Die Lehrjahre in der Wissenschaft.

[104] Es ist die wesentliche Aufgabe jeder Lebensbeschreibung irgend eines mit der Oeffentlichkeit in Berührung gekommenen Menschen, die wechselnden Einwirkungen darzulegen, durch welche Geburt und Anlage, Oertlichkeit und Familie auf der einen Seite, auf der anderen das Allgemeine, Zeitgeist und Volksleben, seinen Charakter und seine Bildung gestalten. In meiner Lebensgeschichte, für meinen endlich ergriffenen Beruf und meine gesammten Schicksale erscheint es von besonderer Bedeutung, daß, je weniger mir das Haus und die Schule von Jugend auf darbieten konnte, desto bestimmender die öffentlichen Verhältnisse in Cultur und Staatsleben für mich[104] werden sollten. Es ist nicht wohl verkennbar, wie starke Einflüsse die romantische Periode unserer Literatur auf mein frühestes Geistesleben geübt hat; wie diese Einflüsse schon in der Knabenzeit beitrugen, mich aus der Schule und dem einfach ebenen Wege der Jugendbildung herauszuwerfen; wie die poetischen Erzeugnisse dieser Zeit, die mir in ganzer Fälle zu Gebote standen, während meiner kaufmännischen Jahre sich in meinen eingetrockneten Geist in Masse einsogen wie in einen unersättlichen Schwamm. Diese Literaturepoche war nicht in jeder Hinsicht grade eine verderbliche Schule, weder für das Volksleben noch für das Einzelleben. Bot mir meine prosaische Alltagsexistenz die Mittel zur Beobachtung der menschlichen Individuen dar, so war die Einführung in die fremden Literaturen aller Welt ein vortreffliches Mittel zum Erwerbe jener Kenntniß von Völkern und Zeiten im Großen, die unsere deutsche Bildung so eigenthümlich auszeichnet, und die als Vorschule für einen Historiker so unerläßlich wie unschätzbar ist. Es kam nur darauf an, daß Volk und Individuum sich nicht selber über diesem Abschweifen in alle Fernen verlor, über der Vertiefung in anderer Nationen Art der eignen Natur nicht abtrünnig ward, über dem Versenken in unmündiger Zeiten phantastischen Geist nicht in den Vorstellungen von Bildung und Beruf, von Recht und Anforderung des heutigen Tages irre ging. In dem großen Verlauf der Zeitgeschichte ist es weiterhin das andrängende Bedürfniß des materiellen und politischen Lebens gewesen, was uns in Deutschland der Romantik wieder entzog; zuvor und zuerst war es die Wissenschaft, die uns nach allen Richtungen hin, in Philosophie, Geschichte, Alterthums- und Sprachkunde aus dem Chaos der romantischen Belletristik herausrang. Und auch in meinem kleinen Sonderleben sollte es so kommen; die Wissenschaft zuerst und hernach der Ernst der politischen Zeitverhältnisse waren es, die mich den vielfältigen und gefährlichen Verirrungen entzogen, in die mich der romantische Cultus gestürzt hatte.[105]

So überraschend mir die Erlösung aus meinem Joche gekommen war, so war sie doch weit entfernt, sofort eine Lösung der Räthsel zu sein, die über meiner Zukunft lagen. Ueber all dem Wettlesen, dem Poetenspielen, dem Kunstgeländet, das mir während meines Geschäftslebens einen Theil des Tages, das mir jeden und jeden Abend kurzweilig vertrieben hatte, war mir eine ernste Beschäftigung mit dem Gedanken, was denn nach Ablauf meiner Verpflichtungen bei meinem Prinzipale aus mir werden sollte, in der Ferne geblieben. Mit Hessemer war die Frage langeher erörtert; er war ganz sicher, was da geschehen müsse, ich voller Schwanken, was da geschehen könne. Noch wenige Tage vor der Katastrophe hatte er mir (16. Oct.) aus Gießen geschrieben, er solle nun sicher mit fl. 800 Besoldung dort angestellt werden; da die Poesie nichts abwerfe, da man den Lorbeer nicht essen könne, so müsse er diese Stelle begreiflich annehmen: ob ich ihren Ertrag mit ihm theilen, in Gießen mit ihm zusammenlebend studiren wolle? »Um Gottes willen, sage gleich Ja, sonst werd ich ein Narr!« Und als nun gleich darauf der unvermuthete Riß in mein Leben gemacht ward, schrieb er (27. Oct.) im hellen Jubel: »Hurrah! Hurrah! und noch einmal Hurrah! endlich ists geschehen, und die Mine, an der wir so lange gegraben, ist gesprungen. Herzensjunge, wie soll ich dir meine Freude ausdrücken? könnte ich dich nur gleich an mein Herz! Also ist es gerissen, Waare und Alles? O vor Freude zittert mir Herz und Feder.« In demselben Feuer schrieb mir an demselben Tage Wilhelm Sell: So sei der Knoten denn zerrissen; ich solle gleich nach Heidelberg zu ihm kommen, da ich in Gießen als Landesangehöriger nicht sogleich ohne Prüfung könne aufgenommen werden. »Komm, ja komm! ich biete dir Platz in meiner Stube an; wir waren schon früher (als ich ihn zu Pfingsten besucht hatte) darin vergnügt und können es jetzt einen langen Winter hindurch von Herzen sein!« Die treuen Seelen! wer durfte sich solcher Freunde rühmen? Aber ich konnte ihren gutgemeinten Rathschlägen so rasch[106] nicht nachgeben; ich sprach ihnen von meinen Zweifeln an meinem Talente und ward dafür ein Kind gescholten. Ja so unvorbereitet hatte mich der Bruch überfallen, daß ich im ersten Augenblick meine Dienste einem Elberfelder Fabrikhaus anbot, von dessen Solidität ich mir durch die Briefe, die Waaren, die Reisenden, die dorther in unser Detailgeschäft gekommen waren, einen großen Begriff gebildet hatte. War dabei ein kleiner Trotz gegen meinen Prinzipal im Spiel? war es der Wunsch, mit meinem Vater Erörterungen zu ersparen? Am gewissesten war es meine innere Unsicherheit, die mich zu dem Schritte trieb: es war eine neue Orakelfrage wie die früheren, deren Beantwortung meiner Entschlußlosigkeit zu Hülfe kommen sollte. Während die Antwort auf sich warten ließ, trat mein Bruder, der sich mir von dieser Zeit an wie ein ächtester aufopfernder Freund zur Seite stellte, in Ueberlegung über meine Zukunft mit mir. Er forderte mich alles Ernstes auf. mich noch zum Studiren zu entschließen; mit dem Vater hatte er gesprochen; seinetwegen, hatte er erklärt, könne ich thun, was ich wolle. Die Mutter lebte auf in der Hoffnung, mich hinfort glücklicher zu sehen: fanden doch Alle gleich in den ersten Tagen mein Wesen freudig gehoben, meine Seele in einer wohlthuenden Ruhe; ein neugebornes Menschenkind nannte mich Karl Sell in seinen Briefen, nicht anders voraussetzend, als daß ich »den holden Musen wieder gegeben sei.« Zugleich drang Hessemer, der nun mehr als zuvor wie ein guter Genius neben mir stand, in größtem Ungestüm auf mich ein. »Höre, schrieb er (30. Oct), du darfst, kannst, willst, sollst, ich leids nicht daß du Kaufmann bleibst. Wenn du nicht kommst, drückst du mir ein Messer ins Herz. Und nun mit ruhigem Blute und mit kalten Ueberlegung gesprochen: der Teufel soll mich holen, wenn ich leide, daß du Kaufmann bleibst. Gerwin, wenn dir meine Freundschaft und Liebe auch nur das kleinste Werthchen gehabt hat, so bleibst du nicht Kauf mann.« Durch solche fortdauernde Anfälle wäre nun wohl selbst ein Entschlußloserer endlich bestimmt[107] worden. Auch schrieb ich ihm, entschlossen, dem Rufe zum Studium zu folgen, in dankerfülltem Briefe voll des besten Muthes: »Getragen was kommt, gethan was frommt.« Aber was denn nun eigentlich fromme zu thun, das war doch noch immer das schwerste zu sagen. Mich in diese neuen Lebensplane mit derselben leichtfüßigen Phantasterei wie in meine poetischen und histrionischen Grillen hineinzuwerfen, die zu einem Theile nur Spiele der Einbildung gewesen waren, dazu war ich nun doch zu reif geworden; ich war mir über alle Mängel meiner Bildung, alle Lücken meines Wissens viel zu klar, um mir nicht einzugestehen, daß ich zu keinem Studienzweig vorbereitet war. Für das Alles aber wußte Hessemer Rath. Auf den Weg des Fachs und Schlendrians, meinte er, wäre ich doch nie gekommen; ich solle mich auf Aesthetik und Kunstphilosophie werfen und mich zum Lehrer der Literatur und Literaturgeschichte bilden, wozu ich vorbereitet sei wie Niemand. Dies hieß nun wirklich eine Brücke schlagen von meinem bisherigen Leben in der Einbildung und der bloßen geistigen Empfängniß zu verständiger Thätigkeit, von Kunstspielerei zu ernster Wissenschaft. Und einmal in diese Richtung verständiger Planmäßigkeit gewiesen sollte ich dann allmälig, bedächtig, schrittweise, nicht sprungweise, in Achtsamkeit auf mich selbst, durch langsame Selbsterfahrung die Wege heraustasten lernen zu dem Berufe, für den ich mich endlich geschaffen fand. Gleich über das Nebelhafte, was noch immer in der ersten Bestimmung lag, wie sie mir Hessemer angab, half mir die bloße Vorbereitung zur Universität hinweg, so kurz und oberflächlich sie war. Die Schlußmonate des Jahres 1824 waren mir über meiner Unschlüssigkeit auch in ziemlicher Unthätigkeit vergangen. Nun aber sollte auf Ostern die Universität bezogen und eine Reifeprüfung bestanden werden; dazu sollte ich in 3–4 Monaten gerüstet stehen. Und obzwar mir nun Ehrgeiz und Pflichtgefühl hätten gebieten sollen, mich ganz in diese nächste Aufgabe zu versenken, so konnte ich doch mit allem Willen selbst in diesen Zeiten nicht von meinen[108] alten Gewohnheiten, meinen Lesereien hinweg. Ich finde in Briefen aus jenen Tagen, daß ich in diesen Monaten bis zum Abgang nach Gießen vier Werke von Jean Paul, Göthe's Leben und Iphigenie und Tasso, Arndt's Briefe, den Messias und die Hermannschlacht, daß ich im Maler Müller und Heinse, im Pfeffel und im Lucian, im Dante und Boccaz, im Ariost und Tasso gelesen habe! Es war eine Mischung von Leichtsinn und Fleiß, die mir gleichwohl durch meine Prüfung hindurchhalf. In Geschichte und Geographie wollte ich es auf meine Erinnerungen ankommen lassen; in der Arithmetik dachte ich auf meine kaufmännische Praxis zu pochen, für Geometrie mich zu entschuldigen. Im Latein meinte ich ebenso mich auf meine Schulkenntnisse verlassen zu können und las nur einiges im Cicero für mich und nahm mit Geilfus in den Weihnacht- und Osterferien den Horaz vor. Im Griechischen nahm ich bei Dr. Wagner, dem Schwager meines Wilhelm Sell, Privatunterricht. Die alte Last an der Sprache erwachte im Augenblick. In höchstens dreimal 16 Stunden las ich an der Hand der Grammatik einige Abschnitte im Jacobs, ein Buch im Thukydides und eins oder zwei Stücke von Svphokles mit ihm. So ausgerüstet gürtete ich mich zu der Fahrt nach Gießen. Bei Beckers nahm ich am Abend vor der Abreise bitter-süßen Abschied: es war die Trennung von guten Freunden und einem anziehenden Verkehre; es war mehr: es war die Trennung von meiner Vergangenheit, von den Gaukelspielen meiner liebsten Jugendträume. Zu Hause wartete meiner dann noch ein unvermutheter Abschied von ungemischter Bitterkeit: er war wie eine Mahnung an den Ernst der kommenden Zeit. Mein Vater hatte mich alle die Zeit schweigend gewähren lassen, und ich ihn Ich hätte ihm billig einmal ein Wort über die Veränderung in meinem Leben gönnen sollen; es mochte ihn geärgert haben, daß es nicht geschah. Er bereitete mir noch Abends spät eine der früher nicht selten erlebten Scenen, wo er einen verhaltenen Groll zu ergießen hatte; es war aber die letzte. Er sprach in herber und[109] heftiger Weise seine Zweifel an meinen Befähigungen, seine Befürchtungen aus, daß es auf dem neuen Wege nicht anders als auf dem alten gehen, daß mir Ernst und Ausdauer versagen würden. Ich fiel aus der Widerrede bald in einen stummen Grimm über diesen bösen Vatersegen zu meinen neuen Bahnen. Der Wagen nach Gießen sollte Morgens sehr frühe abgehen. Ich blieb in trotziger Verstimmung aufsitzen, die Stunde zu erwarten. Da machte der Alte nach seiner Weise den begangenen Fehler gut. Auch Er blieb außer Bette und saß mit mir die Nachtstunden hin; Beide wechselten wir kein Wort. Beim Aufbruch drückte er mir stark und innig die Hand und sagte: »Adieu. Mache, daß ich Unrecht habe.« Der erste Anlauf gab ihm Unrecht. In Gießen bestand ich mein Maturitätsexamen ohne Schwierigkeit und trug den Namen eines guten Philologen davon. Es hatte dieser Aufmunterung nicht bedurft, um mir alle Freude an dem wieder aufgenommenen Studium des Alterthums zu beleben. Sie war schon unter meinen Stunden bei Wagner so groß geworden, daß ich den Schwindel mit Aesthetik u. dergl. bereits aufgegeben hatte und mich als Studiosen der Philologie einreihen ließ.

