Der Weg aus der Vergangenheit

[10] Erst als ich reichlich fünfzig Lebensjahre hinter mir hatte, ging ich der Geschichte meiner Vorfahren nach, in dem instinktiven Gefühl, mir Klarheit zu schaffen, welche Bindungen meines Wesens, Charakter genannt, ich ihnen zu danken hatte. Ich reiste zum erstenmal nach ihrer Heimat, den braunschweigischen Dörfern Jerxheim und Söllingen, studierte dort in alten Kirchenbüchern und sprach mit den Leuten gleichen Namens, von deren Dasein ich bisher nichts wußte. Aber das war es nicht allein, ich erlebte die alte Kirche, in der sich meine Vorfahren taufen und trauen ließen, ich erlebte auch die weite fruchtbare Ackerlandschaft, ihre Geschichte, und den Waldfrieden des nahen Elm, der sich stundenweit bis Königslutter mit dem Kaisergrab Lothars erstreckt. Gleich hinter ihm beginnt das weite Helmstädter Braunkohlengebiet, unter der früher sumpfigen Söllinger Flur stehen aber wahrscheinlich noch Salzlager.

In die Zuckerrüben- und Weizenwüste des jetzt reich kultivierten Söllinger Ackerlandes - man sieht kaum einen Strauch – ragt zehn Minuten hinter dem Dorf eine lange Wiesenzunge mit einem Bach hinein, und eine ganz märchenhafte, braunalte Fachwerkmühle, unter uralte Pappeln geduckt, liegt einsam mitten in ihr. Die letzte der Wiesen heißt Tetzelwiese, weil Tetzel auf der Fahrt zu dem wundertätigen Marienbild in Küblingen der Sage nach dort Ablaß ausgeteilt hat. Dort wurde nach dem Söllinger Kirchenbuch dem Müller Joachim Diterich 1603 die Tochter Anna geboren. Es ist die älteste Nachricht des Kirchenbuches. Aber das Strafregister des Amts Jerxheim verzeichnet schon 1532 unter Söllingen: »Hans Diederichs und Jochim Krüger haben sich zusamd bei den Haren geropft. Jeder verbrochen 21/2, Schilling.« Etwas von diesem Verhältnis zum Rechte spüre ich auch in mir, das sich dann bei meinem Großvater in den Wahlspruch umwandelte: »Tue recht und scheue niemand.« So waren meine Vorfahren nach dem Dreißigjährigen Kriege zuerst Kleinbauern, »Kotsaß« genannt, dann Dorfschneider, bis aus dem Schneidergesellen Andreas Otto in der dem Siebenjährigen Krieg[10] anschließenden Zeit in mannigfacher Metamorphose über die schwarzen Husaren in Braunschweig 1782 ein »Opfermann und Schulmeister wurde. Mit nahezu dreißig Jahren ging er noch auf die Präparandenanstalt in Wolfenbüttel, gewiß aus innerem Muß heraus. Und wenn auch keine direkten Familiennachrichten mehr vorliegen, ich weiß, es ging ihm wie mir, er kämpfte mit sich den Kampf der Schwere. Das unruhvolle Selbst begann mit ihm seinen Aufstieg in die bürgerliche Sphäre.

Sein Sohn, mein Großvater, wanderte dann 1823 in Thüringen ein und begründete den Thüringer Zweig unserer Familie. Zuerst war er Gutsinspektor und pachtete sich dann mit seinem ersparten Geld ein Rittergut bei Camburg, verwaltete aber zugleich auch das 2000 Morgen große Rittergut Schkölen als Administrator. Es war ein mühseliges sich Hochkämpfen, strenge norddeutsche Gewissenhaftigkeit paarte sich mit Können, und nun lauten die Familiennachrichten über die Charakteranlage bestimmter. Auch ihm war die Schwermut nicht erspart. Vergleiche ich die Jugendbildnisse meines Vaters und seiner Geschwister und die gleichzeitigen Bildnisse ihrer braunschweigischen Vettern, den Söhnen von Großvaters Bruder, so haben jene ein echt norddeutsches schmales Gesicht mit eng zusammengestellten Augen und scharfer Nase. Während der Thüringer Zweig in der gleichen Generation sozusagen ein geräumiges Gesicht aufweist, die Augen stehen weiter von dem Nasenbein ab, die Züge sind breiter und weicher. Denn meine Großmutter stammte aus dem sogenannten Osterland, das ist die Gegend zwischen Naumburg, Zeitz, Altenburg, Gera. Auch meine Mutter und deren Vorfahren waren alteingesessene Bauern im Osterland. Das Osterland ist sozusagen das erste Kolonisationsgebiet beim Vordringen der Thüringer gegen die Slawen über die Saale. So habe ich von meinen beiden Vorfahren mütterlicherseits gemischt slawisch-germanisches Blut mit starker Vorherrschaft meines niedersächsischen Bluts. Der Slawe ist erdgebundener als der nordische Mensch und in seiner guten Mischung lebenstüchtig und heiter. Ich spüre es ganz deutlich,[11] das Blut, was mich für meinen Verlegerberuf tauglich machte, danke ich meiner künstlerisch naiven Großmutter. Einer Tischlerstochter, deren Briefschreibweise nur auf dem Klang des Wortes beruhte, die nie den Kopf hängen ließ und wenn es darauf ankam, bei schlechtem Wetter sich in Männerkleidern aufs Pferd setzte und früh um vier zum Buttern in dunkler Nacht auf das eine Stunde entfernte andere Rittergut ritt. Zwei ihrer Kinder erbten ihre Thüringer Lebenslust und Lebensoffenheit, zwei aber, darunter mein Vater, die norddeutsche Schwere.

So wurde mein Vater wieder Landmann, aber der Großvater konnte ihn nur mangelhaft in seiner Selbständigkeit unterstützen, denn der Bruder wollte studieren und die Schwestern sich verheiraten. So ging es ihm wie seinem Vater, die Schulbildung ging nicht über die Volksschule hinaus, mit vierzehn Jahren wurde er Lehrling und sparte sich dann bei der Pacht von Bauerngütern mühsam Gelder, um später ein Rittergut zu pachten. Aber die ererbte Schwere, die zu einer starken Hypochondrie sich auswuchs, war verbunden mit starker, instinktiver Organisationsgabe. Er galt, ohne mit theoretischen Kenntnissen belastet zu sein, als einer der tüchtigsten Landwirte seines Kreises. Er hat wohl kein Buch in seinem Leben gelesen mit Ausnahme von ein paar Werken über Bienenzucht, denn diese, sowie überhaupt Tierzucht, war seine Passion. Schon vier Jahre später, als ich in Löbitz unweit Osterfeld auf dem dortigen Rittergut geboren war, zog er 1871 nach der Marktstadt Naumburg a. d. S. und blieb dort entgegen seiner ursprünglichen Absicht viel zu früh als Rentner hängen, da er in den Gründerjahren die Hälfte seines angesammelten Vermögens verlor, für das er sich hatte ein Rittergut kaufen wollen.

Quelle:
Diederichs, Eugen: Aus meinem Leben. Jena 1938, S. 10-12.
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