Viertes Kapitel.
[40] Gesangsunterricht. – Gastspiel in Halle. – Die Schlacht bei Leipzig. – Übergabe von Paris. – Erstes Auftreten.

Meine Stimme hatte sich immer mehr entwickelt, und obgleich mein Vater durchaus nichts vom Theater wissen wollte, gab er doch endlich zu, daß ich bei dem Musikdirektor Karl Eberwein Gesangsunterricht nahm. Er lehrte mich reine Intonation und regelrechten Anschlag des Tons. Meine Töne unter dem tiefen Baß-g hatten sehr wenig Klang, aber ich kaprizierte mich, ein tiefer Bassist zu werden, denn der berühmte Stromeier war einer, und der war mein Ideal. Ich versuchte auf alle mögliche Weise das tiefe d hervorzubringen, welches bei der Arie des Osmin: »Ha, wie will ich triumphieren!« so nötig ist. Endlich glaubte ich am Ziel meines Wunsches zu sein, und mit einer Art Selbstgefühl ging ich zu meinem Lehrer, um ihm besagte Arie vorzusingen. Dieser schmunzelte bei dem tiefen d, was ich im Anfang für Beifall nahm, aber mein Wahn wurde mir gleich darauf durch die Worte: »Mein Lieber! das ist ja kein Ton mehr, sondern nur ein Brummen!« benommen; trotzdem setzte ich mein Studium fort, aber vergeblich; ich wollte wohl, aber die Natur wollte nicht, und so blieb es denn bei dem Brummen.

Ende Juni trat die Weimarische Schauspielergesellschaft ihre Sommerreise nach Halle an. Die Zeitverhältnisse geboten Vorsicht, daher ging diesmal nur das Schauspiel dahin[40] und die Oper blieb in Weimar, um den bedeutenden Kostenaufwand zu sparen. Da aber die meisten vom Schauspiel auch sangen, so wurden wenigstens kleine Singspiele gegeben. Zu meiner großen Freude durfte ich diesmal Eltern und Schwester begleiten. Letztere war schon seit fünf Jahren beim Theater; sie hatte eine schöne Sopranstimme mit so viel natürlicher Geläufigkeit, daß sie Rollen, wie die Königin der Nacht, mit glücklichem Erfolge sang; außerdem spielte sie im Schauspiel Soubretten und Liebhaberinnen.

Auf der Fährt nach Halle gab es eine lustige Episode. »Die Henne«, ein einsam gelegenes Wirtshaus, war eine historische Merkwürdigkeit, weil in früheren Jahren einmal die Wirtin dieses Hotels, als auch die herzoglich Weimarischen Hofschauspieler dort vorüberfuhren, ihrer Magd zugeschrien: »Marie, duck de Wäsche wäet, de Bande kummt!« Auch diesmal stand die Vorsichtige, die allerdings unterdessen alt und dick geworden war, mit eingestemmten Armen vor ihrer Tür, und von den Männerlippen ertönte aus allen Wagen: »Marie, duck de Wäsche wäet, de Bande kummt!« Sie gebrauchte als Antwort eine Phrase, nach der sie uns sogleich die Kehrseite zuwendete.

Zwei Monate verbrachte die Gesellschaft in Halle. Die Stimmung der Einwohner war gegen voriges Jahr, wo ich meine Eltern auf vierzehn Tage in Halle besucht hatte, allerdings eine sehr gedrückte. Obgleich man es an der alten Gastfreundschaft nicht fehlen ließ, vermißte man doch in all dem Treiben eine ungezwungene Heiterkeit, denn mancher Hallenser Jüngling hatte sich aus den Armen seiner Mutter gerissen, war heimlich den Späheraugen der westfälischen Regierung entwichen, das Schwert zu ergreifen, um für seinen angestammten König und das Vaterland zu fechten. Erst als die Nachricht vom Abschluß eines Waffenstillstands kam, der einen baldigen Frieden erwarten ließ, nach dem sich[41] Europa allgemein sehnte, erst dann herrschte wieder Frohsinn unter Jung und Alt.

Ende August kehrte die Gesellschaft nach Weimar zurück. Von der Niederlage der Franzosen bei Kulm hörten wir schon mit großem Jubel; wie sich aber derselbe nach der Völkerschlacht bei Leipzig steigerte, als uns die Nachricht kam, daß die Franzosen total geschlagen wären, wird noch heute jedes deutsche Herz ermessen können.

Nicht gleich gab es Frieden und Ruhe, noch folgten Kämpfe, Alarmnachrichten, Durchmärsche und Einquartierungen, aber der entscheidende Sieg war doch nun erfochten. Da es mir nicht vergönnt war, für das Vaterland zu fechten, so setzte ich mitten in diesen Unruhen und dem wilden Leben meine theatralischen Studien fort, und gerade die Kriegsereignisse waren es, die die günstige Wendung meines Schicksals beschleunigten.

Professor Jagemann, ein höchst talentvoller Maler und Bruder der berühmten Schauspielerin, der bei den freiwilligen reitenden Jägern stand, war von Karl August als Kurier abgeschickt, um der Herzogin Louise die Nachricht der Einnahme von Paris zu überbringen. Den 11. April ganz früh langte er in Weimar an; nach wenigen Stunden war die Bekanntmachung von der Übergabe von Paris an allen Straßenecken zu lesen. Ein unbeschreiblicher Jubel erscholl in der Stadt und Freudenschüsse wurden auf allen Straßen und aus allen Fenstern abgefeuert. Einige Tage darauf ging Jagemann wieder nach Paris zurück, und unser trefflicher Bassist Stromeier, der in ganz besonderer Gunst bei Karl August stand, durfte ihn begleiten.

Nun trat für mich ein günstiger Zeitpunkt ein, weil das Theater ohne ersten Bassisten war; mein Vater wollte zwar noch gar nichts von einem Versuche wissen, aber Goethe bestand auf einer Probe. Diese fiel nach seiner Meinung[42] günstig aus, und so betrat ich unter seiner speziellen Leitung am 23. April 1814 als Osmin die Bühne.

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 40-43.
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