Es war wunderbar, wie in dem Momente, wo ich mit festerem Fuße in mein neues Leben eintrat, die gesunde Seite meiner Natur empor schnellte, wie rasch ich der Krankhaftigkeit meiner bisherigen Zustände inne ward, wie eifrig ich sie abzuschütteln suchte. So heftig war eine Weile diese Reaction, daß man hätte finden können, es sei all das phantastische Traumleben bisher nur eine Antäuschung, eine unwillkürliche Schauspielerei gewesen: wenn nur nicht doch bald wieder, und auf lange hinaus, die alten, wunderlichen Hänge immer noch neue Keime getrieben, die alten Unarten auf neue Abwege zurückgeführt hätten. Gleichwohl in dem Ausgangspunkte zu meiner neuen Existenz war die Aenderung gleich so entschieden, daß sie doch trotz aller Rückfälle einen völligen Bruch mit meinem früheren Treiben, wie mit dem meines Freundes Hessemer,[110] ankündigte, an den ich jetzt zwar inniger gekettet, dem ich dankbarer verpflichtet war als je. Es war noch während meiner Kaufmannszeit gewesen, daß er mir aus Gießen Andeutungen über ein Mädchen aus seinen dortigen Kreisen schrieb, die ihm nicht gleichgültig schien, der Er nicht gleichgültig war; er lag mit sich selber im Streite, er schrieb leidend und gedrückt: er wolle dieser Liebe nicht nachhängen, weil er seine erste der Muse gewidmet habe, die er durch jene gefährdet finde. Auf dieses Halbdunkel antwortete ich in den ersten Tagen meiner Erlösung in nicht viel helleren Worten zwar, die aber doch den klaren Sinn ausdrückten, wie mir die alte Weise misfalle, in der wir unter unseren poetischen Phantasmagorien um jedes ernste Ergreifen des frischen Lebens gekommen seien. Mich peinige, schrieb ich, der schleichende Geist des Misbehagens in seinen Briefen; er zerquäle sich über dem Passivum amor, er möge um aller Grammatik willen zuerst das Activum conjugiren lernen; ich rief ihn von Idealen und Träumen überhaupt zu realen Entschlüssen zurück; ich sprach ein Pfui über die läppische Tändelei einer Poesie, deren belebendes Prinzip nur die Liebe sei, da die wahre Dichtung »ein höherer Beruf an die gesammte Menschheit binde«; ich schmähte über die Petrarken, die in ihren Nationen eine entnervende Gefühlsweise lieber geweckt als erstickt, im besten Falle eine Krankheit der Zeit in ihrer eigenen geschildert hätten. Zu Weihnachten 1821 schrieb mir Hessemer, die Freunde hätten in Gießen »das Wohl J. Paul's, Herder's und Jacobi's getrunken, in deren Reihe ich einst gehören möge«, zu einer Zeit, wo die ersten Regungen schon in mir erwachten, mich dieser Reihe grade zu entziehen. Als ich nachher in Gießen mit dem Freunde zusammen traf und mit ihm Stube an Stube wohnte, war uns mehr als je die Gelegenheit gegeben, unseren schwärmerischen Umgang fortzusetzen, unsere alten poetischen Rollen Vult und Walt noch weiter zu spielen. Auch thaten wir es; auch pflegten wir den Cultus J. Paul's immer fort und betrauerten noch den Dichter, als er im Spätherbste[111] 1825 starb, wie einen verlorenen Vater. Und dennoch, als ich im Sammer zuvor, in meinem ersten Studiensemester, den Titan gelesen, hatte ich mich schon da abwechselnd von Lebensmuth und Unmuth höchst unbehaglich bewegt gefühlt, ich hatte mich wirr und gedankenlos über dem Buche gefunden, hatte es mit getheiltem Urtheile hinweg gelegt. Bald konnte ich an Hessemer sagen, daß ich einer seiner Tanten Recht geben müßte, die, »unsre J. Paul'schen Schnörkel« nicht leiden könne. Ich fühlte die Neigung zu der profusen Hingabe an diesen Einen Führer aus mir schwinden und ich war es wohl zufrieden. Ich erkannte das Versenken in das innere, gefühlige Leben als eine schädliche Einseitigkeit und nannte es jetzt ein Verdienst, das äußere, volle Leben wie es ist zu achten, zu begreifen, zu erfassen, das man nicht bei Seite werfe, ohne aufzuhören ein Mensch zu sein. Ich wünschte, daß wir die belletristische Näscherei mit ernster Wissenschaft vertauschten; daß unsere Freundschaft ein stoischeres Prinzip an der Stelle des bisherigen weichlich epikureischen durchdringe; es wurde mir von Stunde zu Stunde unzweifelhafter, daß uns unser Liebling unter den Autoren in eine wüste Irre geleitet habe, und daß wir eines derberen, materielleren Wegweisers bedürften. Es sieht sich höchst wunderlich an, wie ich mich von dieser fest im Herzen hängenden Klette loszumachen, wie ich von dem Manne mich abzuthun rang, der mir zwischendurch noch immer als der Heiland erschien, dem ich in der trübseligen Kaufmannszeit allein zu danken hatte, ein Mensch geblieben zu sein. In diesem lange hinzögernden Kampfe bildete es eine Weile eine Art Vorbereitung zu dem völligen Bruch, daß ich mich mehr von J. Paul's ironisch-satirischer als seiner sentimentalen Ader fesseln ließ; es war die Seite seiner Romane, mit der er scheinbar wenigstens dem realistischen Leben näher stand, das ich misachtet hatte, als ich, in jugendlicher Schwärmerei befangen, mitten darin stand; das bei mir zu Ehren kam, als ich es zugleich mit dieser Schwärmerei verlassen hatte. Wenn jetzt Hessemer auf seinen Geschäftsreisen[112] entfernt war, schrieb ich ihm in unleidlich geschraubter Weise, den Scherzton der J. Paul'schen Humoristen affectirend, die närrischsten Briefe, die oft wie absichtlicher Unsinn oder wie eine rohe und ungeschickte Satire auf diese Manier anklangen. Er schrieb mir ganz treffend zurück, mein Humor kleide mich wie den Affen der Seiltanz; gleichwohl zog er selbst diesen Briefen gegenüber seine scherzende Schreibweise unwillkürlich ein, die dann zurückkehrte, wenn meine Briefe wieder vernünftiger klangen. »Mit wahrer Eitelkeit, schrieb ich ihm, bemerke ich, daß wenn mein Bart nicht mehr von Humor träuft, Dir der Kamm steigt. während Du zu anderer Zeit ganz verdutzt hinter den Schanzkörben des Ernstes stecktest.« Indessen tröstete ich ihn, daß er auf die Länge von diesen Bocksprüngen eines krampfig gezwungenen Witzes nicht zu leiden haben solle; denn der phantastische Humor jener Humoristen, der ungesunde Realismus jener Realisten J. Pauls verleidete mir in kürzester Frist. »Wenn ich wüßte, schrieb ich, wovon J. Pauls Schoppe seine Schoppen bezahlte, so wollte ich wohl in seine Art eingehen lustig zu sein.« Denn auf dieser Saite des realen Lebensprinzipes harften nun fortwährend alle meine Finger, und ich ward nicht müde, dem Freunde in diesem Tone aufzuspielen. In der seltsamsten Weise begann ich mit dem lebensgewandten Gesellen jetzt die Rollen zu tauschen, den ich vor Jahren in meine innere Vergrabung gezogen hatte, den ich jetzt wieder an das Tageslicht mitzureißen bemüht war. Ich gefiel mir, ihm einen anderen Ausspruch jener seinen Frau, seiner Tante, unter die Nase zu reiben, die, ihn mit (dem Göthischen) Tasso vergleichend, sagte: leider Gottes sei er kein Antonio. Und von meinem Vetter Georg Zöppritz, den ich noch vor kurzem seiner durchaus praktischen Natur wegen unserem idealen Verkehre nicht anpassend gefunden hatte, schrieb ich ihm jetzt: den wolle ich nun jedem Philosophen zeigen und sagen ecce homo! und ich bekannte mich für ihn von einer anstaunenden Achtung erfüllt. Auf eine briefliche Klage über seine schwindende Jugend[113] und Begeisterung predigte ich (25. Aug.) dem Freunde sehr altklug, daß er sich bald gewöhnen solle, die ruhige Mannesbegeisterung in sich aufzunehmen, sich auf den kühlen, fruchtbaren Herbst zu rüsten. der der Sommerhitze den Werth noch streitig mache; dort solle der Mensch die guten Werke aus den schönen Werken seiner Jugend reisen sehen; die Tugend sei ewiger als die Schönheit; der Herakles, der im Tempel des Zeus mit dem Gotte gerungen, sei herrlicher als der Schöpfer seiner herrlichsten Statue.

