Vorwort [zu Band 1]

Der Verfasser des vorliegenden Werks, den ich seit dem Beginn meiner Verteidigertätigkeit als eifrigen und gewissenhaften Gerichtsberichterstatter kenne, hat mich ersucht, sein Buch durch ein kurzes Geleitswort einzuführen.

Wenn es auch bei dem lebhaften Interesse, dessen es schon um seines Inhalts willen gewiß sein darf, kaum eines solchen Vor- oder Fürworts bedurft hätte, so habe ich doch diesem Wunsche gern entsprochen. Handelt es sich doch nach meiner Überzeugung um eine durchaus verdienstliche Arbeit, die mit Recht die ernste Beachtung aller derer beansprucht, die mit mir in der Geschichte des Verbrechens zwar ein besonders düsteres, aber deshalb um so lehrreicheres Kapitel der menschlichen Kulturgeschichte erblicken, – ein Kapitel, das der praktische Kriminalist, sei er nun Beamter der Polizei oder Staatsanwalt, sei er Richter oder gar Verteidiger, nicht aufmerksam genug studieren, nicht gewissenhaft genug auf Schritt und Tritt beherzigen kann.

Es gibt eben keinen erheblichen Straffall der Vergangenheit, aus dem die Strafrechtspflege von heute nicht fruchtbare Lehren für die Aufgaben des Tages schöpfen könnte und sollte.

Niemandem aber, der jemals praktisch beruflichen oder theoretisch wissenschaftlichen Anlaß gehabt hat, sich auf diesem Wissensgebiete umzuschauen, ist die betrübende Erfahrung erspart geblieben, wie ungeheuer rasch unsere schnell lebende Zeit auch in diesen ernsten Dingen vergißt. Solange ein aufsehenerregender Straffall verhandelt wird,[3] berichten die Tageszeitungen darüber, mehr oder minder ausführlich, mehr oder minder gewissenhaft. Nach wenigen Tagen aber spricht man schon nicht mehr davon. Und wenn man gar nach nicht allzulanger Frist aus kriminalistischem oder kulturgeschichtlichem Interesse darauf zurückgreifen will, so ist es kaum und immer nur mit ungemeinen Schwierigkeiten möglich, sich auch nur die dürftigsten tatsächlichen Notizen über den einst so berühmten Fall zu beschaffen. Ich selber könnte hiervon ein langes und schmerzliches Lied singen.

Alltäglich geht bei uns ein umfangreiches und wertvolles kriminalistisches Material unwiderbringlich verloren.

Der Sensationshunger unseres Publikums verlangt eben nur nach der seine Nerven kitzelnden Kost der cause célèbre von heute, und nur ganz wenige haben ein Interesse an der getreuen Aufbewahrung dieser documents humains als eines Besitzes für immer. Und doch; wie unendlich wichtiger und interessanter sind diese, die uns die Nachtseiten der Menschenseele wirklichkeitsgetreu schauen lassen, damit wir im Sinne des buddhistischen Tattwam asi – das bist du selber! – Einkehr halten in unser eigenes Herz, als die müßigen Phantasieausgeburten jener modernen Sherlock-Holmesnovellistik, um die sich die Leser reißen.

Wie das Publikum aber, so die Literatur!

Kaum auf einem praktisch wichtigen Wissensgebiete ist es bei uns um die geschichtlichen Quellen so kläglich bestellt wie auf diesem. Unsere Literatur, sonst überall so reich, ja überreich an nützlichen, wohl auch an unnützlichen Erzeugnissen, hier ist sie geradezu dürftig, hier läßt sie den Forscher fast bei jedem Schritt im Stiche.

Wir besitzen nicht eine einzige Zeitschrift von dem Quellenwert der Gazette des tribunaux oder des Droit, des Eco dei tribunali oder der Belgique judiciaire. Keine unserer großen Tageszeitungen erachtet die bemerkenswerteren Strafprozesse unserer Tage[4] einer Betrachtung sub specie aeterni für würdig, wie es die Times sooft in ihren Leitartikeln getan. Der neue Pitaval und Belmontes verdienstvolles Tribunal sind seit Jahrzehnten eingegangen, der deutsche Pitaval ist nicht über das vierte Heft hinaus gediehen; der Pitaval der Gegenwart und die gelegentlichen Prozeßberichte in Groß' ausgezeichnetem Archiv genügen nicht annähernd dem Bedürfnis des Forschers.

So wollen und dürfen wir den vorliegenden ersten Band eines Werkes, das sich gewissenhaft bemüht, eine empßndliche Lücke unserer Literatur an seinem Teile ausfüllen zu helfen, vom kriminalistischen wie vom allgemein kulturgeschichtlichen Standpunkt aus dankbar willkomrnen heißen.

Der Verfasser hat die von ihm behandelten Fälle so darstellen wollen, wie er sie als Draußenstehender sehen und schildern konnte; nicht wie einst Feuerbach auf Grund eindringendsten Aktenstudiums mit unvergleichlicher psychologischer Spürkraft das fein verzweigte Wurzelgeflecht der verbrecherischen Tat aufzuzeigen trachtete, sondern als getreuer Chronist kriminalistischer Tagesereignisse, der uns schlicht und sachlich berichtet, was er als aufmerksamer Zeuge miterlebt und mit dem raschen Stift des Journalisten als lebendiges Augenblicksbild festgehalten hat. Die kriminalistischen Momentaufnahmen, die er uns bietet, empiangen von dieser Unmittelbarkeit des Eindrucks einen besonderen Reiz und einen eigenen Wert.

Kaum einer unter seinen Fällen, dessen längst verblaßtes Bild nicht durch seine Schilderung wieder lebensvoll in uns aufgefrischt würde, nicht einer, aus dem sich nicht nach irgendeiner Richtung Wichtiges lernen ließe! Entnehmen wir dem Prozesse Kwilecka einen wichtigen Beitrag zur Lehre von der Ähnlichkeitsbestimmung und der Wiedererkennung von Personen, sonen, so gewährt uns der Fall des Blumenmediums Anna Rothe einen zugleich fesselnden und betrübenden Einblick in das Nebelheim der[5] Selbsttäuschung, in eine verkehrte Welt des läppischsten Aberglaubens, von dem wir nicht wissen, ob wir ihn belächeln oder beweinen sollen.

Noch mancherlei ließe sich hier zum Lobe des Buches sagen. Doch ein Vorwort soll nicht aufdringlich das hoc fabula docet vorwegnehmen und schon im voraus das Fazit ziehen, das für den Leser nur dann von bleibendem Werte ist, wenn er es selber gezogen hat.

So mag denn nun das Buch für sich selber sprechen!

Berlin, den 10. April 1910.

Dr. Erich Sello, Justizrat.[6]


Quelle:
Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911-1921, Band 2.
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