Nach dem Krieg

[72] Die Zeit der Revolution, der Inflation und des sogenannten beginnenden Aufbaus war mehr oder weniger eine bewußte Abkehr der Menge von der Tradition zu einseitigem Leben für die Gegenwart, zum materiellen Genuß, zum Leben ohne weiteres Ziel als des Verdienens. Mit einem Wort, wir sind auf der Linie der Amerikanisierung, der Atomisierung und des Sinkens unserer geistigen Interessen und völkischen Zusammenhaltes, wenn nicht Gegenströmungen auftauchen, die uns zu neuen Bindungen führen. So heißt es in dem 1924 erschienenen Katalog, der über die Tätigkeit der letzten zehn Jahre berichtet:

»Als Tatsache steht fest: der deutsche Mensch ist mehr oder weniger entwurzelt, er läuft in seiner Hilflosigkeit dem Großstadtgeschmack, der Mode, dem Schlagwort und wer weiß noch welcher[72] äußeren Erregung nach. Er wartet mit Sehnsucht auf den Führer, der ihn aus dem Dreck herausziehen soll, lebt aber noch materialistischer und gottverlassener als vor dem Kriege. Er lebt chaotisch, weil er seelisch keinen festen Boden unter den Füßen hat.

Aber es wäre falsch, darüber an unserer Zukunft zu verzweifeln, denn das Schicksal fordert heute mehr wie je vom deutschen Volke tätiges Handeln. Was aber nicht dasselbe ist wie möglichst große Industrialisierung, sondern was Rhythmus und Gebärde im Leben des einzelnen fordert. Es verlangt nicht nur Selbstbesinnung und Selbstkritik, sondern auch Glauben an sich und ein lebendiges Verhältnis zu den überpersönlichen Kräften. Kein von außen her kommender Einfluß, keine neue Wirtschaftsform wird die innere Wandlung schaffen, sondern du selbst. Du mußt nur schon heute bei dir anfangen.

Schon beginnt man wieder in breiten Schichten unseres Volkes von der ›Macht‹ als dem einzigen Heilmittel zur Gesundung Deutschlands zu reden und den Staat an sich zur Verkörperung des Überpersönlichen zu erheben, weil ein solches Denken jeden bei seinen alten Gewohnheiten lassen kann. Wieviel Volksgenossen der älteren Generation waren überhaupt fähig, durch die Ereignisse des Zusammenbruchs umzulernen? Es ist ja viel bequemer, ›die richtigen Ansichten‹ zu haben und an einen wortgewandten ›Führer‹ zu glauben, als bei sich selbst mit der Wiedergeburt des deutschen Geistes zu beginnen. Der Durchschnittsdeutsche hat eben die Meinung der Zeitung, die er täglich liest. Es ist die große Niete unserer Zeit, daß weder Religion noch Kunst noch Wissenschaft die Führung des Volkes zu seinen zukünftigen Aufgaben übernehmen können, weil noch bei keinem von ihnen das neue Lebensgefühl unserer Tage zur Form geworden ist.

So besteht augenblicklich der deutliche Schnitt zwischen alt und jung mehr in der instinktiven Einstellung zum Lebensprozeß an sich, es scheiden sich die Dunamiker von den Mechanisten. Deutschland besteht eigentlich aus drei Völkern. Das erste sind die selbstbewußten,[73] stark dynamischen Westgermanen mit demokratischer Einstellung, das zweite sind die Kolonisationsdeutschen östlich der Elbe mit slawischer Blutbeimischung, die sich unter Autorität am wohlsten fühlten und über dem kategorischen Imperativ die dämonische Seite ihres Wesens ganz verkümmern lassen. Das dritte sind die Süddeutschen mit keltisch-romanischem Bluteinschlag, die weniger der Mechanisierung als vertiefter Lebenskultur zugewandt sind. Das deutsche Wesen besteht aber aus allen drei Komponenten, darum haben wir so wenig weithin sichtbare allgemeingültige Repräsentanten deutscher Art, die wie Goethe die deutschen Wesensarten geistig in sich vereinen.