Man sieht wohl aus allen diesen gelegentlichen Ergüssen, wie lebhaft ich von dem deutlichen Gefühle ergriffen war, daß ich ein jugendliches Phantasieleben, das dem Knabenalter natürlich ist und dort an der expansiven Natur aller Frühjugend sein natürliches Gegengewicht hat, überspannend und übertreibend in eine Zeit fortgeführt hatte, in der es entkräftigend auf Geist und Körper hatte einwirken müssen; ich sah die Stunde gekommen, aus dieser halb. träumenden Existenz herauszutreten, den Führer zu verlassen, der uns in ihr festgebannt hatte. Aus der Art, wie ich mich an Hessemer anklammerte, um ihn bei dieser Aenderung der Reiseroute mit mir zu ziehen, lese ich heraus, wie sehr ich das Bedürfniß nach einer neuen Stütze, nach einem anderen Lehrer, einem sicheren Wegweiser hatte. In Gießen fand ich keinen. Ein Lehrer der Geschichte, der mich wohl am leichtesten gefesselt hätte, war gar nicht da. Der tüchtigste Mann, den ich dort hörte, war der Physiker Schmidt; aber sein Fach, für das ich ohne jede Vorkenntniß war, lag allzu weit von mir ab. Unter den übrigen Professoren war Hillebrand der anziehendste, dessen philosophische Vorlesungen ich sämmtlich besuchte. Wie bei mir nichts verloren war, was eine anregende Kraft bewährte, so hatten diese Vorträge die Wirkung, daß ich neben ihnen auf eigene Hand Geschichte der Philosophie betrieb, daß ich nach alter Gewohnheit vom Aufnehmen rasch zum Produciren vorschritt, daß ich begann, mich mit einzelnen ethischen oder speculativen Aufgaben, sogar mit dem Umriß ganzer[114] Systeme abzuplagen, ja daß ich vorübergehend auf den Gedanken kam, mich ganz der Philosophie zu widmen. Zweier solcher Aufgaben erinnere ich mich, die mir in dem Jahre meines Gießener Aufenthaltes viel zu thun und zu denken gaben: sie waren beide von den Erfahrungen des eigenen inneren Lebens unmittelbar angeregt. Seit meinen neueren Zerwürfnissen mit dem Freunde Hessemer trieb es mich an, über das Wesen, den Grund und die Grenzen der Freundschaft nachzudenken. Ich las kopfschüttelnd Cicero de amicitia, ich las Jacobi's angepriesenen Woldemar und Allwill; ich ahnte, ich wußte, daß statt dieser Redensarten dieser mir theure Gegenstand eine stärker fundirte psychische und historische Behandlung verdiene und erlaube; ich schwankte zwischen einer Abhandlung und einem kleinen Drama »die Freunde«, in dem ich meine Gedanken zu einer Handlung verkörpern wollte, die in unseren inneren Erlebnissen ihre Wurzel ansetzen sollte. Tiefer aber als diese Materie bewegte mich gleichzeitig ein zweites Problem. Ich hatte in dem Umgang mit reiferen Freunden den naiven Religionsglauben meiner Frühjugend ohne jeden schweren Kampf mit den geläuterten Ansichten vertauscht, zu denen in unserem rationellen Confirmationsunterricht selber der Grund gelegt worden war. Geheimnisse und Wunder, Legende und Agende waren mir, nach Lessings Bild, das Gerüste für den Bau gewesen, das ich in heiterer Befriedigung abbrach, als das fertige Gebäude wohnlich stand. Denn daß mir der Kern des religiösen Sinnes (das Gefühl, daß Menschheit und Geschichte nicht ein bloßes Werk des Zufalls sind, sondern daß eine große, gesetzliche Ordnung das geistig-sittliche Reich zusammenbinde wie die Natur) nicht mit ienen Aeußerlichkeiten und Symbolen abhanden gekommen war, das sollte sich gleich nach meiner Uebersiedlung nach Gießen bei einem Erlebniß erprüfen, in dem ich mit Freund Hessemer in einen neuen Conflict gerieth. Ich war in Gießen auf einen alten, etwas ferneren Schulfreund gestoßen, einen selten begabten Menschen, der mich immer wie ein Nachwuchs aus den Hamann-Claudius'schen Zeiten[115] gemahnte; er hatte von Jugend auf mit harten Schicksalen zu ringen gehabt und war eben jetzt von einem neuen Ereigniß niedergeworfen, das ihn an Gott und Ewigkeit, an allem Hohen und Edlen verzweifeln ließ. Darüber hatte ich mit Hessemer, der aus dieser Gemüthsstimmung des gemeinsamen Bekannten weiter nichts machte, sehr ernste Auslassungen; ich glaubte da Abweichungen in unserer Denkart zu gewahren, mit denen mir eine wahrhaft fruchtbare Freundschaft kaum zu vereinigen schien. Ich sträubte mich heftig dagegen, daß mit dem oberflächlichen Bezweifeln aller ungreiflichen Dinge auch der große Zusammenhang der Menschheit geleugnet werden sollte; ich hielt ein ernstes menschliches Bestreben ohne den Glauben an einen Weltzweck nicht für möglich, weil der, der in den Erscheinungen der Welt nichts als ein Spiel des Zufalls sieht, in dem Ganzen fortschreitend zu leben und zu wirken als eine eitle Arbeit bald verschmähen wird. Man wird es begreiflich finden, daß ich, in dem Stande meiner ganz besonderen Lebenserfahrungen, in denen ich in so jungen und wenigen Jahren so seltsame Verwicklungen, so schwere Leiden erlebt hatte, die sich nun so natürlich, so glücklich zu lösen begannen, man wird es begreiflich finden, daß ich, in dem Stande meiner Jugend und meiner lebhaften Empfindung, in diesem Gedankensystem weiter sprang: daß ich in Sokrates' Spuren auch in dem Einzelleben der Menschen ein Walten individueller Vorsehung gewahrte; daß ich von ihr, die dem Weltganzen seinen Zweck anweise, auch annahm, sie weise ebenso dem einzelnen Menschen seine »Bestimmung« in diesem Ganzen an, die es ihm zukomme auszufinden; daß ich des Menschen Sein und Beruf angelegt dachte wie die Charaktere in dem Schauspiele eines Dichters. Diese Ansicht entstammte bei mir einer natürlichen Anlage, die menschlichen Dinge aus einem historischen Gesichtspunkte zu betrachten: denn aus ihm wird man immer geneigt sein, den Menschen als ein bloßes Werkzeug in der Hand der Vorsehung anzusehn und ihm die Aufgabe anzuweisen, diese untergeordnete Stellung[116] zugleich zu erkennen und zu erhöhen durch die Achtsamkeit auf das große Werk des Werkmeisters und seinen inneren Plan und Zusammenhang, damit die Nothwendigkeit in den Dingen für uns aufhöre Nothwendigkeit zu sein, wenn wir uns ihr in Freiheit fügen; damit die Gewalt aufhöre Gewalt zu sein, wenn wir sie als Gesetz erkennen. Man wird leicht sehen, daß mit diesem Glaubensbekenntnisse aufs innigste jene auffallende Neigung in mir zusammenhing, Orakelsprüche über meine Schritte entscheiden zu lassen, mein Schicksal lieber zu erleiden als selbstwirkend zu bilden. Ueber diesen meinen Bestimmungsglauben nun pflog ich mit Hessemer jene praktischen, mit W. Sell aber raisonnirende, mit mir selber systematisirende Erörterungen. Ich kann nur aus einem Briefe W. Sell's errathen, wie weit uns unsere Gedanken ungefähr leiteten. Er sah richtig durch, daß in der Annahme einer göttlichen Präscienz nothwendig eine Beschränkung der menschlichen Freiheit gelegen sei; aber er tröstete seinen Verstand mit dem Gefühle: daß wir in unserem Sein zwar einer höheren Leitung unterworfen, deßwegen aber in unserem Denken und Handlen noch nicht gebunden seien; daß der Mensch seine Naturanlage nicht austilgen, nicht in eine andere Natur verändern, wohl aber die gegebene veredeln; nicht die ihm gezogene Grenze aufheben, wohl aber erweitern könne. Und so mag auch ich damals auf dem Standpunkte haften geblieben sein, mich bei der Unbegreiflichkeit des Verhältnisses zwischen dem freien menschlichen Willen und der göttlichen Vorbestimmung mit dem Buffon'schen Satze zu trösten, daß eben alles absolut Unvergleichbare absolut unbegreiflich sei. Indessen war es eben diese Frage, die mich über meinen philosophischen Studien lebhaft beschäftigte, und über die ich gern schreibend mit meinen Gedanken ins Reine gekommen wäre. Ich kann nur sagen, daß es mir damals nicht gelang. Denn ich weiß, daß ich erst im folgenden Jahre in Heidelberg mit meinem Bestimmungsglauben als mit einer Schwäche brach, die mit meinem passiven, unfertigen Wesen jener Zeit[117] zusammenhing, in der ich (nach dem alten naiven Ausdrucke) Gott nur zu leiden gewohnt war, bis ich dann allmälig erst inne ward, daß dies doch nur ein einseitiger Theil der Lebensweisheit ist, daß ium in derselben naiven Vorstellungsweise des Mittelalters weiter zu reden; Gott doch nicht Alles für uns thun wolle, daß er nur Thier und Pflanze bis zum Ziel ihrer Bestimmung führe, dem Menschen aber die Erfüllung und Vollendung der seinigen selber anvertraue. Ich weiß auch, daß es noch viel längerer Zeit gebrauchte, bis ich mich von der Unmöglichkeit überzeugte, die Frage von der Vereinbarkeit der menschlichen Freiheit mit der göttlichen Allwissenheit und Allweisheit auf dem herkömmlichen theologischen Wege zu lösen, auf dem man in der Einen menschlichen Handlung zwei verschiedene Persönlichkeiten und Willen ins Spiel bringt; und daß man in der Frage der geistigen Weltordnung nicht das Einzelne mit dem Ganzen, das Individuum mit der Welt in Eine Linie stellen kann, weil sich an dem verschwindenden Einzelnen das Gesetz und die Nothwendigkeit unmöglich beobachten läßt, die uns noch in dem ungeheuren Ganzen so schwer wird zu deduciren. Von meinen damaligen Betrachtungen ist nichts übrig geblieben, Beweis genug, daß sie mir nicht Genüge thaten. Sie gingen wohl bald in Rauch auf und mit ihnen auch der Gedanke, mich der Philosophie zu widmen. Es war nur eine kurze Anwandlung, die wie die früheren künstlerischen Gelüste vorüberging, weil meine Natur und Begabung mich wenig in diese Wege wiesen.

