Von den Mahlzeiten.

[56] Wir wollen nicht eben eine Lobrede auf Gastereien halten, aber dennoch ist es unleugbar, daß es nichts Angenehmeres giebt, als eine lebhafte Unterhaltung in[56] guter Gesellschaft, wenn diese aus guten Freunden, liebenswürdigen Wirthen und heitern Gästen besteht, die an einer gut servirten Tafel versammelt sind, an welcher Freundschaft, guter Appetit und muntere Laune den Vorsitz führen.

So unschicklich und unbescheiden es ist, sich zu einer Mahlzeit erwarten zu lassen, wenn man eingeladen ist, ebenso unpassend ist es auch, einen Besuch gerade zur Essenszeit abzustatten, weil man dadurch eine Einladung erzwingt, welche anzunehmen ebenso unhöflich ist, als sie abzuschlagen. Kennt man daher die Gebräuche eines Hauses nicht, so muß man sich nach der Stunde des Mittagsessens beiläufig erkundigen, damit man nicht in die Gefahr geräth, unwissentlich eine Grobheit zu begehen, indem man sich zu eben dieser Stunde zu einer Visite melden läßt.

Eine Einladung zu einem Mittagsessen muß wenigstens zwei oder drei Tage vorher geschrieben und die Antwort darauf schriftlich ertheilt werden.

Ist man eingeladen, so darf man weder zu früh, noch zu spät erscheinen. Kömmt man zu früh, so setzt man den Gastgeber in Verlegenheit, da er in der Regel noch bis zum letzten Augenblicke mancherlei Anordnungen zu treffen hat. Kömmt man zu spät, so erregt man dadurch allgemeine Ungeduld und Unzufriedenheit unter den andern Gästen, und ein bekanntes Sprüchwort sagt: Die Abwesenden haben Unrecht; – oder auch: Wer sich erwarten läßt, über den wird hergezogen. Dieß Letztere besonders ist so wahr, daß man überzeugt sein kann, alle seine Fehler und Schwächen an das Licht gezogen zu sehen, wenn man sich der Unart schuldig macht, über die Gebühr auszubleiben.

Sind die Gäste in dem Salon versammelt, so stellt der Wirth die, welche sich noch nicht kennen, einander vor, worauf dann der Ruf ertönt: Es ist angerichtet![57]

Man bietet nun einer der Damen den rechten Arm und führt sie in das Speisezimmer; dabei hat man indeß die vornehmeren Damen den vornehmeren Herren zu überlassen und bei der Reihe des Eintrittes die Rangordnung zu beobachten.

Wünscht man einer oder der andern Dame vorzugsweise den Arm zu bieten, – woraus das Recht entspringt, bei Tische ihr Nachbar zu sein, – so muß man sich geschickt in ihrer Nähe zu halten wissen, damit nicht, wenn das Signal ertönt, ein gewandterer Nebenbuhler uns zuvorkömmt.

Bei dem Vortritt in das Speisezimmer hat man sorgfältig jede zeitraubende Rangstreitigkeit zu vermeiden, weil dadurch die Nachfolgenden unnöthig aufgehalten werden, und es immer eine Unbescheidenheit ist, Jemand warten zu lassen. Man vergebe aber bei eigener Bescheidenheit auch der Dame nichts, welche man führt. Umsicht und Entschlossenheit werden alle diese kleinen Uebelstände zu vermeiden wissen.

Wenn man bei sich Gäste zum Mittagsessen empfängt, muß man darauf achten, daß die Eingeladenen so viel als möglich zueinander passen; besonders aber muß man es vermeiden, an seinem Tische feindselige Elemente zusammenzubringen, weil dadurch nur allzu leicht die allgemeine Heiterkeit und Freude gestört werden kann. Es ist im Allgemeinen sehr unangenehm, Feinde zu haben, aber noch viel unangenehmer ist es, mit unseren Feinden an einem und demselben Tische essen zu müssen; denn die Tafelfreuden bedingen eine Art brüderlicher Uebereinstimmung, wenn sie nicht sehr viel von ihrem Genusse verlieren sollen.