Wir erlebten aber gerade in den letzten Jahren, daß uns der ›Mensch‹ Goethe immer mehr in seinem Einfluß auf die künftige Formung deutschen Wesens bewußt wird, während der ›Dichter‹ Goethe in unseren Augen vom Mittelpunkt zum Zeitereignis eines vergangenen Jahrhunderts wird. Erkennen wir doch aus der Lebensführung Goethes, daß der im Wesentlichen lebende Mann drei Lebensstufen lebt. Die erste umfaßt die Zeit eines auf Individualismus beruhenden Werdens bis zum vierzigsten Jahre, die zweite wird von der objektiven Einstellung zum tätigen Leben bestimmt, die dritte beginnt Mitte der Fünfziger und sucht im Menschen und in den Dingen das Typische zu erkennen, sie ist das Zeitalter des inneren Schauens. Aber die meisten Menschen kommen gar nicht über die erste Stufe hinaus, und die wenigsten erreichen die dritte. Teils aus mangelnder innerer Kraft, teils, und das ist das zu Ändernde, weil sie falsch, nämlich von außen her, leben.

Dieses falsche Leben hat einfach die Jugend zuerst ganz instinktiv zu einer Reaktion gezwungen, denn das Leben läßt sich nicht auf die Dauer vergewaltigen. Und mit der Jugendbewegung beginnt die Sichtbarwerdung des neuen Lebensgefühls, das einen Riß bedeutet zwischen alter und neuer Zeit, wie seinerzeit zwischen Gotik und Renaissance. Alle Menschen des neuen Lebensgefühls erkennen sich an der von innen her kommenden Forderung, ihr Leben in[74] ›Spannung‹ zu leben, das heißt die Polarität und die daraus sich entwickelnde Synthese der Gegensätze im Schöpferischen als die Grundlage ihres Wollens zu empfinden.

Ein Volk braucht aber zu stetiger Weiterentfaltung immer eine geistige Schicht, innerhalb deren die vorausschauenden Führernaturen zur Auswirkung kom men. Im Mittelalter, zur Zeit unserer Dome, waren es die Kleriker, zur Zeit der Renaissance die Patrizier in den Handelsstädten, in der Zeit des Absolutismus die Hofkreise, bis zum Ausklang des vorigen Jahrhunderts die akademisch gebildete Beamtenschaft, und augenblicklich versucht es, ohne allzu große Aussicht auf dauerndes Gelingen, die Großindustrie. Aber sie vertritt mehr ›Macht‹ wie ›Geist‹, und es ist ein offenes Geheimnis, daß uns nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Mittelstandes eine unser kulturelles Leben tragende geistige Schicht fehlt. Wie weit hat aber der Staat in Zukunft noch genügend materielle Mittel, nicht nur, um die traditionellen Kulturaufgaben hochzuhalten, sondern auch neue in Angriff zu nehmen? Stecken wir nicht bereits in der Gefahr der Versumpfung, um mit Spengler zu reden?

Soll nun das Bücherlesen der rettende Ausweg sein? Man kann ebensogut nein als ja sagen. Es kommt weniger auf das Lesen an als auf eine aktive Einstellung zum Lebensprozeß. Also auf die Lebenswerte des Buches selbst. Wir brauchen über die gelehrten Abhandlungen und mit psychologischer Soße schmackhaft gemachten Phantasieerzeugnisse moderner Literatur hinaus einen Typ Bücher, die große Gesichtspunkte für den Lebenskampf geben, die das Wissen zusammenschauen und nicht zerlegen, und deren Verfasser Charaktere sind und darum die Ganzheit des Lebens erleben. Diese Bücher aber kommen herauf, und sie machen alle pessimistischen Voraussagungen zunichte. Seit Anfang dieses Jahrhunderts wird eine bestimmte Schicht von Menschen deutlich, die diese Bücher kauft und liebt. Diese Schicht aber, und das ist das Neue, richtet sich nicht nach Besitz und Stand, sondern geht durch alle Schichten der Bevölkerung durch. Sie ist klassenlos, sie umfaßt Aristokrat, Bürger[75] und Arbeiter, und scheidet sie von der Masse, die nicht bloß im Proletariat, sondern auch in allen anderen Ständen zu finden ist. Und nur auf diese sich bildende Schicht kommt es beim kommenden Aufbau Deutschlands an.«