Ich fand mich also auf meine Philologie zurückgeworfen. Sie aber war in Gießen in einem Zustande arger Verwahrlosung. Der alte Pfannekuche leitete das Seminarium. Ich hörte ihn Plautus und Isokrates behandeln; aber diese trockae Schulweise konnte keinen Reiz haben für einen Kopf, der an der Literatur aller Welt ideensüchtig geworden war, der in der Wissenschaft eine Wegweisung zur Kenntniß der Welt und der Menschheit, ein Material zum Aufbau des Charakters und des Lebens suchte. Man erwartete für[118] den Winter einen neuen Direktor des Seminariums, Osann. Neben den Interpretationen, die er da anleitete, las er Plato. Mit welcher Lust ging ich, gereizt durch meine philosophische Vorkost, an dieses Gastmahl! Mit welcher Ertödtung und Sättigung ging ich alsbald davon weg! Ohne ein einleitendes Wort wurde der Text vorgenommen und nicht gelesen noch übersetzt, sondern nur die Stellen herausgesucht, wo eine Verschiedenheit der Lesart zu erörtern war. Ich blieb aus und ließ mich geduldig aus der Zahl der Seminaristen streichen. So war ich an der Universität wieder in derselben Lage wie in der Schule. Von den Lehrern abgestoßen fiel ich auf den Privatfleiß zurück. Ich fand noch einzelne meiner Schulfreunde in Gießen vor; ich las mit Kriegk in der Ilias, begann mit Röth arabisch zu treiben, die meiste Zeit verbrachte ich mit Lanz. Wir lasen den ganzen Herodot zusammen, den ganzen Aristophanes mit alten und neuen Scholien, auch von Sophokles, wenn ich nicht irre, sämmtliche Stücke, den Terenz und von Cicero eine Anzahl Briefe, Reden und Abhandlungen. Diese Stunden allein waren es, die meiner Lust am Alterthum frische Nahrung gaben. Sie waren mir zum Theil außerordentlich anstrengend. Besonders im ersten Semester hatte ich die größte Mühe, den fünf Jahre brach gelegenen Kopf fruchtbar zu machen. Ich brachte oft Stunden am Tag schlafend hin, um mir Erholung zu gönnen; oft kamen Zeiten, wo ich an meiner Fähigkeit ganz zu verzagen begann; ich brauchte alle Geduld und Selbstermuthigung, um meiner erlahmten Denkkraft und meinem ungeübten Gedächtnisse aufzuhelfen; und wäre nicht die sittliche Erhebung, die Erstarkung des Gemüths Hand in Hand mit diesen Anstrengungen der Studien gegangen, so wäre ich leicht in diesem Kampfe voreilig verzweifelnd erlegen. Es war eine neue wohlthätige Fägung, daß ich dieses erste Jahr in Gießen ohne jede starke Anregung blieb: wären mir größere Anforderungen gestellt worden, so wäre eine furchtbare Entmuthigung unausbleiblich gewesen. War ich doch so schon peinlich genug von[119] dem stillen Ehrgeize gestachelt, den elterlichen Erwartungen über Erwarten genug thun zu müssen. Meine inneren Seelenleiden drohten sich daher in Gießen nur in veränderter Weise fortzusetzen, und da war es ein weiterer Segen, daß ich in der Umgebung alter und neuer Freunde so mancherlei Aufrichtung fand. Ungemein freundliche Aufnahme war mir bei Hofkammerrath Hofmann zu Theil geworden, Hessemer's Chef, einem Beamten sehr ungewöhnlichen Schlags, einem Lebemann voll natürlichen Humors und humaner Weise, in dessen schönem Familenkreise wir manche anregenden Abende verbrachten. Dann war es trotz allen den neueren Zusammenstößen doch ein stärkster Halt für mich, daß ich mit Hessemer fortwährend zusammen wohnte, lebte, studirte, auch noch zwischendurch schwärmte; das Poetisiren wurde immer nicht ganz unterlassen, die Vorstudien zu Heinrich IV lagen um mich herum; das Gedankenspiel mit Abentheuern und Luftschlössern wurde auch noch unterhalten, und selig träumte ich mit den Freunden in dem Gedanken, demnächst einmal Spanien und Italien zu sehen, »wo jeder Stein zu Begeisterung rufe«. In den unvergeßlichen Ferien zu Herbst 1825 und Ostern 1826 lebte ich zu Hause, der verdienten Erholung froh, zum frischesten Leben auf. Ich las jetzt Freude und Vertrauen in den Augen meiner Mutter, die der alte Hessemer in seiner Ueberschwenglichkeit bei seinen nicht seltenen Besuchen als die glücklichste der Mütter pries. An meinem Paul fand ich immer mehr einen ächten, braven Bruder. Durch ihn kam ich jetzt erst in die Kreise unserer entfernteren Verwandten, bei denen ich überall die herzlichste Theilnahme an der lachenden Veränderung in meinem Wesen erkannte; jetzt erst genoß ich recht den Umgang mit meinen beiden Oppenheimer Freundinnen, oder vielmehr, da sich eben die Abberufung Beckers nach Dresden entschied, den der zurückbleibenden Schwester in erhöhtem Maße, in einem wie geschwisterlichen Verhältnisse; der Verkehr mit Sell und den älteren Schulgenossen füllte sich jetzt erst mit einem reicheren Inhalt. Mit mir selber ernstlichen[120] Rath zu pflegen, dienten mir diese Zeiten der abwechselnden Zerstreuung und Sammlung in den Ferien besonders gut. Ich hatte den Abzug aus Gießen beschlossen und rüstete mich nach Heidelberg. Ich suchte dort die Leitung zu finden, schrieb ich an Hessemer, »die mir Noth thue«, ich hoffte von Voß und Schlosser zu lernen, »was ich denn eigentlich wollte und sollte«. Kriegk hatte zu Beiden näher gestanden und hatte alle meine Erwartungen besonders auf Voß gespannt, »den Mann, den er in allen Richtungen, die sein Geist genommen, immer als einen der achtungswürdigsten der Zeit gefunden, und von dem er in zwei Stunden Unterhaltung Belehrungen erhalten habe, die ihm Creutzer nicht in einem ganzen Semester zu geben vermocht.« Hillebrand gab mir eine Empfehlung an den alten Herrn, der wenn Einer der Mann gewesen wäre, mich der Philologie zu erhalten. Die patriarchalische Väterlichkeit, mit der er junge Empfohlene zu berathen pflegte, der Zauber, den seine Uebersetzungen auf mich geübt hatten, seine fruchtbare Richtung in der philologischen Wissenschaft, sein poetischer Sinn, sein häuslicher Charakter, Alles zusammen hätte mich ganz an ihn fesseln mögen. Aber das Schicksal griff hier noch einmal in der unerforschlichen Weise ein, die ich in meiner ersten Lebenshälfte so oft erfahren sollte. Voß starb während der Osterferien, und ich sandte trauernd meinen Empfehlbrief an Hillebrand zurück. Dies Ereigniß wies mich dann ganz auf Schlosser an und legte in Heidelberg die Geschichte gegen die Philologie in die Wagschale.

Das Sommersemester 1826 in Heidelberg, wo ich auf selige Tage gehofft hatte, war voll qualvoller Erfahrung für mich, die ich ganz im Verborgenen meiner Seele durchzuringen hatte, da ich innigere Freundesbeziehungen hier anfangs nicht hatte und in äußern Zerstreuungen nicht lebte. Das Studentenleben mitzumachen, dazu war ich zu alt, zu verbindungslos, zu sehr zum Fleiße verpflichtet auf die Universität gekommen. Auch hätte es mir widerstanden, wie mir früher die Turngemeinde, wie mir alle gespreizte[121] Unnatur widerstand; und auch unter allen andern Umständen wäre ich sicherlich nie hineingetreten, ohne mich polemisch und womöglich reformatorisch dagegen zu versuchen. Ich wohnte bei Maler Fohr; mit ihm und seinem Freunde Roßmann (dessen Leben später der Schule in Worms gewidmet war) verbrachte ich die meiste Zeit. In ihrem Kreise, bei den freundlichen Gängen nach einem frugalen Abendbrod im Freien war ich heiter und guter Dinge; mir selbst überlassen, über meinen Arbeitsversuchen, fühlte ich mich in einem tiefern Elende, das in diesem bedeutungsvollen Cursus die vor einem Jahre begonnene Katastrophe meines innern Lebens reisen und mich zu einer förmlichen Revolution gegen mein eigenes Wesen führen sollte. Ich fand es mit der Philologie in Heidelberg fast eben so schlimm bestellt wie in Gießen; ich warf mich daher ganz in die Geschichte. Mit Ausnahme des Arabischen, das ich bei Unbreit betrieb, hörte ich nichts als Schlosser, bei ihm aber auch Alles. Er stand damals auf der Höhe seiner Katheder-Wirksamkeit; der Eindruck, den er mir machte, war gleich anfangs voller Entscheidung für mich. Das war endlich, was ich so lange vergebens gesucht hatte; das sprach zu Herz und Kopf mit gleicher Gewalt; das öffnete Blicke in das kleine eigne Leben wie in das große Leben der Welt. Wie alle seine verstehenden Zuhörer gleich auf der Schwelle von seinen Einleitungen pflegten ergriffen zu werden, wenn er z.B. die Culturgeschichte eröffnend seine ideenreichen Uebersichten gab, wenn er über Napoleon lesend ihn in Parallele mit den Männern der ähnlichen geschichtlichen Verhältnisse stellte, so hielt auch ich lange das Staunen fest über einen seiner ersten Vorträge, wo er in verwirrt gesetzten Worten einen charakterisirenden Ueberblick über das ältere Mittelalter entwarf; es waren dies großartige Orientirungen voll scharfer Bestimmtheit, und die grade durch die ungehobelte Form des Vortrags nur um so drastischer anregten. Unter seinen Entwicklungen solcher Art sprangen vor dem jungen Geiste die Pforten der Geschichte wie knarrend auf; von stilleren, aber nicht minder tiefen Wirkungen[122] waren die eingestreuten einzelnen Bemerkungen einer treffenden Welt- und Menschenkenntniß, die seine Darstellungen würzten, wo er in so mancherlei Fragepuncten, die das jugendliche Alter bewegen, das Ei des Columbus so einfach aufzustellen pflegte, daß ich wie oft einen sinnigen Nachbar, wie Roßmann, in unwillkürlicher Ueberraschung leise anstieß, ob er auch gleich achtsam horchte und faßte wie ich. Bei weiterem Verfolge dieser Vorlesungen nun und bei der persönlichen Bekanntschaft mit dem Historiker, die mir zu Theil ward, als er mir seine Hefte zum Nachsehen lieh und mich in die wöchentlichen Theeabende lud, zu denen er eine Anzahl seiner Zuhörer versammelte, fand ich mich bald in meiner bisherigen Denk- und Lebensweise, auch nach den ersten Stößen, die sie bereits erlitten hatte, furchtbar erschüttert. Das Reich des Wissens, dessen Durchwanderung sein Beispiel stillschweigend wie zur Aufgabe setzte, erhielt vor meinen Augen eine unermeßliche Ausdehnung; des Mannes allgemein bestaunte Gelehrsamkeit und mehr noch die sichere Beherrschung seines Wissens warf mich in ein neues Verzagen, wenn ich den Umfang dieser Aufgabe mit dem Umfang meiner Vermögen und meiner Erwerbe verglich. Ich fühlte meinen Kopf auch jetzt noch schwach, schwer von Gedächtniß, leicht zu zerstreuen, den Körper früh ermüdet, schläfrig und schlaff; ich konnte es nicht vergessen, daß man nach meinen ungewöhnlichen Gängen ungewöhnliche Anforderungen an mich stellte. Und ich fand mich selbst für das Gewöhnliche nicht stark; ich quälte mich in der Besorgniß, ich werde nach jahrelangem, vergeblichem Abmühen zuletzt noch einmal rückumsatteln müssen; meine Eltern dauerten mich bei jedem Gedanken an sie in innerster Seele. Bang und stutzig, wie mich die Wirkungen von Schlossers Lehre vor meiner Zukunft machten, mit meiner Vergangenheit drängten sie mich unter schmerzhaften Kämpfen und Krämpfen zum völligen Bruch. Noch trieb ich es anfangs in Heidelberg wie immer zuvor; ich kostete an den ästhetischen Näschereien fort und fort; ich ließ mir von Freund Fischer pikante[123] Theaterberichte schreiben; ich konnte nicht leben ohne zu lesen, viel und immer zu lesen; die poetische Productionslust trieb mich jetzt zu meinem Heinrich IV zurück, dann wieder zu Neuem und Anderem vorwärts, was Alles noch weniger fördern wollte als die laufende Arbeit des Tages. Aus allen diesen Neigungen aber schreckte mich die gesunde, verständige Natur des neuen Lehrers heraus. Er kannte meinen regelwidrigen Lebenslauf; er war mistrauisch gegen alle Autodidaxis; er wußte aus Erfahrung, wie oft solche Berufswechsel aus einem geistigen Schwindel entstehen; er wollte daher all meinen idealistischen Hängen keinerlei Nahrung geben; bei all seinem freundlichen Entgegenkommen war er doch nicht wenig zurückhaltend gegen mich; zu seinen privaten Erklärungen des Dante oder des Aeschylus, die er regelmäßig mit dem oder jenem seiner Zuhörer betrieb, forderte er mich niemals auf; die Freude an den romantischen Ausgeburten unserer Literatur, an allen Halb- und Tags- und Gewerbdichtern verleideten mir seine Vorlesungen ganz im Großen und seine gelegentlichen Bemerkungen ganz im Einzelnen. Wäre diese realistische Tendenz irgend einseitiger Natur gewesen, so würde sie mich wahrscheinlich mehr zum Widerspruche gereizt als zur Einsicht geführt haben; aber die warmen, ja glühenden Farben, in denen Schlosser die glänzenderen Parthien der Cultur- und Literaturgeschichte behandeln konnte, zeigten mir die Welt der Dichtung, Beruf und Größe des Poeten in weit höherem Lichte, als ich sie je gesehen; und grade diese Verbindung von Realismus und Idealismus, von Verstandeskälte und Begeisterung war es, was so gewaltig zu meiner Natur sprach. In dem innern Kampfe nun, den mir diese neuen Anschauungen bereiteten, sank ich eine Weile zu tiefem Kleinmuth herab. Ich schrieb an Hessemer wie ein Versinkender, wie um an ihm einen stärkeren, festeren Halt zu gewinnen: er solle das Leben ertragen lernen und in die Welt so eintreten, daß auch sie ihn tragen könne; denn es möchte eine Zeit kommen, wo sein vernichteter Freund um Trost auf ihn blicke und wo, wenn er ihn dann selber trostlos und[124] verarmt fände wie sich, beider Untergang gewiß wäre. Ich suchte mich in eine gezwungene Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit hinein zu wühlen; in so vielen Eitelkeiten und Vorsätzen getäuscht und betrogen wollte ich mir nichts mehr einbilden, nichts mehr vornehmen. Da fand Freund Hessemer nicht den Ton mich aufzurichten. Er suchte mich über meinen neuen Gram in der alten Weise hinweg zu tändeln; er hielt ihn für ein »Ruinenfieber«, für ein moralisches Alpdrücken, das sich verziehen werde; er schlug mir (Juni 1826) vor, ein gemeinsames Werk, einen Roman in Briefen auszuhecken, da ich doch zum Schriftsteller einmal gebacken und geboren sei; und wenn ich ihm in Anwandlungen der Verzweiflung schrieb, wie ich, von Schlafsucht und Kopfschwäche befallen, gezwungen sei, alle meine hochspringenden Ideen fahren zu lassen und meine Sache auf Nichts zu stellen, antwortete er mir in der alten J. Paul'schen Scherzweise: den Ideen sei grade in Schlaf und Traum der größte Spielraum gegeben; Gott habe aus Nichts die Welt gemacht, und ich scheine die Gottähnlichkeit darin zu suchen, mir aus Nichts etwas zu machen. Das warf mich mit allen meinen Qualen auf mich selber zurück; und ich war so weit herabgebracht, daß ich auf frühen, auf baldigen Tod hoffte, daß ich ihn wünschte.