Die Dame des Hauses tritt zuerst in das Speisezimmer, um die Honneurs der Tafel zu machen, an der sie den Vorsitz führt. Der Platz neben ihr ist der Ehrenplatz, deßhalb hat auch der Vornehmste oder Angesehenste unter den Eingeladenen das Recht, zugleich aber die Pflicht, ihr den Arm zu bieten. Wollte ein Gast, welcher[58] auf diesen Vorrang keinen Anspruch hat, oder doch wenigstens keinen vollbegründeten, der Dame des Hauses den Arm bieten, so machte er sich dadurch einer großen Indiscretion schuldig, denn er sagte dadurch sehr verständlich: Ich halte mich in diesem Kreise für die angesehenste Person! Dieß wäre aber jedenfalls eine große Anmaßung, wenn der Vorrang ihm nicht unbedingt gebührt. Zugleich setzte er sich aber auch einer Zurückweisung von Seiten der Dame aus; denn befindet sich in der Gesellschaft ein entschieden Höherer, als der Zudringliche, so würde dessen Arm nicht angenommen werden, sondern die Dame des Hauses hätte die Verpflichtung, ihren Arm Dem zu geben, welchem der Ehrenplatz an ihrer Seite unbedingt gebührt.

Der Wirth beschließt die Reihe der Gäste und betritt zuletzt das Speisezimmer, es sei denn, daß er einer unter den geladenen Damen die besondern Honneurs zu machen hat. In diesem Falle bietet er ihr den Arm und eröffnet mit ihr die Reihe, um die fremde Dame auf den Ehrenplatz zu führen. Hinter ihm folgt dann die Dame des Hauses mit dem vornehmsten Herrn.

Die Plätze werden entweder durch Karten mit den Namen der Gäste bezeichnet, oder diesen durch namentlichen Aufruf von den Wirthen angewiesen, oder endlich – man überläßt es den Eingeladenen, sich selbst einen Platz zu wählen. Dieser letztere Gebrauch ist namentlich bei freundschaftlichen Diners am Meisten zu empfehlen.

Hat man seinen Platz gewählt, gefunden oder angewiesen erhalten, so setzt man sich erst nach seiner Dame, deren Stuhl man zurückzieht, damit sie bequemer und ohne eigene Bemühung Platz nehmen kann.

Die Serviette legt man halb aus einander gebreitet auf den Schooß und setzt sich weder zu nahe an die Tafel, noch zu weit von derselben ab. Die Nachbarn darf man auf keine Weise incommodiren, auch nicht die Arme auf den Tisch legen, geschweige denn die Ellenbogen aufstützen.[59]

Die Suppe verzehrt man, sobald sie sich abgekühlt hat; die Gabel darf aber dabei eben so wenig, wie bei irgend einer andern Gelegenheit mit dem Löffel zugleich gebraucht werden, denn der Löffel ist ausschließlich zum Genuß der Suppe bestimmt, muß daher auf dem Suppenteller liegen bleiben und mit diesem verschwinden. Die Gabel dagegen dient während des ganzen Mittagsessens, und darf daher nicht auf dem Teller liegen bleiben, sondern muß ebenso, wie das Messer, nach jedem Gerichte, welches man gegessen hat, neben den Teller gelegt werden. Eine Ausnahme von dieser Regel ist jedoch dann gestattet, wenn man nach dem Genusse eines oder des andern Gerichtes, welches sich besonders an Gabel und Messer anlegt und daher dem nächstfolgenden seinen Geschmack mittheilen würde, Gabel oder Messer, oder Beides, gegen reine zu vertauschen wünscht. In diesem Falle ist dieß ein Zeichen für die Dienerschaft, mit dem Teller die gebrauchten Utensilien fortzunehmen und dem Gaste dafür reine hinzulegen. Auch ist es in einigen vornehmeren Häusern üblich, Messer und Gabel nach jedem Gerichte zu wechseln. Wo dieß geschieht, da läßt man sie auf dem Teller liegen und sie werden dann mit diesem zugleich gewechselt.

Es giebt eine Menge Dinge, welche man bei dem Essen zu beobachten oder zu vermeiden hat, und obgleich es bei den meisten so scheint, als verständen sie sich von selbst, werden sie dennoch manchen unserer Leser wahrscheinlich unbekannt sein, und wir halten es daher nicht für überflüssig, diese kleinen Vorschriften des Anstandes, der Schicklichkeit und des Gebrauches hier anzuführen.

