Ein junges Mädchen aus der Pension an seine Mutter.

[154] Meine theure Mutter!


Wie sehr bedaure ich, daß Dein Geburtstag nicht in die Ferien fällt! Mit welcher Freude würde ich Dich umarmen und Dir dabei tausendfältig die Gefühle meines Herzens aussprechen.

Ich war einige Zeit recht traurig, indem ich daran dachte, daß Ihr den heutigen Tag im frohen Familienkreise ohne mich feiern würdet; aber ich gab der Vernunft Gehör und habe mich dadurch getröstet. Obgleich diese augenblickliche Trennung für mich sehr grausam ist, gewährt sie mir doch einen neuen Beweis Deiner Liebe für mich; denn indem Du einwilligtest, mich von Dir fortzulassen, hast Du Dir neue Opfer auferlegt, damit meine Erziehung nichts zu wünschen übrig ließe. Ich will daher auch mit mehr Eifer, als je, aus dem Unterrichte meiner guten Lehrer und Lehrerinnen Vortheil zu ziehen suchen, um Dich durch meine Fortschritte vollkommen zu befriedigen.

Lebe wohl, meine geliebte Mutter! Ich umarme Dich von ganzem Herzen und bitte Dich, bei dieser Gelegenheit[154] die wiederholten Versicherungen meiner Dankbarkeit und Ergebenheit anzunehmen.

Mit der innigsten Liebe

Deine

gehorsame Tochter

L.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 154-155.
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