Bei diesem Puncte angelangt fiel ich auf den Gedanken, nur in mir selber die Hülfe gegen meine Seelenkrankheit zu suchen. Ich wollte, um mit mir zur Klarheit zu kommen, eine Geschichte meines inneren Entwicklungsganges entwerfen, Confessionen niederschreiben, meiner kurzen Vergangenheit eine ernste und schonungslose Betrachtung widmen. Ich hatte schon früher zuweilen Tagebücher zu schreiben begonnen, aber ich hatte an dieser Selbstbespiegelung niemals Freude gefunden. Auch jetzt kam ich in meinen Selbstbekenntnissen nicht weit, aber weit genug, um den Anfangspunct meiner Rettung zu erreichen. Ich schrieb in schonungsloser Wahrheit; ich suchte mir nicht das Geringste zu verhehlen, mich über das Kleinste nicht zu täuschen. Ich fiel in eine tiefe Scham[125] vor mir selber; und dies, schrieb ich später, »brachte die Revolution in mir zu Stande, die an Schnelligkeit und Festigkeit so zu sagen eine unerlebte war«, das Werk des einen Augenblicks, der die Selbstkenntniß in mir zeitigte. Ich fühlte mich wie im Mittelpuncte der Seele ergriffen von der Sehnsucht nach einem ganz neuen Leben und Sein. Ich setzte aus von dem Puncte der tiefsten Versunkenheit, wo ich Alles aufgegeben, auf alles Größere verzichtet hatte. Ich warf mich mit einem bitteren Grimme gegen mich selbst und meine ganze bisherige Umgebung auf. Ich verwünschte die gutmüthigen Freunde, Männer und Weiber, die mich in einem eitlen Traum von glänzenden Begabungen, in ein grundloses Gefühl von frühreifer Selbständigkeit, in ein Gaukelspiel der Phantasie gewiegt hatten, das von Selbsttäuschungen wimmelte. Ich schämte mich tief der früheren Selbstüberhebung in jener läppischen Weltverachtung, die ich nun einen »Panzer der Schwäche« nannte, – in jenem »schmelzenden Weltverzweiflen«, das mir nun »eine lauernde Eitelkeit schien«; – »stehe ich nun über oder unter der Welt, schrieb ich an Hessemer voll Hohn über mich selber, der Welt, die ich so oft in stolzen Predigten zum Alltagsrock für Andere zuschnitt, ohne einen Lappen von ihr zur Blößenbedeckung für mich selber gut finden zu wollen?« Ich nahm jetzt »andere Höhen in Aussicht als die der hohen Menschen Jean Pauls« und rief den Freund von ihm zurück zu den Alten, dort seinen Geschmack und seine sittlichen Begriffe mit mir umzubilden. Ich wies von Schiller hinweg, dessen Reinheit mir seine unwahre Idealität nicht aufwiege, zu Shakespeare, ja von aller Poesie hinweg zur Geschichte, der ich mich ganz zu widmen beschloß. Ich wandte mich ab von dem schlingsüchtigen Lesen belletristischer Werke: es habe uns nichts geholfen, schrieb ich an Hessemer, es habe uns nur verrückt und in eine Art Bildung geschoben, die keinen Pfennig tauge. Die Poesie, schrieb ich weiter an ihn (10. Juni) sei quittirt, Flunkerei und Dichterei hinweggeworfen; ich habe die Nothwendigkeit längst schon[126] empfunden, heute sei der Entschluß gereist, und es sei ganz still dabei hergegangen. Voll herber Verachtung höhnte ich der albernen Liebeständeleien und erklärte, das Kind mit dem Bade verschüttend, daß meine Liebe zu Therese nichts als die kindische Vorspiegelung einer durch Jugend, Theater und Bücher verderbten Phantasie gewesen. Ich brach jetzt mit meinen dämmrigen Vorstellungen von der allzu bestimmten Bestimmung, zu der uns eine allzu vertrauliche Vorsehung hinleiten sollte, die mir nur passend dünkte für ein System des Quietismus und des träumerischen Brütens. Ich brach mit der ganzen phantastischen Schule meiner Vergangenheit und rief ein dreimaliges Unselig über das »baare Nichts dieser ganz und gar verlorenen Zeit!« Hatte ich so zum Zwecke der Heilung meines krankhaften Idealismus mir klar gemacht, was meine Diät zu meiden hatte, so folgte daraus von selber, was sie anzuwenden hatte. Wahrheit, Bescheidenheit, Maß, Fleiß, das waren die Grundlagen, auf die ich mein neues Leben auferbauen wollte. Ich schrieb mir rüstige Thätigkeit vor für kleine, mäßige Ziele, an denen ich nicht zu verzagen brauchte; »ist das nächste dieser Ziele erreicht, so ist das Ziel ja kein Ende, und der Weg wird sich weiter öffnen.« Ich fand ein neues Glück und einen neuen Frieden, als ich seit den Herbstferien 1826 in Darmstadt die Feldzüge meines neuen Fh'ißes eröffnete und zu handeln anfing nach meinen neuen Ueberzeugungen, »daß man mit Geist und Genie niemals ersetzt, was nur Fleiß, Geduld und Sinn fürs Leben geben kann.« Da erfuhr ich die tiefe Wahrheit jenes Schiller'schen Satzes, daß für geschwundene Ideale der sicherste Trost in nie ermattender Beschäftigung gefunden wird. Ich las in Darmstadt eifrig am Abulfeda, im Herodot und Aristophanes; mit Roßmann war bereits verabredet, im Winter meine ganze Zeit mit ihm auf griechische und lateinische Lectüre zu verwenden. Wir lasen den ganzen Aeschylus und Thukydides, die Hellenica, den Pindar, Aristoteles' Politik, und wohl zwei Drittheile des Livius; daneben trieb ich das Arabische[127] fort und hörte Schlosser mit dem alten Fleiße. In seiner verständigen Leitung sah ich allein alles Heil für mich gelegen; ich pries den glücklichen Stern, der mich nach Heidelberg geleitet; Roßmann bestärkte mich in aller Weise, diesen knorrigen Stamm »als die Eiche für uns Epheu« anzusehen; »es ist beschlossen, schrieb ich, mich an den Schlosser zu schließen.« Ich arbeitete nun von früh bis spät mit einer ganz neuen Elasticität; immer auf Roßmann's Stube, um mich durch nichts zerstreuen zu lassen; die Anstrengung schien mir Erholung; nie hatte ich so solide, so selige Genüsse. Ich lerne, schrieb ich an Hessemer, von Morgens bis Abends und träume des Nachts noch lernend; ich bin »Gott sei Dank daran und darin, und denke nicht ans Rasten, eher ans Fasten; wenn du wüßtest wie mir leicht ist und froh und selig! Jene Kämpfe mußten so kommen; jetzt ists Friede auf ewig!« Ich fühlte mich aufleben in einer sittlichen Erneurung des ganzen Menschen. Ich meinte lebendig zu erfahren, was Schiller mit den Worten meinte: daß, wie ein verjüngter Geist das gewisse Loos eines sittlich guten Menschen, so die sittliche Vortrefflichkeit gern die Begleiterin eines verjüngten Gemüthes ist. Mein gereinigtes Selbstgefühl schien mir ganz auf diesen beiden Gewinnsten zu ruhen. Es war dies die Zeit, wo die einst im Knabenalter gelegte Saat meiner homerischen Begeisterung aufschoß in einem fröhlichen Wachsthum, wo mir die Herrlichkeit der althellenischen Bildung in ganzer Fülle aufging. Ich war einstimmig mit meinem wackeren philologischen Freunde, daß unserer in Denk- und Lebensweise zerrütteten, aus einem kriegrisch-politischen Kraftaufschwung in die Weichlichkeit einer erschlaffenden Literatur rasch zurückgesunkenen Zeit nur durch die antike Bildung, die Schule der gesunden Geistesrichtung unserer Schreiber des 18. Jhs., nur durch die Aneignung des edlen Thatensinnes der Alten aufzuhelfen sei. Ich lernte einsehen, welch ein tiefsinnig naturgemäßer Entwicklungsgang es ist, wenn uns die Schule an der Hand der Geschichte aufzieht, uns am alten Testamente[128] die ersten Begriffe von Religion und Historie beibringt, dann uns durch die Welt der Griechen und Römer herüberleitet zu den Bildungsmitteln der neueren Zeiten; und nie ward ich seitdem müde, der Jugend mit aller Wärme begreiflich zu machen, welches Glück es sei, dieses natürlichen Weges der Schule geführt zu werden: denn ich übersah nun nur zu genau den ganzen Schaden, den es mir gebracht hatte, daß ich die umgekehrte Richtung eingeschlagen und nun auf weiten Umwegen mit großer Mühsal in das rechte Geleise zurücklenken mußte. Die kleinen Rückfälle fehlten wohl nicht, wo ich mich wie in der J. Paul'schen Periode noch mit selbstschmeichelnden Trostgründen über meine Verkehrtheiten beruhigte; ich weiß, daß mir der Spruch vorübergehend schmeichelte: der Vorzug des Weisen vor dem Schwärmer sei nicht, daß er nicht Schwärmer geworden, sondern daß er nicht Schwärmer geblieben sei; ich war aus jener Zeit so gewöhnt, mich mit der Nutzanwendung solcher geistreich schielenden Einfälle zu verwöhnen. Gleichwohl bestanden sie jetzt vor meiner unerbittlichen Selbstkritik nicht lange, sie hafteten nicht vor meiner angestrengten Thätigkeit. Als ich am Ende des Winters zurücksah auf das, was ich äußerlich und innerlich voran gebracht hatte, nannte ich dies Jahr 1826 ein fruchtbares, ergiebiges, aus der fetten ägyptischen Siebenzahl, »an dem ich zu zehren hoffte für mein ganzes Leben.« Und so kam es. Denn der entscheidende Rückweg zu der nüchternen Erfassung des Lebens war durch diese antike Schule gefunden. Es war nun das ideale Ziel meiner Bestrebung, mit den Alten denkend und fühlend in der Gegenwart zu leben und nach Vermögen zu wirken. »Mir gäbe, schrieb ich, mein siecher Körper und mein unverschuldetes Schicksal, das mir fünf Lebensjahre raubte, ein gewisses Recht, mich in die Resignation vom Leben zurückzuziehen, aber ich will mich mitten in seine Wellen werfen.« Bei diesem Bestreben mich nicht noch einmal selbst zu betrügen und zu täuschen, war mein innerlichstes Anliegen. Ich sah um mich her eine ganze Schaar[129] von landsmännischen Jugendgenossen, die mit schönen, ja mit glänzenden Anlagen und Ansprüchen in das Leben eintraten, bald aber nach einem kurzen Schusse stehen blieben, zurückgingen, verknorpelten oder verknöcherten, in Sonderlichkeiten oder selbstgeschaffenen Misgeschicken verkamen; ich hatte wie ein dunkles Gefühl, daß in dem Darmstädter Sandboden etwas Austrocknendes liege, das mit der Treibhauswärme der damaligen Bildungsperiode der Stadt zusammenwirke zu verderblichen Einflüssen, denen man nur durch gewaltsames Ausreißen und Verpflanzen entginge. Viele dieser alten Freunde, die mit sich selbst und ihrem Leben beständig zu Rathe gingen, litten an einer Originalitätssucht, der ich meinerseits in der Einen großen Bilanz, in der ich mich jetzt mit mir selber abfand, grade zu entgehen suchte, indem ich auf die planste, schlichteste Seite meiner Natur, gewarnt durch die leidige Erfahrung, zurück wich. »Es lautet arm, schrieb ich einem jener Genossen etwas später, sich es zum Vorzug zu rechnen, daß man menschlich und natürlich geblieben ist; und doch, je öfter ich darüber denke, um so mehr überzeuge ich mich, daß ich fast keinen andern Vorzug habe, als das richtige Maß für den Menschen zu besitzen und mit Menschen ein Mensch zu sein.« Wie ich in diese Rückwendung zu einfacher Geistesgesundheit auf einen Besitz meiner Knabenzeit gleichsam zurückging, so that ich auch in der Rückkehr zu meiner frühesten Bescheidenheit. Es gab unter jenen Freunden solche, die, aus so vielen Wechseln in der Vergangenheit auf meine Zukunft schließend, die Dauer meiner neuen Richtung bezweifelten: dies trieb mich bald dahin, mich in die Hülle der alten Bescheidung zu bergen, mich meiner neuen Erwerbe ohne jedes Gepränge in stillem Selbstvergnügen zu freuen, meiner Wege einsam weiter zu gehen und auf jede Anerkennung selbst in dem Kreise meiner nächsten Freunde zu verzichten.

