Der Klassenkampf.

[9] Aber für ihren Sieg bürgt auch die Taktik, die sie bisher verfolgte. Und zwar kann man bei ihr von einer dreifachen Taktik reden, wobei jede Art die zwei anderen ergänzte. Zunächst war ihre Taktik eine Taktik des Klassenkampfes. Diese besteht Bekanntlich darin, daß die Partei in all ihrem politischen Handeln sich auf eine einzige Gesellschaftsklasse, die der Lohnarbeiter zu Lande und in den Städten stützt. Die, für die sie arbeitet, bilden auch die Macht, die sie braucht, um die Früchte ihrer Arbeit zu erreichen. Und sie besteht weiter darin, daß Alles, was sie erreichen will, sie auf dem Wege des politischen Kampfes zu erreichen sucht. Sie macht [9] sich keine Illusionen über das innerste Wesen der übrigen Gesellschaftsklassen. Sie weiß: so sehnsüchtig und leidenschaftlich das Proletariat in die Höhe drängt, so leidenschaftlich und zäh sucht die Kapitalistenklasse die von ihr besetzten Höhen sich zu erhalten. Sie weiß, alles freundliche Bitten da oder dort, alles Paktiren und Diplomatisiren zwischen ihnen ist zwecklos. Nur der Kampf hat zwischen ihnen statt und berechtigten Zweck. Und in dem Kampf erreicht Der seinen Zweck, der schließlich der stärkere bleiben wird. Dem entsprechend ist stets das Verhalten der Partei im Reichstag, in der Presse, in der Agitation gewesen. Ueberall stand und steht sie allein. Ueberall sucht sie alle Handlungen der Gegner festzunageln als Handlungen von Gegnern, auch da, wo scheinbar alles mögliche Gute geboten wird. Sie hat dieses Gute immer noch als Danaergeschenke erweisen müssen. Hinter jedem Vortheil, den man ihr entgegenbrachte, lauerten zehn Vortheile, die dem Gegner zufielen. Wohl nahm sie in mehrfachen Fällen den einen Vortheil für ihre Klasse hin, aber sie entlarvte zugleich die Selbstsucht der anderen und machte damit manche geplante Gewinn derselben zu Luft. Selten hat sie sich auf Kompromisse eingelassen. Wo sie es that, geschah es, um verhängnißvolle Absichten der Gegner zu pariren, um gerade den Kampf gegen ihn mit verstärkten Kräften fortsetzen zu können. Und die Wirkungen dieser Klassenkampftaktik sind heute schon überall sichtbar: sie hat es bewirkt, daß die Wahrheit über unsere ökonomischen und sozialen Zustände bekannt wurde; sie hat diese Zustände bis in den letzten Winkel hinein beleuchtet; sie hat deren ganzen Schmutz, das ganze Elend, die ganze Unzulänglichkeit bloßgelegt; sie hat den ganzen bitterbösen Kontrast zwischen Dem, was ist, und Dem, was scheint, enthüllt. Sie hat weiter bewirkt, daß die einzelnen politischen Parteien sich als das entpuppt haben, was sie in Wirklichkeit sind, was stets alle politischen Parteien waren: Interessenvertretungen einzelner Gesellschaftsklassen in der Arena der Politik; daß sie sich nackt einander gegenüber stehen und sagen müssen, was sie in Wirklichkeit wollen. Sie, die Taktik des Klassenkampfes, hat den politischen Kampf selbst immer mehr zu einem Klassenkampf gemacht. Immer mehr dreht es sich um die eine und höchste Sache: Erhaltung oder Beseitigung der heute herrschenden Gesellschaftsordnung, um die letzte Doppelfrage: Kapitalismus oder Sozialismus, Absolutismus oder Demokratie. Diese Klassenkampftaktik hat die Sozialdemokratie selbst aus der Reihe und Qualität der übrigen, üblichen Parteien herausgehoben, hat sie in das Centrum des politischen Lebens gerückt, um das es sich bewegt, an dem alle anderen Parteien, an dem alle Aktionen der Regierung, an dem alle neu auftauchenden geistigen, sozialen und politischen Bewegungen immer ausschließlicher sich orientieren müssen. Ja, sie hat bereits den Gedanken des sozialistischen Endziels selbst zu einem wichtigen politischen Prinzip gemacht; sie wird ihn einst schließlich auch zum höchsten und eigentlich einzigen emporheben.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 9-10.
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