Die Verlagsentwicklung nach der kulturellen Seite hin teilt sich in der letzten Zeitepochedeutlich in verstärktem Umfang in die »Volkstumsbewegung« und in die »neureligiöse Bewegung«, verbunden mit Bildungsfragen. Eine dritte, die soziale, hebt mit der Volkshochschulbildungsbewegung an und gelangt in Überwindung des Marxismus zur Weiterbildung des Sozialismus. Die älteren Linien werden aber gleichfalls weitergeführt, die Jugendbewegung wandelt sich in ein stärkeres Eintreten für Körperkulturbewegung, die Abteilung Schöne Literatur beginnt einen größeren Umfang zu nehmen.

Die Volkstumsbewegung sucht, wie das Religiöse, den Weg zur Gemeinschaft. Aber auch jeder Individualismus, der etwas anderes ist wie Subjektivismus, braucht das Gemeinschaftserlebnis als den entgegengesetzten Pol. Schon Goethe schreibt einmal in seinen Maximen: »Wer in sich recht ernstlich hinabsteigt, wird sich immer nur als Hälfte finden; er fasse ein Mädchen oder eine Welt, um sich zum Ganzen zu konstituieren, das ist einerlei.«

So heißt es im Katalog 1926:

»Eine Volksgemeinschaft, die das Volk geistig eint und es nicht in einander mißverstehende Klassen auseinanderfallen läßt, bedeutet mehr als ein rein politischer Machtstaat. Der einfachste und zunächst am leichtesten zu gehende Weg dazu ist der, wenn wir uns die organische Entwicklung deutschen Wesens zu eigen machen, nicht orientierend, sondern nacherlebend. Wieder läßt sich dafür ein weisendes Wort Goethes anführen:, Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das wie Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volke ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk.«

Der Begriff Volk aber erschöpft sich keineswegs in der Fläche[76] des räumlichen und zeitlichen Übereinander der Zeitgenossen, sondern noch entscheidender ist das Nacheinander der Schicksalsgenossen. Denn unsere Zukunft hängt davon ab, daß bei der Bestimmung über den einzuschlagenden Weg in die Zukunft die aus der Vergangenheit heraufklingende Stimme mit gehört wird. Je älter ein Wesenszug in uns, desto wahrscheinlicher ist es, daß er in unseren fernsten Nachkommen noch ebenso wirksam und lebendig sein wird. Die Verwurzelung in dem Zusammenhang geschichtlicher Überlieferung ist der Schwerpunkt, der vor dem Herabstürzen von dem schmalen Grat, den die Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft bildet, bewahrt. Heute, wo die schöpferische Kraft deutscher Dichtung im letzten Ausklang zu stehen scheint, heute, wo wir inmitten der schöpferischen Pause stehen, erleben wir den Widerklang des Seelentums, das in früheren Jahrhunderten in deutscher Sprache bereits Gestalt gewonnen hat. Wir kehren zurück zu den Quellen deutschen Denkens, zu dem lebendigen Brunnen unserer Volksdichtung. Aber nicht ihre Formen sind es, die wir suchen, sondern die irrationale Kraft, aus der einst diese Formen geschaffen wurden. Diese Sehnsucht bedeutet Vorbereitung auf neue Schöpfung. Denn Kultur besteht nur durch die produktiven Kräfte des Menschentums, nicht durch bloße Reproduktion des Erbes einer noch so reichen Vergangenheit.

Ist dieser Weg gewissermaßen ein Gang zur Natur, zum Blutwissen, so verlangt er als Ergänzung einen Gang zum absoluten Geist, der die ganze Menschheit umfaßt. Nation bedeutet immer Endlichkeit, Geist aber bedeutet Unendlichkeit. Auf dem Wege der Selbstentfaltung werden wir uns auch bewußt werden, daß die Michelhaftigkeit des deutschen Wesens nicht als etwas unabänderlich Gegebenes, sondern als etwas zu Überwindendes angesehen werden muß.«