Nur freilich in der ersten Freude meiner geistigen Erneuung war es mir eine dringende Gewissenssache, diese näheren Freunde,[130] und vor Allen den Einen, der alle die Thorheiten der früheren Strebungen mitgemacht hatte, zu der gleichen geistigen Umwälzung gegen sich selber mitzureißen, für meine eigenen Reformen heftige und tumultuarische Propaganda zu machen. Der Ernst dieses großen inneren Umschlags konnte sich kaum wohl anders erprüfen: war es mir in Wahrheit um die Wahrheit zu thun, die ich nun zu meinem Loosruf genommen, so mußte ich den Freund in meine Verwandlung mitherüberziehen. Und auf lange hinaus war es mir nun, als müsse ich mit Paulus' Zunge und Beispiel nur dies Eine zu ihm reden: Als ich noch ein Kind war, redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge: da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war. Ich war gewiß, daß er auf dem bisherigen Wege, in seinem bisherigen Wesen, mit seinem bisherigen Umgange seine großen Talente nicht nach ihrem Gehalte verwerthen würde, und ich rief ihn von Allem zugleich, erst scherzend, dann ernst, zuletzt voll harter Bitterkeit zurück: ich glaubte den Freund nicht sanfter anfassen zu müssen, als ich mich selber behandelt hatte. Ich begann zuerst mit der Rüge unserer einzelnen Unarten und Abwege. Ich suchte ihm (schon im Juni 1826) unsere belletristische Vielleserei zu verleiden; »laß uns bescheiden werden, schrieb ich ihm, und klar in uns selbst ruhen und alle Lectüre hinwegwerfen.« Ich suchte ihm eben so, der Schwäche schonend, noch in dem alten Ton J. Paul'scher Witzelei das Poetisiren zu verleiden, insofern es weiter als zur gelegentlichen Lebenswürze geübt werde. »Ich merke, schrieb ich, daß wir auf dem Musenroß ganz leidlich kleppern, wenn wir ohne Sporn und Sattel darauf sitzen, aber mit diesen wirst es uns ab; ich will sagen: wenn wir aus der Hippokrene mit der Hand schöpfen, so ists gut, aber wenn mit Gefäßen, so läuft es durch; ich meine: wenn wir uns nach dem arabischen Sprichwort blos mit Beten in den poetischen Himmel verzücken wollen, so kommen wir halbwegs hinauf; wenn wir uns aber mit Fasten und Almosen[131] durch die Thür zwingen wollen, so werden wir heimgeschickt; ich verstehe darunter: wenn wir einzelne Zähne humoristischen Gebisses zu haben meinen, so haben wir vielleicht Recht; wenn wir aber wie Abdulsamad eine Kinnlade aus Einem Stück zu besitzen wähnen, so ists dumm, weils nicht wahr ist. Was soll ich von uns halten, die wir aus mittelmäßiger Sanderde geformt sind und mit Darmstädter Sand unsere poetische Dinte bestreuen? Laß die Muse schlafen, wie die musa, die hundert Jahre wächst ohne zu blühen.« Als er mir hierauf einen »Schwanengesang« schickte, aus dem die Ueberworfenheit mit der Welt aus jeder Zeile glotzte, in dem er sich, wie er selber schrieb, »wie ein verzogenes Kind an dem Leben rieb«, rüttelte ich ihn wie mich selbst aus diesen Träumereien einer unklaren Weltverachtung schon in viel stärkerem Tone auf. Aber ich gewahrte mit Schmerz, daß er nicht begriff, weder was in mir selber vorging, noch was ich von ihm verlangte. Wohl schrieb er mir (Juli), ihm sei um seine verflossenen wie um seine künftigen Jahre bange; er sehe so sehr, wie es nichts mit ihm sei; er habe alle Stände, den ganzen Bilderbogen, wo die Kinder von den verschiedenen Lebensbeschäftigungen unterrichtet werden, durchmachen wollen, und überall sei er durchgefallen; er habe seinem Herzen mit der Härte eines Edelsteines auch dessen Werth geben wollen, aber es sei nur immer weicher und weiter und dürstender geworden, »so daß es jetzt an die Rippen schlägt und sich zerstören will, da ihm nichts mehr genügt, da ihm das ganze Leben schaal, leer oder zertrümmert daliegt.« Mit der größten Mühe sinne er jetzt allen höchsten Reizungen des Lebens nach und steige durch manchen Himmel, aber er finde keine höchste Idee, die er nicht auch zugleich für schlecht und elend halten müßte. Das grade waren die Wortparaden, an denen ich jetzt so übersättigt war, die meine Ungeduld aufs höchste steigerten. Ich trug also noch grellere Farben auf. Ich kämpfte an gegen die ganze »schiefe Stellung, die wir zur Welt genommen hatten, die uns nicht zugekommen[132] und nicht zu gute gekommen sei.« Ich sagte ihm schonungslos, daß unser ganzes Wesen, wie meines so das seine, »ein einziger Fehler« sei, daß es gelte, das ganze Sein zu ändern auf Einen Schlag, nicht einzelne Entschlüsse und Werke nur, sondern die ganze Ueberzeugung von dem ganzen Werthe des ganzen bisherigen Treibens, »anders ändere sich nichts an ihm«. Möge des Menschen Charakter sich erst allmälig bessern, bei uns handle es sich um einen Stand- und Gesichtspunkt; nicht um Schlechtigkeiten, sondern um Irrthümer; es gelte um den Einen Moment des Erwachens. Ich mahnte ihn also ebenso hart wie mich selber, mit seiner ganzen Vergangenheit unwiderruflich zu brechen in der gleichen Auflehnung, mit der ich selbst mich gegen mich selber gekehrt; ich rief ihm (21. Aug.) wie mir selbst mein Dreimal Unseligzu über die kindische Vergeudung unseres Jugendlebens. Auch dies war umsonst. Er verstand mich nicht; er widerstand mir, so weit er mich verstand. Ich solle ihm, antwortete er mir (28. Aug.), um Gotteswillen sagen, was denn so plötzlich anders werden, warum auf einmal kein gutes Schnitzelchen an uns sein solle, welchen rechten Weg wir so entsetzlich verfehlt hätten, welch eine ungeheure Idee mich so unerwartet auf den »Wendepunct des Lebens« gestellt habe; ich höbe mich in kalte Höhen hinauf, wo der Mensch nicht hingehöre, wo Leben und Alles um ihn aussterbe! Er nahm die herbe Verdammniß unserer schönen Jugendjahre höchlich übel; zart, schonend, edel in seinen Wendungen und Einwendungen »verbat er sich die Ausfälle, die ich gegen mich selber richtete«; wenn ich über eine verlorene Lebenszeit jammerte, so behauptete er: nur durch diese Schule seien wir zu etwas geworden; er fand tiefliegende Motive bei den Thorheiten, die wir begangen; wenn ihn auch »mancher unserer Streiche schamroth mache vor aller Welt, vor sich selber habe er sich deren nicht zu schämen.« Da, schrieb ich zurück, da stecke der Fehler! Was uns getrieben habe, möge gut gewesen sein oder nicht; was wir gethan,[133] sei kindisch gewesen, und nicht vor Anderen, nur vor mir selber schämte ich mich darüber. Ich zerpflückte ihm die vertheidigten Ideale Stück für Stück und pries ihm die nüchterne Wirklichkeit an; »ich stehe jetzt frisch und wacker darin und lasse mich Pedant von dir schelten: wir wollen künftig Rechnung halten!« Ich war untröstlich, daß er unsere leidige Schule zu loben nicht aufhören wollte; ich sah, daß unsere Wege weit auseinander gingen, daß eine tiefe Kluft zwischen uns aufgähne. Er war eben ein Künstler, der die Wege des kalten Historikers nicht gehen konnte. Ihm war alles laufende Leben, Zeit und Zeitung, und was mit der Prosa des Tages zusammenhing, langweilig und wie nicht da; er behandelte seine ganze Existenz gern wie ein heiteres Spiel; sein stehender Redeton war allem einfachen Ernste fremd; aus seinen Mundwinkeln kam das ironische Lächeln, aus seiner Rede der ironische Accent nur selten weg; er spielte in seinen Formen den Sonderling und liebte überall einen geschraubten oder schraubenden Ton des Verkehrs anzuschlagen; sich in ein Wesen anderer Art zu versetzen, mit einem Menschen von gemeinpraktischer Bildung natürlich zu verhandeln, ward ihm schwer. Ich rückte ihm diese Wunderlichkeiten einzeln auf, ich bezeichnete sie ihm an Anderen seines vertrauteren Umgangs, um ihm am Kleinen klar zu werden; von diesen »krummen Linien«, sagte ich ihm, wünsche ich ihn zu dem »graden Sinne« zurütkzusühren, den Er und Jean Paul und die Poesie mir ehrlich verdreht hätten, von dem ich aber unter allen Verirrungen einen Grundstock mir erhalten habe. Ich wies ihn auf Ernst und trocknen Fleiß in seinem Berufe und wie mich selbst auf bescheidene Ziele. Er wiegte sich in Ideen über eine Geschichte der Baukunst, ich mahnte ihn, vor Allem ein Baumeister zu werden. Er rüstete sich zu einer großen Kunstreise nach Italien, ich wünschte, daß er sie hinausschieben möchte. Aber vergebens blieb jede Bemühung eines innerlichen Verständnisses. Noch nach diesen Ueberdeutlichkeiten konnte er mir schreiben, ich müsse deutlicher und ausführlicher sein,[134] wenn ich gegen unser Nebeln und Schwebeln so moralisch wüthend tobe und nichts als strenge, kalte, scharfe Wahrheit wolle gelten lassen. Er schien für nichts empfindlich als gegen die Härte meiner Scheltworte, er klagte über meinen heftig zänkischen Ton, über die Leidenschaftlichkeit meiner Ermahnungen, über das Befehlshaberische in meinen Vorschriften, über das Eis und den Schnee, den ich auf unsere Freundschaft fallen lasse. Ich bestand darauf, daß Er, kein Kind mehr, Zank und selbst Spott ertrage, und verwünschte jede Unwahrheit, die sich zwischen uns lagern wolle. »Traust du mir absichtliche Kränkung und Spott zu, schrieb ich ihm, wo du ihn nicht verdient hast? Das Faserchen, das dich dazu fähig macht, betrügt dich und mich. Als ich mich gegen mich selbst empörte, faßte ich alle meine Sündenschuld auf einmal und warf mich zu Boden und hob mich wieder; und wenn mich nun je wieder eine neue stürzt, dann sollst du mir diesen Brief in den Rachen stoßen, daß ich daran berste. Soll ein Mensch nicht so viel Kraft haben, sich selbst zu erkennen ohne alle Schonung und Rückhalt, um das goldene Reich der Wahrheit zu erobern?