theils darin, daß nicht nur jedes Volk, sondern auch jede besondere Volksklasse in Ansehung dieser äußerlichen Gebräuche und Sitten etwas Eigenthümliches, etwas den Sitten und Gebräuchen anderer Völker und anderer Stände oft ganz Entgegengesetztes haben, so daß an dem einen Orte und bei dem einen Stande nicht selten etwas für höflich und gesittet gehalten wird, was man an einem andern Orte und bei Leuten eines andern Standes für beleidigende Unsitte halten würde; theils endlich darin, daß die Menschen[313] in Ansehung aller dieser Dinge in eben dem Maße strenger in ihren Anfoderungen befunden werden, in welchem sie beschränkter am Geiste, unwissender und verdienstloser sind. Es ist daher eine bekannte Erfahrungsregel, daß man bei Schwachköpfen, dummen und kleinstädtschen Leuten gegen jede Art von Verstößen wider die eingeführten äußerlichen Sitten und Gebräuche weit mehr, als bei feinen Weltleuten und bei Menschen von großem und ausgebildeten Verstande, auf seiner Hut sein müsse. Was die Letzten kaum bemerkenswerth oder leicht verzeihlich finden würden, das wird bei den Ersten für eine unverzeihliche Unwissenheit oder Grobheit gehalten.

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Allgemeine Revision des Erziehungswesens 1ter Theil.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 310-314.
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