Man spiele nicht mit dem Messer oder der Gabel, indem man auf dem Teller damit trommelt oder sonst irgend etwas mit diesen Geräthen vornimmt, wozu sie nicht bestimmt sind;

man schneide sein Brod nicht, beiße auch nicht in das ganze Stück hinein, sondern breche sich nur immer das Stückchen ab, das man zu der Speise essen will;[60]

man schneide nicht das ganze Fleisch auf ein Mal in kleine Bissen sondern nur allmählig, wie man es ißt. Deßhalb ist es sehr üblich, das Messer mit der rechten Hand zu halten, die Gabel aber mit der linken, weil man dadurch der Unannehmlichkeit überhoben wird, Messer und Gabel fortwährend aus einer in die andere Hand zu nehmen oder wechselsweise neben sich auf den Tisch zu legen;

man tütsche die Sauce vom Teller nicht mit Brodkrume auf;

man wische jederzeit den Mund ab, bevor man trinkt, thue dieß auch nie, so lange man die Speisen nicht vollständig hinuntergeschluckt hat;

man spreche nie mit vollem Munde;

man schlinge nicht wie ein Vielfraß, nehme aber stets das an, was der Herr oder die Frau vom Hause als besondere Aufmerksamkeit anbieten;

man vermeide bei dem Essen jede hörbaren Töne, wie Schmatzen mit den Lippen, lautes Schlürfen der Flüssigkeiten etc.;

man breche nicht in enthusiastische Lobpreisungen der aufgetragenen Speisen aus, noch viel weniger aber gestatte man sich einen Tadel derselben, und wäre es auch der leiseste;

man fasse nie an den Teller oder an das Glas des Nachbars;

man spreche nicht zu laut;

man vermeide es sorgfältig, sich durch den Genuß des Weines aufzuregen. Ein Rausch ist in guter Gesellschaft vollends verpönt; indeß kann man sich bei bloßen Herren-Diners in dieser Beziehung schon etwas mehr Freiheit gestatten;

man vermeide bei Tafel noch sorgfältiger als sonst, jedes Gespräch über Politik oder Religion anzuregen; geschieht dieß von Andern, so nehme man daran nur mit großer Vorsicht und Zurückhaltung Theil;[61]

man sei artig gegen die Diener des Hauses, und wenn man etwas von ihnen wünscht, so rufe man sie bei Namen, oder wenn man diesen nicht kennt, gebe man ihnen einen freundschaftlichen Wink;

man versäume nie, seinen Nachbarn einzuschenken, sobald sie ausgetrunken, wenn einem das Amt zugefallen oder von dem Hausherrn übertragen ist, die Honneurs der Flasche zu machen, welche vor unserem Couvert steht;

man zeige tausend kleine Aufmerksamkeiten gegen seine Nachbarin, fülle ihr Glas, ohne sie jedoch zur Leerung desselben zu nöthigen, reiche ihr, was sie zu haben wünscht, vermeide aber sorgfältig, zudringlich oder ihr auf irgend eine Art lästig zu werden;

man reiche nach Beendigung der Tafel seiner Dame den Arm, um sie nach dem Salon ebenso zurückzuführen, wie man sie von dort in den Speisesaal geführt hat;

man darf nur bei dem Dessert dem Wirth und der Wirthin einen Toast ausbringen, außerdem sind Toaste nur bei politischen Diners gestattet;

man darf von dem Dessert nichts einstecken, ohne sich einer Unanständigkeit schuldig zu machen. Zuweilen jedoch fordert die Wirthin selbst dazu auf, und in diesem Falle ist es gestattet, von der Einladung Gebrauch zu machen. Kann man der Lust, seinen Angehörigen eine kleine Freude zu machen, nicht widerstehen, – denn Kinder oder kleine Geschwister rufen gewöhnlich, wenn man von einer Mahlzeit nach Hause zurückkehrt: »Hast Du mir etwas mitgebracht?« – dann muß man die Beseitigung der zierlichen Leckereien mit Taschenspielergeschicklichkeit zu vollbringen wissen, so daß Niemand davon etwas merkt.

Selten wird bei dem Dessert gesungen, indeß kömmt dieß in freundschaftlichen Kreisen und bei froher Stimmung doch wohl vor. Geschieht es und man wird aufgefordert, irgend ein Lied etc. zu singen, so muß man ohne Ziererei dazu bereit sein; hat man sich indeß bei der ersten Aufforderung geweigert, so muß man bei dieser[62] Weigerung bleiben, weil es sonst so aussehen würde, als hätte man anfangs nur nein gesagt, um sich bitten zu lassen;

sind Damen zugegen, so muß man sowohl in der Unterhaltung als bei dem Gesange darauf die sorgfältigste Rücksicht nehmen und ebenso bereitwillig auf die Wünsche der schönen Tischgenossinnen achten.