« Er gab antwortend zu, daß »wir uns früher zu sehr verwöhnt und uns durch Kitzeln des Herzens zu reizbar gemacht«; aber diese Mauser unserer Freundschaft durchdauere er nur mit Frösteln; wenn auch sein Leben mitunter in einem »seltsamen Rausche hingegangen sei«, die Selbstgeißelung, die ich verlange, könne er nicht leisten und nicht billigen. Wir hatten uns seit unserer Trennung gegenseitig Tagebücher geschrieben: Er einen Faden seines äußeren Lebens mit mannichfachen Ergüssen von Gefühlen und Gedanken, Ich nur kahle, magere Briefe, da ich, im Schreiben wie im Reden wortkarg, niemals das Selbstverständliche zu sagen liebte; als ich nun auf Verwandlung des Tagebuchs in Wochenbriefe antrug, argwöhnte der Freund, ich sei nicht unseres Briefwechsels nur, sondern seiner selber müde geworden; er sah damit die Flitterwochen unserer Freundschaft zu Ende; er wisse sich durchaus nicht zu erklären, schrieb er, was ich wolle;[135] ich solle ihm sagen, was ich gegen ihn hätte, da ich so wenig sehen wolle, was ich an ihm habe. So rührende Worte hätten mich zu jeder andern Zeit erschüttert und stumm geschlagen, jetzt war ich unbarmherzig. Ihm war unsere Freundschaft »das Höchste, was er im ganzen Leben fand«; ich aber setzte sie, wenn nicht der Werth unseres Lebens sie adeln und heben sollte, in dem schroffsten Eigensinn meiner neuen Grundsätze gradezu auf das Spiel. »In der That, schrieb ich ihm (17. Sept.) zurück, was habe ich denn an dir? und du an mir? Wären wir nicht mit Liebeln und Tändeln durch jene Jahre getappt, was hätten wir uns sein können! Laß uns den köstlichen Namen Freundschaft nicht an einer Verbindung entweihen, die nur ein eingebildetes poetisches Gebäude war. Da ich die ganze Bürde alles Phantastischen jüngst von mir warf, flog auch jene Art Freundschaft mit in die Luft, und eine andere, höhere, geläutertere steht mir nun vor Augen. Wir sind in jener Zeit jene Freunde gewesen und müssen in dieser anderen Zeit diese anderen Freunde sein. Gott sei Dank dafür, daß wir jene früheren nicht mehr werden können. In mir ist Alles im Kreißen, und leider stehen wir so zu einander, daß wir uns in dieser Gebärperiode nicht mehr als gegenseitige Hebammen dienen können.« Die Dinge schienen sich mehr und mehr zu einem förmlichen Bruche anzuschicken. »Es sind an dir Radicalkuren versucht worden, schrieb ich ihm bald darauf in entschlossener Resignation, wie an keinem Menschenkinde sonst, und sie haben nichts verschlagen. Sv erschlag's denn der Donner. Gott weiß, wie sehr ich dich liebte, als ich ein Kind war; da ich ein Mann zu werden begann, wollte ich dich mit mir ziehen, und ich will es als mein Probe- und Meisterstück in meinem neuen Leben ansehen, daß ich dich entweder zu mir stelle oder dich fahren und sinken lasse!« Diese schneidende Unerbittlichkeit konnte herzlos, unbegreiflich, unverantwortlich scheinen. Sie konnte es um so mehr, da mir der Freund oft angedeutet hatte, daß ihn mehr die Weise als der Zweck meiner Vorwürfe befremde, da er sogar mehr[136] und mehr einlenkte und nachgab. Sein Vater hatte mich oft bedeutet, daß ihn zu bestürmen kein guter Weg sei auf ihn zu wirken. Er selber schrieb mir, daß er mit mir leichter übereinstimmen werde, wenn ich an das Verfechten der Wahrheit nur nicht gar so viel Leidenschaftlichkeit setzte. Er deutete mir an, auf dem Wege der Reflexion über sich zur Klarheit zu kommen, sei ihm nicht gegeben: sobald er philosophire, sei er Null und Nichts, ein durchgefallenes Lotterieloos, ein Herbarium der seltsamsten Seifenblasen. Da geschah es, daß ihm ein Brief von mir an W. Sell zu Gesicht kam. der ihn mehr im Zusammenhang zu verständigen schien über das, was ich wollte, der ihm jedenfalls bewies, daß ich nicht blos ihm gegenüber, nicht aus Laune, nicht aus Sättigung an unserer Freundschaft, sondern aus einem unüberwindlichen inneren Drang so geworden, wie ich nun war. Schon früher hatte er, eingehend auf einzelne meiner Wünsche, die Vielleserei verschworen, das Poetisiren in der alten Weise abgelegt, das »ruhige prosaische Leben« in seinem Werth herzustellen Noth gefunden; er hatte sich freudig gerühmt, erwacht zu sein, sich mit schlichtem, praktischem Sinn auf die italienische Reise zu rüsten, die Welt und sich von all dem Flitter der Idealwuth zu entschälen, zufrieden mit einer nüchternen Gegenwart, die er sorgsam nütze und wahrhaft liebe. Aber jetzt erst, nach Kenntnißnahme jenes Briefes, schrieb er mir ungleich eingänglicher als je zuvor (19. Jan. 1827): »Ich kann nun nicht nur sagen, ich verstehe dich, sondern auch: ich verstehe dich ganz, und die Folge mag dir zeigen, wie ich deine Ideen mir zu eigen zu machen weiß.« Er schien jetzt nur die plötzliche Umwandlung, auf die ich drang, seiner Natur nicht angemessen zu finden und wünschte nur seines Weges gehen zu dürfen. »Gott, schrieb er einen Monat später (23. Febr.), welch eine Masse von Thorheit liegt hinter mir! welch ein Krüppel habe ich mit Teufelsgewalt werden und bleiben wollen! Wenn ich dagegen mein jetziges Wesen betrachte, ich kann den Unterschied nicht kürzer und bündiger bezeichnen, als durch die[137] einfachen Worte: Genießen und Wirken, oder auch Haben und Sein. Mit wie viel Muth erfüllt mich der Gedanke ein Mann zu sein und so zu handeln! mit welcher Beharrlichkeit stehe ich jetzt auf mir selbst gegründet da, gegen das frühere Schwanken auf fremden Stützen. Ich stehe sicher in meinem Berufe und sehe mich ihm gewachsen, und statt der früheren Luftschlösser baue ich jetzt bequeme, solide Häuser. Was ich dir bei dieser Veränderung danke, glaube mir, erkenne ich wohl und wie ich soll!« Noch drei Monate weiter und er schrieb mir (14. Mai) wie im Tone der Erfüllung aller meiner stärksten Anforderungen: »Ich habe eine große Revolution über mich erlebt, und über eine gewisse Gemüthsschwäche endlich den Sieg davon getragen, daß ich nun sicher bin vor poetitischer Träumerei und süßen Sentiments.« Er schien nun durchaus und ganz mit mir einig, nur daß ich etwa noch die Lichter heller, die Schatten dunkler als Er zu sehen liebe. War es demnach nicht eine widerliche und verstockte Herzenshärtigkeit, daß ich selbst jetzt noch nicht zufrieden gestellt war? daß ich selbst jetzt noch kurz vor dem Antritt seiner Reise eine kurze Summe seines Lebens zog, die dahin auslief, daß der rechte ordnende Verstand die bisherige Meisterin seines Lebens, die Phantasie, noch immer nicht ersetzt habe? daß er noch jetzt sich zu beklagen hatte, ich scheine ihn kaum mehr meiner werth zu achten? ja daß ich dann während seiner dreijährigen Reise, ohne mit ihm irgend gebrochen zu haben, den Briefwechsel mit ihm aussetzte und nur durch seinen Vater in mittelbarem Verkehr mit ihm blieb? Er reiste ab in dem sichern Vertrauen, daß bei seiner Heimkehr unser altes, inneres Verständniß gleichfalls wiederkehren werde; auch die Freunde, die um unsere Zwiste wußten, waren derselben Ueberzeugung. Nach drei Jahren aber ward unser Briefwechsel genau an demselben Puncte und genau in demselben Tone aufgenommen, wo er jetzt abgebrochen war. Könnte es stärkere Zeugnisse geben als diese gegen meine Tadelsucht, meine Mürrischkeit, meine eigensinnige Meisterei und Ueberhebung, die einem[138] so offenen Einlenken, einem so genauen Fügen des Freundes nicht Rechnung zu tragen wußte? Möchte aber das Härteste wahr und möchte es gerecht sein, was man über meine Härte sagen möchte: leider, der Erfolg sollte sie rechtfertigen. Trotz all der scharfen Einprägung bewies sich der Eindruck der neuen Wahrheiten nicht stark genug, um zu dauern. Ich hatte das immer gefühlt. Alle Versicherungen des Freundes hatten für mich allezeit zu wenig Resonanzboden; ich hörte den Klang der ächten Ueberzeugung nicht heraus; oft lagen die richtigsten Einsichten und Vorsätze ganz nah und dicht bei den gegentheiligsten. Ich wußte, daß er einen selbst übertriebenen Fleiß ans Zeichnen, Malen, Aufnehmen setzte, daß er mit einer heißhungrigen Gier seine Sonntage zur Vorbereitung für seine Reise benutzte, nachdem er in der Woche seine anstrengenden Amtsgeschäfte zur höchsten Befriedigung seines Chefs gefördert hatte. Dennoch gewahrte ich bei dem Allen mehr die künstlerische Freude an seinen Sachen, die ehrgeizige Freude an seinem Fleiße als die hingegebene Lernbegier zu den praktischen Zwecken seiner Kunst. Er pries sich, daß all sein Bestreben nun auf den Einen Punkt gerichtet sei, ein Baumeister zu sein und zu werden; eben das war das Eine, wohin ich ihn wollte: aber ich vertraute ihm nicht. Sein Oheim Moller hatte eben dieses Unvertrauen oft und immer geäußert, selbst wo er zur Bewunderung seiner einzelnen Leistungen sich gezwungen sah. Wir hatten früher beide hochmüthig darüber gelacht, mit der Zeit war ich über diese Zweifel dem Weinen näher gekommen, denn ich mußte dem Manne jetzt Recht geben. Ich hatte tief durchschaut, daß keine Ader zu einem praktischen Manne in dem Freunde gelegen war, daß er trotz seinem ungemeinen Talente, trotz seinem großen Fleiße und selbst seiner geschäftlichen Anstelligkeit nie ein Mensch für das Leben werden würde. »Er wird kein Baumeister!« das war selbst nach allen Lobliedern, die er ihm sang, der ewige Refrain des Onkel Moller. Die poetische Phantasie, die Ornamentik seines Lebens, und mehr noch das weiche, gute Herz, der wahre Adel seines Wesens,[139] hat diese höchst unwahrscheinliche Wahrsagung wahr gemacht. »Du weißt, schrieb er mir damals, wie ich das schwache Bedürfniß in mir habe, an einem Wesen liebend festzuhängen ohne nachzulassen, mich ganz hingebend, ganz aufopfernd.« So war er; gegen Niemand war er bis dahin mehr so als gegen mich. Durch meine kühlere Entfernung gab ich ihn sich selber zurück; er gab sich später einem liebenden, trefflichen Weibe und bewährte an diesem die Wahrheit jenes Ausspruches durch ein ganzes Leben des ungetrübtesten ehelichen Glücks, das jedem eine Erbauung sein konnte, und in dem auch der alte Freund noch immer sein Ehrenplätzchen behielt. Aber – ein Baumeister ist er nicht geworden.

