Drittes Kapitel.

Geschichtliches und Statistisches.

[24] Die Urgeschichte Neustadts war bis vor wenigen Stunden in sternloses Dunkel gehüllt. Dank meiner stets versagenden Taschenlampe und eines wirklich ausgezeichneten dreigesternten Hennessy ist es mir soeben gelungen, den Schleier, der über der Urzeit unserer teuren Vaterstadt lag, zu lüften!

Ein mit Hieroglyphen bedeckter Ziegelstein, der, nach ähnlichen Funden zu urteilen, aus der Staatsbibliothek zu Ninive stammt und durch ein gütiges Geschick bzw. einen ungeschickten Handlanger beim Neubau des Warenhauses von F. Salomonsohn & Co. mir heute morgen auf den Fuß fiel, hat wie ein Blitz den Abgrund meines Forschergeistes erhellt und den besagten Schleier in vier Teile zerrissen. (Meine Frau ist dabei, ihn zu flicken.)

Nach diesem gewichtigen Kulturdokument (es wiegt netto 12 1/2 Pfund) wurde Neustadt am 29. Februar des Jahres 6404 vor Erschlaffung der Welt nach einem ausgedehnten, sehr fidelen Frühschoppen gegen 4 Uhr nachmittags von einer keltisch-arabischen Terrain-Schieber-Gesellschaft gegründet. Nach Angabe des Gründungsprotokolls[24] wurde der zuständige Landrat sofort mittels Bierkarte von diesem fröhlichen Ereignis benachrichtigt und die Straßenverunreinigung unverzüglich aufgenommen. Der zu diesem Zweck aus Babylon mitgebrachte Sprengwagen stände heute noch im Neustädter Spritzenhaus, wenn ihn nicht der Hunne Attila mitgenommen und bei der Württemberger Metallwarenfabrik zu einem Sektkühler hätte umarbeiten lassen.

Hier ist leider eine Ecke aus dem ehrwürdigen Stein herausgebrochen; ich habe versucht, sie durch Glaserkitt und meinen zerstampften Hausknochen zu ergänzen, habe aber trotzdem nur wenig Ausschluß über die der Gründung folgenden Jahrtausende erhalten. Soviel scheint jedenfalls festzustehen, daß die Neustädter Jugendwehr die bekannte Schlacht im Teutoburger Walde durch ausgiebige Verwendung von Stinkbomben, Feuerwerkszigarren und Juckpulver entschieden hat. Sie bekam zum Lohn dafür von Hermann dem Befreier einen alten Kuhkäse geschenkt.

Die Angaben über die nächsten Jahre sind wiederum unklar. In 6. Jahrhundert muß ein sogenannter Butterkrieg ausgebrochen sein; ich schließe das aus einem gerade an dieser Stelle des Steines befindlichen Fettfleck. (Meine Frau wollte ihn schon für die Küche requirieren, ich habe ihn aber schlemmerhafterweise als Belag auf mein Frühstücksbrot verwendet.)

Lustige Zeiten brechen erst mit Pipin dem[25] Großen an. Dieser edle Landstreicher,1 dem wir bekanntlich die Erfindung der Luftschaukel und der Bouillonwürfel verdanken, ist nach meinen Forschungen auch der Vater des Neustädter Vogelschießens.

Er ging schon lange mit der Absicht um, es zu erfinden, hatte aber bisher wegen einer notwendigen Steuerhinterziehung noch keine Zeit gehabt. Da fiel ihm eines Tages in der Schonzeit die große chinesische Mauer ein, die, wenn man sie jedes Jahr am 1. Mai aufsucht, regelmäßig auf demselben Platze steht. »Ha,« rief der Kaiser, der gerade beim Barbier saß, nahm drei Schritt Anlauf links und sprang auf, »ha –« in diesem Moment fiel draußen ein Schuß (sein Bengel, der nichtsnutzige Ludwig, hatte Kobolz geschossen), »ha,« nahm der Kaiser seinen Ausruf aus der Zelle wieder auf, »heit Abend jeh ick uff'n Schützenball!!!«

Da war's geschehen! Die Erfindung war gemacht! Der diensttuende Polizeischersant, die Karusselbesitzer, Schießbudenfräuleins, Wurstmaxe usw. wurden gebührenfrei in Kenntnis gesetzt, und seitdem findet das Vogelschießen alljährlich und regelmäßig auf demselben Platze draußen vor dem Mühlentor statt. – – –

Am 5. April 1003 wurde die Gasbeleuchtung abgestellt. Das finstere Mittelalter war hereingebrochen. (Etwas später als anderswo, dafür[26] hörte es aber auch in Neustadt einen Feldposttag später auf.) Die Aufklärung setzte erst ein, als ein Mann mit Namen Lehmann aus Berlin zuzog. Seit diesem Tage marschiert die Stadt an der Spritze der Zivilisation.