Trinkt man im Salon nach dem Diner Kaffee, so gieße man diesen nicht in die Untertasse, um ihn abzukühlen, sondern trinke ihn aus der Obertasse, und sollte er auch so heiß sein, daß man längere Zeit warten müßte, um ihn trinken zu können.

Den zum Kaffee gereichten Zucker nicht in die Tasse zu werfen, sondern in den Mund zu nehmen, wie dieß in einigen Gegenden üblich ist, würde den vollkommensten Mangel an Lebensart verrathen. Kann man seiner Gewohnheit keinen Zwang anthun, so muß man lieber ganz auf den Kaffee verzichten.

Nach dem Diner muß man noch etwa eine halbe Stunde bleiben, bevor man Abschied nimmt. Wollte man dabei für das Genossene danken, so würde man dadurch sehr spießbürgerliche Gewohnheiten verrathen.

Spätestens acht Tage nach dem Diner, – aber auch nicht zu unmittelbar nach demselben, – sagt man seinen Dank auf indirecte Weise durch eine Visite, welche mit dem Namen Verdauungs-Besuch bezeichnet zu werden pflegt.

Wer ein Mittagsessen giebt, darf dabei durchaus nicht knickern, und zwar eben so wenig in Beziehung auf die Speisen selbst, als auch in Beziehung auf die Nebendinge, wohin Beleuchtung, Heizung, Dessert, ganz besonders aber der Wein gehören. Was man giebt, sei gut, wenn es nicht vorzüglich sein kann; lieber gebe man weniger, als daß man dem Gaumen seiner Gäste Zwang anthue.[63]

Der Herr des Hauses muß während der Mahlzeit über die Unterhaltung wachen, und zwar ebensowohl darüber, daß sie nicht stocke, als darüber, daß sie nach keiner Seite hin ausarte; denn gegen das Dessert werden häufig die Zungen freier und es herrscht in der Gesellschaft eine größere oder geringere Aufregung.

Der Hausherr trachte nie danach, für sein Diner Lob zu ernten; noch weniger lobe er es selbst; indeß ist es ihm in einem mehr freundschaftlichen Kreise gestattet, auf eine oder die andere besondere Delicatesse aufmerksam zu machen, die vielleicht weniger bekannt ist. Dieß fällt natürlich da weg, wo man dem jetzt immer üblicher werdenden Gebrauche huldigt, neben das Couvert jedes Gastes ein elegant gedrucktes Programm der Mahlzeit zu legen. Dieß pflegt indeß nur bei größeren Gastereien der Fall zu sein.

Man sollte nun meinen, in dem Vorstehenden sei Alles erschöpft, was sich über das Benehmen bei Tische sagen läßt. Daß indeß außerdem noch Manches zu beobachten bleiben kann, möge die folgende Anecdote beweisen:

Ein berühmter Gelehrter, der seiner seltenen Kenntnisse ungeachtet in den Gebräuchen der Welt ziemlich unerfahren war, wurde eines Tages zu einem hohen Würdenträger zum Diner eingeladen und befand sich hier in sehr vornehmer, eben deßhalb aber ihm ungewohnter Gesellschaft, da er mehr dem Umgange seiner Bücher als der Menschen lebte. Gleichwohl hatte er die Schwäche, zu glauben, er besitze die feinste Lebensart und würde nicht durch sein Benehmen gegen die Forderungen der Etikette anstoßen. Er rühmte sich sogar dessen gegen einen Freund, der ebenfalls mit bei Tafel gewesen war, dieser aber entgegnete ihm lächelnd und neckend:

»Das bilden Sie sich nur ein, mein lieber Professor, denn Sie haben während des ganzen Diners einen Bock über den andern geschossen.«[64]

»Das ist nicht möglich!« entgegnete der Professor, halb gutmüthig, halb verletzt. »Soll ich Ihren Worten aber glauben, so müssen Sie mir die einzelnen Puncte angeben, in denen ich gegen den mir sehr gut bekannten Gebrauch der Welt gefehlt haben soll.«

»Wenn Sie es wollen, so bin ich dazu bereit,« entgegnete sein Freund. »Hören Sie also:

1) Sie haben Ihre Serviette ganz auseinander gelegt und dann nicht nur über sich ausgebreitet, sondern auch noch mit einem Knoten im Knopfloche befestigt. Das ist aber durchaus unstatthaft, denn man entfaltet sie nur einmal und legt sie so auf den Schooß.

