Vorwort [zu Band 2]

Die beifällige Aufnahme, die der erste Band dieses Werkes bei einsichtigen Beurteilern gefunden hat, bestärkt mich in der Überzeugung von seiner Nützlichkeit und Zeitgemäßheit, wie ich sie in meinem Geleitworte zum ersten Bande ausgesprochen habe.

Ich brauche das dort Gesagte nicht zu wiederholen, will mich vielmehr auf die Feststellung beschränken, daß alles, was ich dort zur empfehlenden Einführung des ersten Bandes sagen durfte, in gleichem Maße auch von dem zweiten gilt. Vielleicht in noch stärkerem. Denn die wesentlich ausführlichere Behandlung, die der Herr Verfasser den in diesem Bande vereinigten Fällen hat angedeihen lassen, kann nur dazu dienen, ihrem Studium für den Kriminalisten wie für jeden Gebildeten ein noch stärkeres Interesse und einen gesteigerten Wert zu verleihen. Die Bedeutung solcher Fälle für den Psychologen, um derentwillen sich eben ihre dauernde Aufbewahrung lohnt, liegt ja vor allem in der Fülle des Details. Und wie mir scheint, ist es dem Herrn Verfasser in diesem zweiten Bande mehr noch als in dem ersten gelungen, die von ihm berichteten Fälle mit einem Reichtum lebensvoller Einzelheiten auszustatten, so daß sie vielfach selbst für den Mann vom Fach als eine Fundgrube kriminalistischen Erfahrungswissens werden gelten dürfen. Wollte ich auf Einzelheiten eingehen, so würde ich etwa den Beitrag hervorheben, den der Fall Gönczi zu dem Kapitel von den anonymen und pseudonymen Briefen liefert, oder das frappante Beispiel einer falschen Selbstbezichtigung im Falle Land oder die verderbliche Wirkung plumper polizeilicher Beaufsichtigung, wie sie in der Verbrecherlaufbahn des Mörders Kneißl[3] eine nicht minder verhängnisvolle Rolle gespielt hat als in der des Hauptmanns von Köpenick unerfreulichen Angedenkens.

Die hier zusammengestellten Fälle bieten eine Reihe wechselvoller Bilder aus der Kriminalität unserer Tage, von denen fast jedes einzelne ein weit über die Augenblickssensation der cause célèbre hinausreichendes Interesse beansprucht. Der Fall Kneißl zeigt uns, daß die mittelalterliche Rinaldoromantik des freien Räuberlebens, wenn auch in modernisierter Form, auch heute noch fortbesteht, während uns die Fälle Hau und Brunke in den Personen ihrer Täter, – jeder von ihnen in seiner Art gleich widerwärtig, – einen ausschließlich der Gegenwart angehörigen Verbrechertypus in charakteristischer Ausprägung vor Augen stellen. Ich möchte in dieser Beziehung dem Fall Brunke eine besonders weittragende Bedeutung beimessen. Der jugendliche Verbrecher, der uns hier gezeichnet wird, vertritt in seinem kindischen Bildungsgrößenwahn dungsgrößenwahn und seiner grenzenlosen sittlichen Verlotterung, wie in seiner frühzeitigen geschlechtlichen Abgelebtheit und dem frivolen Spielen mit fremdem und eigenem Leben eine Klasse moderner Überknaben, die sich, weniger von des Gedankens als von des Lasters Blässe angekränkelt, Schopenhauers und Nietzsches echteste Jünger dünken, wenn sie die Begriffe Pflicht und Sitte als albernes Vorurteil von sich gestreift haben. Wenn die Gerichtsberichterstattung ihre Aufgabe dahin faßt, uns solche treu nach dem Leben gezeichnete Gestalten aus dem Verbrechertum unserer Tage vorzuführen, so wird sie zu einer nützlichen Gehilfin jener von allen Einsichtigen geforderten sittlich sozialen Hygiene erstarken, die uns nicht weniger not tut, als ihre längst in Ehren stehende ältere Schwester: die physische.

Zu den ganz modernen Fällen müssen wir auch den Fall Koschemann rechnen, der uns mit dem Dynamitattentat, um das es sich handelt, auf das Gebiet anarchistischer Mordgreuel hinüberführt. Dieser Fall scheint mir übrigens einer von denen zu sein, in denen das Schwert der Gerechtigkeit den falschen getroffen hat. Ich habe ihn in der Wiederaufnahmeinstanz aus den Akten kennengelernt und[4] bin danach für meine Person der Ansicht, daß Koschemanns Alibi für die entscheidende achte Abendstunde des 29. Juni 1895 so gut wie feststeht. Auch von diesem Falle dürfte der durch die Erfahrung immer neu bestätigte Satz gelten, daß bei den Geschworenen der Abscheu vor der Tat nur zu häufig die Lücken der Beweisführung ergänzt. Es will mir scheinen, als lasse die Darstellung des Verfassers, so sehr sie sich auch hier wie überall lobeswürdiger Sachlichkeit befleißigt, doch die gleiche Auffassung durchblicken.

Soweit mir die hier berichteten Fälle anderweit, sei es aus eigener anwaltlicher Erfahrung, sei es aus wissenschaftlicher Beschäftigung mit ihnen, bekannt geworden sind – über zwei davon habe ich mich selber öffentlich ausgelassen – entsprechen sie im großen und ganzen dem Bilde, das ich mir selbst schon vorher von ihnen gebildet hatte. Über einzelne wenig erhebliche Kleinigkeiten mag ich mit dem Verfasser um so weniger rechten, als darin ebensogut meine Erinnerung die unzuverlässigere sein mag.

Berlin, den 13. August 1910.

Dr. Erich Sello, Justizrat.[5]


Quelle:
Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911-1921, Band 3.
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