So begann der Verlag 1925 nach mehrjähriger Vorbereitung die große Bücherreihe »Deutsche Volkheit«, die sich in die zwei Hauptabteilungen Mythos und Geschichte mit je sieben Unterabteilungen[77] teilt und bestimmt ist, weite Volkskreise weniger über ihre Vergangenheit zu »orientieren«, als sie ihnen lebendig zu machen. Sie ist ein künstlerisch wissenschaftliches Unternehmen. Ihm zur Seite steht ergänzend »Das alte Reich«, Bände größeren Umfangs, die die Quellen deutscher Kultur von der Zeit Karls des Großen bis zum Beginn der neuen Zeit in Auswahl behandeln. Als drittes Hauptunternehmen gesellt sich eine »Stammeskunde« aller deutschen Stämme, die die überkommenen Sagen benutzt, um das Bild des deutschen primitiven Menschen in seinem Verhältnis zu den Naturkräften zu zeichnen. Das alte Reich wird noch im Herbst 1927 ergänzt werden durch eine weitere Gruppe »Deutsche Vorzeit«, die das Frühgermanentum behandelt und dadurch eine wesentliche Lücke in der Erkenntnis unseres Werdens ausfüllt. Selbst die Fachhistoriker wissen auf diesem Gebiet wenig Bescheid. Einige weitere Bände von Thule erschienen auch, und 1928 wird dieses einzig dastehende Dokument altgermanischen Denkens bestimmt zu Ende kommen. An das weiter gehende große Unternehmen »Märchen der Weltliteratur« knüpfte sich, von Leo Frobenius herausgegeben, das zwölfbändige »Atlantis«, das die Volksmärchen und Volksdichtungen Nordafrikas umfaßt, an. »Arktis«, das in den Büchern von Carl Schoyen das Volksleben der Lappen und des Nordens von Norwegen schildert, wird sich dann später auch mit den Eskimos auf Grönland befassen. Zu guter Letzt begann der Verlag das auf eine größere Anzahl von Bänden projektierte »Insulinde«, das das Schrifttum der Malaien umfaßt. Die alte Welt der Azteken und Inkas erlebte mit ihren Märchen in den »Märchen der Weltliteratur« und mit ihren religiösen Hymnen und Kulten in zwei Hymnenbänden ihre Auferstehung. Eine Reihe Sonderwerke zum deutschen Volkstum begleiten die Serien. Es sei nur auf die Bücher von Eugen Weiß, die Zimmerleute und Steinmetze behandeln, hingewiesen, auf die Riehl-Auswahl »Vom deutschen Land und Volke« und auf Hans Naumann, »Primitive Gemeinschaftskultur«.[78]

Der kommenden neureligiösen Bewegung dient die große kosmisch-philosophische Serie »Gott – Natur« als Vortrupp, die gleichfalls Goethe als Paten hat. Sie begann mit einer endgültigen illustrierten Ausgabe seiner morphologischen Schriften, der sich seine Farbenlehre anschließt. Ihr folgte die Herausgabe des Hauptwerkes von Carus und eines Auswahlbandes der romantischen Naturphilosophie. Die Auswahl der Naturphilosophie der Renaissance erscheint 1928. Es schließen sich aber auch an die älteren Ausgaben bereits neuere Schriften an. Der Protestantismus ist bis heute noch nicht zu einer wirklichen Volksreligion gekommen, denn er wendet sich weniger an die Volksinstinkte als an den Intellekt. Die Reformation ist schon im ersten Jahrhundert stehengeblieben, und als sie sich anschickte, in der Rosenkreutzerbewegung sich zu erfüllen, kam der Dreißigjährige Krieg. Die kommende religiöse Erneuerung braucht daher nähere Kenntnis des Rosenkreutzertums, dem das grundlegende Buch von Will Erich Peuckert über diese Bewegung dient. Diese künftige religiöse Bewegung wird aber sicherlich eine starke Verknüpfung mit den kosmischen Anschauungen suchen und auch an astrologische Vorstellungen anknüpfen. Diesen Weg gehen mehrere Bücher von Hans Künkel. Der neuen Entwicklung müssen natürlich auch Auseinandersetzungen innerhalb der bestehenden Kirchen vorausgehen. So gewannen innerhalb des Protestantismus die Bücher von Friedrich Gogarten eine immer größere Bedeutung und innerhalb des Katholizismus die Bücher von Ernst Michel, die auch zum Teil Goethe umfassen, und das Sammelbuch »Kirche und Wirklichkeit«, von ihm unter Mitarbeit von Romano Guardini, Josef Wittig u.a. herausgegeben.

