Eugen Diederichs

Aus meinem Leben

In Willen und in Sehnsucht!


Im Alter sieht man menschliches Erleben mit anderen Augen an als in der Jugend, sein eigenes und das anderer. Je älter man wird, desto mehr versteht man nicht nur seine Eltern, sondern auch das Blutserbe in sich von seinen Vorfahren her. Man spürt die Beziehungen zu Landschaft, zu Rasse, zu Geschichte, man sieht seine Gebundenheiten an die Vergangenheit. Aber man erblickt auch etwas Wunderbares: seine Freiheit als Möglichkeit der Selbstentfaltung. Schließlich war das doch der eigene Wille, für welchen Beruf man sich entschied, in welche Umgebung man sich stellte, welche Entschlüsse man im entscheidenden Zeitpunkt faßte. Alles Leben ist eine Wanderung, bei der es heißt, mittels eines inneren Kompasses geradaus zu seinem Ziel zu kommen, zu seinem ganz Eigenen, das die menschliche Persönlichkeit ausmacht und sie von allen anderen Menschen unterscheidet. Jeder Baum im Wald, und wenn er nur aus lauter Buchen bestände, hat seine ihm eigene Form und sein ihm eigenes Schicksal. Nicht alle werden große, voll ausgewachsene Bäume. Bei manchen reicht die Wachstumskraft des Bodens nicht aus, auf dem sie stehen, wieder andere reißt der Sturm nieder, andere werden von Menschenhänden vernichtet. Alle aber streben im Daseinskampf der Sonne zu, und wehe dem, der zurückbleibt, denn die Natur ist gut und grausam zugleich. Gut ist aber sie zu allem Gesunden und Tüchtigen.

Ist man aber zwanzig Jahre alt, spürt man nur Gegenwart und in ihr die schmerzliche Zerrissenheit der eigenen Werdenot. Man sieht noch keinen geraden Weg, den man zu gehen hat, vor sich, sondern[7] nur: viele Wege öffnen sich, die sich kreuzen. Wie gern hätte man einen Führer, aber er fehlt. Vielleicht steht man im völligen Gegensatz zu seiner Umgebung. Die Familientradition trägt nicht mehr, vielleicht weil das Leben in seiner Vielgestaltigkeit etwas Neues mit einem vorhat. Man tastet unsicher und siehe, irgend etwas Höheres führt. Die christliche Lehre sieht in dieser Führung das Eingreifen eines persönlichen Gottes, ich möchte sie für mich als das Geheimnis der inneren Kraft bezeichnen. Als Freiheit in der Gebundenheit, als Entfaltungstrieb, und dadurch ist sie Auswirkung unseres geistigen Lebens. Wille und Schicksal sind im Menschen dann eines. Die inneren Kräfte des Menschen ziehen seine äußeren Lebensereignisse heran. Freilich ist dann die Grundbedingung: Treue gegen sich selbst. Nie darf man einer Aufgabe, die man sich selbst gestellt hat, ausweichen, sondern hat sie trotz allen entgegenstehenden Gewalten durchzuführen. Nie darf man sich vor irgendwelchen Problemen drücken, im Gegenteil, man muß sie aufsuchen und mit ihnen im Kampf des Lebens fertig werden. Die Jugendjahre müssen schweifend sein. Kein endgültig sich Festlegen in überlieferte Meinungen aus Bequemlichkeitsbedürfnis, kein allzu frühes Festwurzeln in Geschäft oder Weib. Ewige Sehnsucht nach unendlicher Weite und hinaus über die engen Grenzen der Heimat. Mit den Augen leben und erleben: Trink den goldenen Überfluß der Welt!

In den Mannesjahren kommt dann die Verwurzelung durch Beruf, Weib und Kind. Die übliche Meinung ist, man müsse dann nur »real« denken. Es ist Gnade, ist Schicksal, wenn die vorhergehende Lebenssphäre der Sehnsucht in die Weite im Menschen nicht abbricht, sondern das reale Denken sich zur Aufgabe erweitert, die ich mit dem trotzigen Spittelerschen Wort »Dennoch« bezeichnen möchte. Sei nicht Epimetheus, sondern Prometheus! Es ist das Denken des schöpferischen und letzthin religiösen Menschen zur zukünftigen Gestaltung hin. »Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!« Dieses Nichtanderskönnen ist ein schwerer Gang und doch auch wieder der Weg zu einem reichen Leben, zu einem Leben,[8] das in die Tiefe des Erlebens führt, Beethovens Neunte erzählt von ihm. Es ist Schicksal, wenn im Leben eines ringenden Menschen der Durchbruch zu: »Seid umschlungen, Millionen« bis zu »freudig wie ein Held zu siegen« kommt. Meist kommt er erst im hohen Alter. Es gehört manch rätselhaft instinktives Handeln, viel Eros zu allem Leben und auch viel Logos dazu, um gelassen allen Wirrnissen des Lebens gegenüberzustehen. Um Menschen und Dinge objektiv sehen zu können, um das Unendliche oder mit anderen Worten das Kosmische als wirkliche Macht zu empfinden und seinen wehenden Atem zu spüren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind dann eins geworden, wie ja auch das Leben trotz aller Gesondertheit eine Einheit ist. Nur Gegensätzlichkeit ermöglicht das Leben und macht es farbig und reich. Man möchte manchmal wünschen, zumal wenn man krank ist, man wäre nur Geist und wäre seinen Körper los. Man möchte manchmal weniger Tier sein. Aber wären wir nur Geist, so hätten wir keine Aufgaben, sondern wären reibungslos funktionierende Maschinen. Wozu dann leben?

»Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen«, sagt Hölderlin in seinem Schicksalslied. Denn wir leben in qualvoller Zwiespältigkeit, um die Materie und damit auch unser Ich in unendlicher Vielfältigkeit zu formen. Nicht jeder kann frei schaffender Künstler sein, und wer ein solcher ist, hat schwer darunter zu leiden.


»Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz;

Alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.«


Aber jeder Beruf, zu Anfang der des Bauern, hat den Auftrag in sich, Menschen zu bilden. Ich danke es meinem Schicksal, noch direkt aus Bauernblut zu stammen und aus ihm heraus in den Beruf geistigen Pflügens und Samenstreuens hinübergetreten zu sein. Ich habe nie an zu großem Selbstvertrauen gelitten, ja, ich muß gestehen, als ich meinen Verlag gründete, habe ich nicht an ein Gelingen geglaubt. Ich wollte nur mittels Tun ein Mensch werden.[9]

Quelle:
Diederichs, Eugen: Aus meinem Leben. Jena 1938, S. 7-10.
Erstdruck in der Sammlung »Der deutsche Buchhandel in Selbstdarstellungen«, Leipzig (Felix Meiner) 1927.
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