2) Sie haben Ihre Suppe gegessen, indem Sie in der einen Hand den Löffel und in der andern die Gabel hielten. – Hilf Himmel, die Suppe mit der Gabel zu essen! Welch ein Einfall!

3) Sie haben ein Ei gegessen und die Schale auf dem Teller liegen lassen, ohne sie zu zerdrücken.

4) Sie haben um Geflügel gebeten, Unglückseliger, statt Huhn, Kapaun, Rebhuhn etc. zu verlangen.

5) Ehe Sie sich etwas zu trinken einschenken ließen, haben Sie in Ihr Glas geblasen und es mit Ihrer Serviette ausgewischt. Könnten Sie denn aber etwas Aergeres thun, als so Ihr Mißtrauen gegen die Reinlichkeit des Hauses zu beweisen? Mußte das nicht für den Herrn vom Hause, sowie für die übrigen Gäste sehr schmeichelhaft sein?

6) Sie sind gegen ihre Nachbarn, den Baron v.R., sowie gegen mich selbst, sehr unhöflich gewesen, denn so oft man Ihnen einschenkte, ließen Sie es sich einfallen, unsere Gläser zu nehmen und sie vor dem Ihrigen füllen zu lassen, ohne daß wir Sie darum gebeten hatten. Wer sagte Ihnen denn aber, daß wir trinken wollten? Wer sagte Ihnen, daß wir lieber Wein tranken, als Wasser, oder lieber diesen Wein, wie irgend einen andern? Wie konnten Sie wissen, ob der Hausherr nicht vielleicht Jedem von uns, in Folge besonderer Gunst, eine Bouteille[65] von unserem Lieblingswein hatte vorsetzen lassen? Bei einer noch so geringen bürgerlichen Mahlzeit würde man etwas so Unpassendes nicht thun dürfen.

7) Sie haben, wie Sie sagen, den Schnupfen, aber der öftere Gebrauch, den Sie deßhalb von Ihrem Taschentuche machen mußten, rechtfertigte keineswegs, daß Sie dasselbe, statt es jedesmal wieder in die Tasche zu stecken, neben sich über den Stuhl hingen; denn es ist nicht nur eine Unschicklichkeit, sondern auch eine Unreinlichkeit, und solch' ein Tuch gewährt einen ziemlich ekelhaften Anblick.

8) Da Sie sehr langsam essen und nicht die Vorsicht begingen, sich kleinere Portionen, als die übrigen Gäste, vorlegen zu lassen, mußte jedesmal, wenn ein neues Gericht zu präsentiren war, gewartet werden, bis Sie fertig waren. Finden Sie das etwa höflich? Sie hätten daher, sobald Sie sahen, daß außer Ihnen Niemand mehr aß, auch wenn Sie noch nicht aufgegessen hatten, Messer und Gabel neben das Couvert legen sollen, was für die aufwartenden Bedienten das Zeichen ist, daß sie den Teller wechseln dürfen.

9) Man hat Ihnen den Kaffee so heiß präsentirt, daß Sie ihn nicht gleich trinken konnten. Statt aber zu warten, bis er sich von selbst abgekühlt hatte, haben Sie ihn in kleinen Portionen in die Untertasse gegossen und aus dieser getrunken, was ganz gegen den Gebrauch ist. Unter allen Umständen darf man ihn nur aus der Obertasse trinken.

10) Als Sie ausgetrunken hatten, haben Sie den Kaffeelöffel über die Tasse gelegt, was da, wo kein guter Ton herrscht, so viel bedeutet, als: ›Ich mag nicht mehr trinken!‹ was aber in einer Gesellschaft, in der Lebensart herrscht, nicht üblich ist. Hier muß der Löffel in der Untertasse liegen bleiben.

11) Endlich, um allem Uebrigen die Krone aufzusetzen, haben Sie, als wir vom Tische aufstanden, Ihre Serviette sorgfältig zusammengefaltet auf Ihren Platz gelegt, als ob Sie sich einbildeten, daß man in einem solchen[66] Hause von der Serviette nochmals Gebrauch machen würde, ohne sie zuvor wieder zu waschen.

Sie sehen also, lieber Professor, daß Sie sich elf arge Verstöße zu Schulden kommen ließen.«

Der Gelehrte war ganz verwirrt über die Vorwürfe, die sein Freund ihm machte, aber er konnte nicht umhin, zuzugeben, daß sie begründet wären, und er nahm sich vor, in Zukunft die Gebräuche der Welt eben so eifrig zu studiren, wie seine Bücher.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 56-67.
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