Den Weg zum kommenden Sozialismus, der alle Klassen vereinigen wird, weist als erster Hendrik de Man. Eng verbunden mit der Umgestaltung unseres sozialen Denkens ist die freie Volksbildungsbewegung. Sie erfuhr innerhalb des Verlags ihre Vertretung durch eine Schriftenserie »Die Zeitwende«. Sie erhielt ihre Grundlage durch die erste deutsche zweibändige Herausgabe[79] von Grundtvigs Schriften zur Volksbildung. Die sich anschließende Körperkulturbewegung ist vertreten durch die beiden Systeme Rudolf Bode und Laban und brachte das nach dem Urteil der Fachleute beste Buch über die ganze rhythmische Bewegung in Müllers »Rhythmische Gymnastik«.

Die Weiterführung der philosophischen Linie des Verlags ist vertreten durch die Namen Holzapfel, Hans Freyer und Ludwig Klages. Dann vermehrte Nestle die Vorsokratiker um zwei weitere Bände, Sokratiker und Nachsokratiker, und gab dadurch ein dreiteiliges handliches Anschauungswerk der gesamten griechischen Philosophie bis Plotin in ihren wesentlichsten Quellen für alle philosophisch Interessierten.

Die künstlerischen Bücher des Verlags erfuhren Erweiterung durch ein Buch von Bruno Taut über die Stadtkrone, Bücher zweier Maler (Wagner und Lothar von Kunowski) über das Wesen der Kunst. Vor allen Dingen aber durch das große zweibändige Werk von Richard Benz »Die Stunde der deutschen Musik«. Auch die Briefe Richard Wagners an Hans von Bülow wurden veröffentlicht. Hans Thoma schrieb seine Lebenserinnerungen und über Lichtwark erschien die erste Biographie von Anna von Zeromski. Etwas Zukunftsweisendes nahm der Verlag auf, indem er die beiden religiösen Graphiker der Jetztzeit, Gustav Wolf und Max Thalmann in großen Mappenwerken brachte. Mit diesen beiden Künstlern setzt die kommende religiöse Kunst auf dem Gebiet der Graphik ein.

Die Serien »Religiöse Stimmen der Völker«, »Die Religion und Philosophie Chinas« sowie das »Zeitalter der Renaissance«, die durch den Krieg unterbrochen waren, wurden wieder weiter geführt.

Auf dem Gebiet der schönen Literatur tauchten einige neue Namen auf. Lulu von Strauß und Torney ging mit ihren sämtlichen Werken in den Verlag über. Ina Seidel, Lou Andreas-Salome, Agnes Miegel brachten neue Romanbände. Hans Friedrich Blunck,[80] Ernst Schmitt, Victor Meyer-Eckhardt, Otto Gmelin, Karl Lieblich, Hermann Graedener gehören zu den neu heraufkommenden Schriftstellern, die durchzusetzen der Verlag bemüht ist.

Bis zum 1. Januar 1927 umfaßte die Verlagsproduktion 1413 Bände. Eine stattliche Zahl, aber immerhin noch nicht so viel wie die eines anderen Jenaer Verlegers, Johannes Bielke, der Ende des 17. Jahrhunderts lebte. Er hatte es auf 2203 Bände gebracht und gilt bis heute als der produktivste aller deutschen Verleger, trotzdem die Allgemeinheit seinen Namen gar nicht kennt. Zugleich war er auch Bürgermeister.