Das Neustädter Wappen zeigt auf einem Hintergrund von verflochtenen Knackwürsten eine Weiße mit Luft, sinnig, aber geschmackvoll umrahmt von einer Kette durchlochter Besenstiele; als Helmzier dient ein hohler Backzahn, der an Sonn- und Scheuertagen durch einen Schneidezahn ersetzt wird. Die Bedeutung dieses Wappenbildes ist klar: Der Backzahn ist das Symbol der Fruchtbarkeit, weise gedämpft durch den ehrbaren Hausbesen, während die schäumende Weiße auf dem Knackwursthintergrund den allzeit fröhlichen Durst sowie die absolute Wurschtigkeit der Neustädter Eingeborenen versinnbildlicht.

Dagegen weist der sonntägliche Schneidezahn auf ein düsteres Kapitel der Neustädtischen Stadtchronik hin, in dem ein aus dem Wappenkranz entwendeter und alsbald in Transversalschwingungen versetzter Besenstiel sowie die unverzagte Gattin eines leider erst um 4 Uhr morgens heimwandelnden Ratsherrn eine geheimnisvolle, aber beklagenswerte Drehrolle spielen – – –! (Weitere Einzelheiten sind mir zwar nicht bekannt, ich werde sie aber zu einem Schauerfilm von 8725 m Länge und der entsprechenden Tragik verarbeiten.)[27]

Das Wappen ist uralt, was um so erstaunlicher ist, als es aus einer Zelt stammt, wo es noch gar keine Uhren gab!

Die Ungewitter der Statistik rasen auch über Neustadt.

Neustadt verfügt über sieben Badewannen (darunter eine Sitz-), einen stark vernickelten Bürgerstolz vor Königsthronen (konservativer Wahlverein!) und 17 sturmerprobte Kindermädchen, einen liberal verseuchten Nachtwächter, 4 staatlich angestrichene Briefkästen nebst 24 unverdorbenen Prellsteinen, auf je einen Einwohner 93 Warnungstafeln mit insgesamt 95699 Jahren Zuchthausstrafen, 3 Doppel- und ein ganz einfaches Pony, 1 Posaunenklub, 1 Verein zur rationellen Zucht eingefleischter Bock- (Wurst-) Käfer (ohne Fleischmarke!!), sowie die vorschriftsmäßige Anzahl Kaffeesurrogatkränzchen, Stammtische, Hebammen und Garnisondienstfähige.

Nach den regelmäßigen statistischen Erhebungen schwankte während des letzten Jahrhunderts die Zahl der Einwohner erheblich, oder, wissenschaftlich ausgedruckt: Eine erhebliche Anzahl Einwohner schwankt regelmäßig nach Hause (vom verlängerten Dämmerschoppen).

Nach landläufiger Ansicht müßte dies ein schiefes Licht auf die Neustädter Verhältnisse werfen. Meiner lächerlichen Überzeugung nach ist schon das Bewerfen von Verhältnissen (Mizzi, Tilli usw.) mit geraden Lichtern ein zwar riesig[28] aufregender, aber frivoler Sport; welche Vorteile man sich aber von dem Werfen mit schiefgehaltenen Lichtern verspricht, ist mir kreisrätselhaft! Man soll überhaupt auf Versprechungen nichts geben, dann braucht die Ansicht auch nicht über Land zu laufen. – – –

Dies letztere Problem hat mich – wie ich soeben bemerke – derartig ergriffen, daß ich den Federhalter ergreise, um ihn wegzulegen.

1

Der »Kunde« nennt den Landstreicher respektlos Monarch.

Quelle:
Engelhardt, Wilhelm: Kleiner Knigge für heimkehrende Sieger nebst kurzer Instruktion über die Heimat. Berlin 1918, S. 24-29.
Lizenz:
Kategorien: