Die praktische Reformarbeit.

[10] Und neben der Taktik des Klassenkampfes steht die der praktischen Reformarbeit. Sie ist die Konsequenz des zweiten Theils des Parteiprogrammes und sie verfolgt keinen andern Zweck, als den, die proletarischen Massen, die die Taktik des Klassenkampfes und der Druck ihrer Klassenlage in die Reihen der Partei treibt, zu immer treueren Anhängern und immer leistungsfähigeren Kämpfern für das sozialistische Endziel zu machen. Daher die intensive Betheiligung der Sozialdemokratie an den bestehenden staatlichen Versicherungseinrichtungen, den Gewerbe- und Schiedsgerichten. Daher die unermüdliche Arbeit in den Gewerkschaften, die Schöpfung von Arbeitersekretariaten, die Errichtung von Gewerkschaftshäusern. Daher das unwiderstehliche Emporwachsen von Arbeiter-Konsumgenossenschaften, daher alle mühselige Einzelarbeit sozialdemokratischer Vertreter in Schul- und selbst Kirchenvorständen, in Gemeindevertretungen und Einzellandtagen. Das Alles hat nur das eine letzte Ziel, das kämpfende Proletariat nur immer stärker zu machen. Die Taktik der praktischen Reformarbeit soll die Klassenkampftaktik stützen und fördern, wie sie wieder von dieser, von Klassenbewußtsein und Klassenkampfstimmung getragen wird. Und auch hier ist die Wirkung ganz so, wie sie gewollt ist. Man vergleiche das Proletariat von vor zwanzig und dreißig Jahren mit dem von heute: es ist gesünder, geistig reger, selbstbewußter, willensstärker, kampfesfreudiger denn je. Alle praktische Reformarbeit hat es, zur größten Enttäuschung der Gegner, nicht von seiner Klassenkampftaktik, alle Einzelerfolge und Einzelverbesserungen haben es nicht von dem Letzten und Höchsten, von dem sozialistischen Endziel, abgebracht.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 10-11.
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