Die Zukunftsfrage: Gelingt es dem deutschen Volke, sich aus seiner Eigenart heraus endgültig zu gestalten? wird dadurch entschieden, ob es ihm gelingt, sich entscheidend mit dem Amerikanismus auseinander zu setzen, der alles rettungslos zu mechanisieren droht. Mit großer innerer Freude bringt darum der Verlag jetzt das entscheidende Buch darüber, das das »Entweder-Oder« aufzeigt. Es nennt sich »Halfeld, Amerika und der Amerikanismus«. Schon früher gingen allerlei Bücher über Amerika voraus, in erster Linie das von Wells über die Zukunft Amerikas, die beiden Bücher von Müller über Volksbildungswesen und religiöses Leben, das Buch von Voechling über die amerikanische Frau und Bücher von Vershofen über das Finanz- und kaufmännische Gebaren in Romanform. Ein ganz besonders wichtiges Buch über das Verhältnis des ältesten Amerika zu Europa wird Hetman Wirth herausbringen. Es bringt, gestützt auf archäologische Funde, Schriftzeichen und Mythos, den Nachweis des Zusammenhangs seiner älteren Kultur mit Europa bis etwa zum Jahr 9000. Zu dieser Zeit ist dann logischerweise der Untergang von Atlantis anzusetzen.

Als ich im Herbst 1925 eine Reihe öffentlicher Vorträge in den Hansastädten über den Verlegerberuf hielt, faßte ich den Schluß meiner dortigen Ausführungen in folgende sieben Thesen zusammen; die Zukunft wird entscheiden, ob ich richtig sehe.
[81]

These 1


»Nicht in einer einseitigen Entwicklung zur Technik oder im amerikanischen Mammonismus liegt unsere deutsche Aufgabe, sondern wir haben in unsere Berufsarbeit einen metaphysischen Sinn zu legen.«


Technik bringen auch Amerikaner, Engländer, Franzosen und Italiener fertig, metaphysisch veranlagt ist nur das deutsche Volk. Infolge seines nordischen Blutes ist der Deutsche ideenhaft, infolge seiner Blutmischungen aber aktiver als die anderen europäischen Völker. Die Aktivität ist bei ihm so stark, daß er die Arbeit erforderlich für die Formung der Lebensbindungen hält, sie wird ihm daher eine überpersönliche Forderung zur Entfaltung des Ich.


These 2


»Die augenblickliche Aufgabe Deutschlands liegt negativ in der Abkehr vom Materialismus, positiv liegt sie auf religiösem Gebiete wie zur Zeit der Reformation in der Aufgabe einer religiösen Neubildung.«


Es handelt sich aber nicht darum, das Urchristentum wieder neu zu beleben, sondern im Sinne Goethes eine vertiefte Anschauung zum Kosmischen zu gewinnen und den Gott-Begriff von seiner Vermenschlichung zu lösen. Wir stehen gewissermaßen vor der Aufgabe, das geistige Urphänomen zu erkennen, indem wir die Wachstumsgesetze des geistigen Lebens vom Körpergefühl bzw. der Körperkultur aus erfassen.


These 3


»Die Grundlagen des zukünftigen religiösen Lebens beruhen in einem tragischen Lebensgefühl und in dem Schicksalsgedanken.«


Tragisches Lebensgefühl hat nichts mit der Weltanschauung des Pessimismus zu tun, es ist gewissermaßen das Begleitgefühl zum Kristallisationsvorgang der Persönlichkeit. Nur zwei Völker besitzen es in ihrem religiösen Mythos, die alten Griechen und die alten Germanen. Der Schicksalsgedanke geht gleichfalls bei beiden Völkern parallel, in ihm kristallisiert sich das Gefühl der Ab hängigkeit von kosmischen Mächten.


These 4


»Daraus ergibt sich, daß nicht das starre Gesetz: ›Du sollst!‹ herrschen darf, sondern daß als religiöses Urphänomen die geistige[82] Spannung zwischen Materie und Geist gilt. Es fußt auf der Erkenntnis der Polarität als kosmisches Gesetz.«


Also eine Abkehr von traditionellen Moralbegriffen zugunsten der Dynamik des aus dem Unmittelbaren heraus und in der Spannung lebenden Menschen. Das Wort Idealismus ist abgewirtschaftet, weil seine Einstellung logozentrisch und daher nicht in der Spannung der beiden menschlichen Wesenheiten beruht. Jede menschliche Individualität ist in der Anlage naturbedingt unvollkommen. Die Kultur aber der einseitig auf sich gestellten Einzelpersönlichkeit oder einzelner Schichten führt daher immer zu Scheinkultur, sie ist nie universal. Eine Kultur des Ganzmenschentums ist nur durch die Beziehung der Individualität auf die Volksgemeinschaft und weiterhin auf die Weltgemeinschaft möglich. Aber alles Handeln und Erkennen wurzelt in der »Erdkraft«, denn man baut nicht ein Haus von oben, sondern von unten. Es kommt mehr auf die innere Haltung an als auf Wissen.


These 5


»Tritt das Leben und Denken aus der Unmittelbarkeit des Lebensprozesses heraus, führt es über das symbolische Erleben des Typischen zu einem neuen Myth os.«


Der Gott-Begriff dieses neuen Mythos ist die Verpflichtung zum geistigen Leben. Wir überwinden die anthropomorphe Vorstellung des persönlichen Gottes durch die Verpflichtung zum geistigen Leben und begründen diese durch das Spannungsgesetz der Polarität. Der Gegenspieler des Grundprinzips unseres Planeten, der Anziehung der Schwerkraft zur Erde, ist der geistige Auftrieb zum Kosmos hin. Jener bedingt allein die menschliche Würde, die Gottesverwandtschaft des Menschen.


These 6


»Die Form des neuen Mythos bedeutet ein organisches Erleben kosmischer Gesetze.«


Sein Inhalt nähert sich nicht der Form des altgermanischen Walhalla-Glaubens oder des griechischen Olymp, sondern geht in der Richtung der Goetheschen Entelechie und fordert ein weiteres Tätigkeitserleben über die Erdentätigkeit hinaus. Erinnern wir uns auch Goethes orphischer Worte und seines Glaubens der Schicksalsverbundenheit mit der Sonne und ihren Planeten. Damit wird der Tod zu einer weiteren Wandlung des Lebens, er ist nicht Vernichtung.


These 7


»Die Grundforderung alles neuen Werdens ist daher: Fange[83] bei dir selbst an, stelle an dich selbst die höchsten Anforderungen, ehe du welche an andere stellst.«


Die Urzelle aller menschlichen Kultur ist die menschliche Individualität. Der nächste Schritt ist Zellenbildung und Gruppenbildung. Kultur entwickelt sich nie durch Organisation. So wird der Sinn des Lebens durch Denken, dem Tun vorausgeht, gefunden; denn Diesseitswirken und Ideenwelt müssen in Spannung stehen. Metaphysisches Denken erfordert als Gegenpol soziales Handeln.


Alles Denken zur Zukunft geht bei mir vom Beruf als von der Wurzel meines Lebens aus. Es würde für mich spintisieren bedeuten, wenn ich nicht auch zugleich versuchte, mein Denken in die praktischen Berufsfragen zu übertragen. Dem Buchhandel ist die »Lauenstein-Bewegung« mit ihren fünf Tagungen auf Burg Lauenstein und einer in Nürnberg bekannt. Ich versuchte durch sie die innere Auffassung von der Verpflichtung des Buchhändlers gegenüber der Volksgemeinschaft zu formulieren. Die nächste Aufgabe war, die Fortbildung buchhändlerischen Nachwuchses in Angriff zu nehmen, und als letzte Konsequenz ergab sich dann mein Eintreten in den Kampf um die Schutzfrist vom Interesse der Volksgemeinschaft aus.

Ich fühle mich in gleicher Phalanx mit so manch anderem gleichstrebenden deutschen Verlag. Seit einem Menschenalter hat der nach Selbstentfaltung strebende Mensch eine unendlich reiche Auswahl von wertvollen Büchern.

Es fehlt uns nur noch die Tat. So gelten Hölderlins Worte noch heute für uns:


Spottet ja nicht des Kinds, wenn es mit Peitsch und Sporn,

Auf dem Rosse von Holz mutig und groß sich dünkt,

Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid tatenarm und gedankenvoll.

Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt,

Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?

O ihr Lieben! So nehmt mich, daß ich büße die Lästerung!
[84]

Quelle:
Diederichs, Eugen: Aus meinem Leben. Jena 1938, S. 72-85.
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