Ich hatte in meiner neuen Laufbahn zum erstenmale Gelegenheit, in diesem engsten Freundschaftsverhältnisse meine Menschenkenntniß und die Unbefangenheit meines Urtheils zu prüfen. In früheren Jahren, wo alles Geistesleben in mir schlummerte oder höchstens von Träumen bewegt war, war ich in allen meinen freundschaftlichen Beziehungen nur auf die sittliche Seite der Charaktere gerichtet, jetzt schloß meine Schätzung der Menschen unwillkürlich ihre intellectuelle Seite mit ein. Dies allein mußte meinen früheren, viel harmloseren Beurtheilungen den Schein einer größeren Härte und Unverträglichkeit geben. Und die letztere war nicht überall bloßer Schein. Gegen das, was mir in der geistigen Natur eines Anderen völlig abweichender Art erschien, verhehlte ich meine Unverträglichkeit kaum. Darin lag doch weder Hochmuth noch Schroffheit noch Feindseligkeit. Wer lernte nicht zeitig in dieser Welt, falls er sich nicht ganz aus ihr hinausbegeben will, so viel Biegsamkeit, um auch mit anders Denkenden doch friedlich zu verkehren, um bei ganz verschieden Gerichteten den Fleck, der uns krank erscheint, schonend unberührt zu lassen? Mir war Grade reden lieber als Schweigen, aber ich verstand mich auch ganz gut darauf, lieber zu schweigen, als krumm zu reden. Wo ich den alten Freunden ganz ehrlich, offen, rückhaltlos, grade und wohlgevieret[140] gegenüber stand, da hing ich mit Herz oder Kopf oder Beidem fest; wo ich weniger Einvernehmen fand, sagte ich am liebsten scherzend die Wahrheit; wo ich gar kein Verständniß möglich sah, da zog ich zurück, ohne Groll, aber in der vollen Ueberzeugung, daß, wo Annäherung doch undenkbar ist, Trennung besser sei als fruchtloser Hader. So habe ich mich in jenen Jahren meiner Wiedergeburt von Lange, von Röth, von Flegler laut oder stille geschieden. Diese Schritte aber, zu meinen Verhandlungen mit Hessemer gehalten, stellten mich damals auch bei andern Freunden leicht in das Licht einer übermüthigen Abgeschlossenheit und dünkelhaften Ueberhebung. So war es eine Weile bei Kriegk. Er hatte in seiner Knabenzeit ein innerlich sehr tief bewegtes Leben durchgemacht; Er war es, der in der Schule ganz im Stillen gestrebt hatte unserm Tugendbunde anzugehören, und zu dem Ende, eigentlich mit Widerwillen und nur, um mir zu Gefallen zu sein, jene geographischen Studien mit mir betrieb, die er im Alter mit Geist und seinem Sinn fortgepflegt hat. Er war damals sehr religiös gewesen; nach seiner Mutter Tode war er dagegen in eine Periode der Zweifel und des Verzweifelns gefallen, wo sich sein Verstand, alle andern Geisteskräfte unterdrückend, gewöhnte, Alles zu anatomiren und zu analysiren, die lebendigen, bindenden, geistigen Mittelpuncte in Betrachtung der Dinge ganz aus den Augen zu verlieren. Dann war er, unter Voß' und Schlosser's Leitung innerlich erstarkt, in ein Stadium strengeren Religionsglaubens zurückgekehrt, nicht ohne die Zuwirkung eines hypochondrischen Leidens, das ihn lange mit Todeserwartung, Lebensüberdruß und Menschenhaß peinigte und seinen Höhepunct eben in der Zeit erreicht hatte, wo meine Metamorphose vorgegangen war. Wir hatten in Briefen eine Unterhaltung über Philologie, die bald in einen thörichten, gereizten Streit ausartete. Die Sterilität, durch die mir geschmacklose Lehrer diese fruchtbarste aller Wissenschaften verleidet hatten, ihre gänzliche Lostrennung auf der Hochschule von den pädagogischen[141] Zwecken, die geistlose Kritzelei der Conjecturisten und Variantensammler fanden in mir den heftigsten Bekämpfer. Dem würde sich Kriegk zu andrer Zeit nicht widersetzt haben; jetzt aber war er, wie gegen Alles, auch gegen mich in einer bitter feindseligen Stimmung. Er hatte Hessemers früheren Verkehr mit mir allezeit für schädlich gehalten; er hatte gewünscht, daß ich in Heidelberg eine Arznei dafür finde; er hatte nachher meine inneren Verwandlungen beobachten können; hatte dann, wie Hessemer anfangs in schweigendem Kummer gethan haben mochte, einen teuflischen Geist des Uebermuths und der wegwerfenden Ueberhebung in mir aufkommen sehen; zuletzt setzte er sich in den Kopf, ich wolle auch ihn wie Hessemer von mir stoßen, ich hätte mich mit Roßmann in stolzer Verachtung von ihm gekehrt und verschmähe ihn als einen philologischen Grübler und Wortklauber. Eine Zeit lang büßte er seinen Groll in unserem philologischen Streite, in dem er mir mit vornehmer Abweisung den verletzenden Ton aufrückte, in dem ich Neuling, die Mängel der Lehrmethode mit dem Werthe des Lehrgegenstandes verwechselnd, ohne Erfahrung in unreifen Behauptungen über so große Fragen absprechen wollte. Dann aber ward seine persönliche Verstimmung so unverholen, daß er mir nahezu Verkehr und Briefwechsel gar aufkündigte. Wäre ich nun so kalt, so dünkelhaft, so abstoßend gewesen, wie ich scheinen konnte, so hätte ich es dabei gelassen. Statt dessen schrieb ich ihm (März 1827) offen, treu und versöhnlich, die Grobheit und Derbheit seiner Ausfälle mehr achtend als verbittend. Darauf schrieb er begütigt (3. April) zurück, bekennend, daß er sich für den Verstoßnen nicht den Verstoßenden gehalten, geständig, daß er »sein Unrecht schmerzlich und lebhaft fühle und die biedere Art und Weise meines Verfahrens ganz zu schätzen wisse.« So trat eine aufrichtige Aussöhnung ein, die in Kriegk den finstern Argwohn »einem Gefühle des Danks und der Freude« weichen machte, das selbst auf sein körperliches Befinden wohlthätig überwirkte. Ich hatte die Genugthuung,[142] die Bewegungen, die mich selber erschütterten, auf dieses Freundes Seele weiter wirken zu sehen; bald erhielt ich von ihm die Versicherungen, er gelange durch strenge Selbstgewöhnung mehr und mehr zu Frohsinn und Ruhe; die Gewißheit des Siegs und das Gefühl einer durchgreifenden Reform seines Wesens schwebe ihm deutlich vor Augen.

Der unter meinen Freunden am genauesten meine Wandlungen beobachtet und mit dem Auge eines reiferen Alters und scharfen Verstandes beurtheilt hatte, war Wilhelm Sell. Er hatte langeher wie in der Rolle eines jungen Mentor neben mir gestanden. Er gehörte einer höchst ehrenwerthen Familie an, deren Name die beste Währung im Lande hatte; der Gedanke ihr ein würdiges Mitglied zu werden war ihm heilig und gab ihm einen edlen Stolz und eine größere Zuversicht für das Leben. Seine Gemüthsrichtung war durch Natur und Schicksal zum Ernste geneigt; er hatte frühe seinen Vater auf eine tragische Weise verloren; seine älteste Schwester, ein Wesen, das wie von einer heiligen Würde umfangen, von Anmuth und Herzensgüte beseelt, Jedermann Ehrfurcht und unbedingtes Vertrauen einflößte, hatte großen Einfluß auf ihn geübt; die Verhältnisse, die ihn demnächst zu der männlichen Stütze der Familie beriefen, hatten ihn frühe gereist. Das empfindlichste Sittlichkeitsprincip beherrschte diese Familie, nach dem auch mein Freund Wilhelm alle Erscheinungen in Welt und Menschheit auf höhere Gesichtspuncte zurückzuführen liebte. Eine keusche, fast jungfräuliche Natur war er aller laxen Moralität ein unerbittlicher Feind; sein Abscheu vor aller Gemeinheit konnte sich bis zum Ausdruck der bittersten Entrüstung steigern. Viele seiner Freunde, die ihn fast alle mehr verehrten als liebten, rügten an ihm die schneidende Schärfe seiner Urtheile über Anderer Werth und Unwerth; er selbst sprach sich von einer gewissen Ueberhebung über Andere nicht frei; er gab sich Eigenliebe und in dem Sinne eines edlen Selbstgefühles selbst Eitelkeit Schuld; in seinem Charakter, schrieb er mir einmal,[143] liege viel Liebe zu den Menschen, aber es fehle ihm oft eine gewisse Wärme, die er mit seinem Wesen nicht zu vereinigen wisse. An mich aber, gestand er mir, knüpfe ihn dies Gefühl einer gewissen Zärtlichkeit, das ihm sonst in der Freundschaft nicht eigen sei. Der Gesinnungsbund, der sich zwischen uns in unserem Abendverkehre geschlungen, hatte sich brieflich weiter entwickelt. In dem Kreise meiner Freunde war Er immer der, dem die gesunde, nüchterne Seite meines Wesens vorzugsweise zugekehrt war. Er war ganz darauf gestellt, sich selbst in jeder Lage von allen seinen Handlungen strenge Rechenschaft zu geben, und er rief auch Andere, auch mich überallwazu auf, der ich gewohnt war, drauf los zu leben und mir nur in Fällen besonderer Wichtigkeit den Rückweg zur Überlegung offen zu halten; in der Meinung, man müsse das wohl verstehen, die Probe der verständigen Rechtfertigung jedes im gewöhnlichen Lebenstaete gefaßten Entschlusses oder jeder begangenen Handlung zu machen, man müsse sie aber selten zu machen versucht oder veranlaßt sein. Ein Mann des kalten Verstandes war Sell einer der Wenigen unter meinen Genossen, der sich von der poetischen Wuth der Zeit nicht hinreißen ließ, der sich selbst das manum de tabula zurief, wo er sich nicht berufen fühlte. Er war es immer gewesen, der mich in meinen Kaufmannsjahren auf einen festen Punct, einen anderen Beruf hinwies, da er allen freien Aufschwung in mir absterben sah. Dabei hatte er alle meine Schwächen immer mit einer Schonung behandelt, die mir in allen Briefen meiner Freunde aus jenen Zeiten auffällt, wo sie mich in meiner beklagenswerthen Lage noch reizbarer dachten, als ich war. Er hatte meiner Verliebtheit, meinen Schauspielerhängen, selbst jener seltsamsten meiner Neigungen nachgesehen, »die mich wegtrieb aus diesem Leben, in dem mir so viel widerstrebe, nach einer einsamen Stätte, wo ich entweder in dem innigen Seelenverkehre mit wenigen Freunden die Wunden des Herzens heilen wollte, oder mit ihnen der Gründer eines schuldlosen, einfachen Völkchens werden möchte.« Dabei aber rief er[144] mich doch aus allen diesen Verirrungen mahnend zurück zu den ernsten Zwecken des wirklichen Lebens. Er verkannte in meinem dunklen Ringen nicht eine gewisse Erhebung über die gemeinen Niederungen der Welt, glaubte aber in meiner heitern, selbst der kindischen Ausgelassenheit fähigen Naturanlage einen Mangel an Lebensernst zu entdecken, der mich bestimme, wie ein Schmetterling unstet nur das Schöne dieser Welt zu umgaukeln. Er nannte mein Leben (Jan. 1824) »gleich dem farbigen Sammer, voll bunter Blüten, ein beständiges Schwärmen im Gebiete der Kunst und Saugen der süßen Säfte aus dem Kelche geistiger Schönheit«. – Als nun die große Krise in Heidelberg mich befiel, wo ich wie zu seiner Fahne herübertrat, wo ich den Verstand zum Meister meines geistigen Berufes bestellte, wo ich nach seinen steten Ermahnungen den Anforderungen von Welt und Zeit, von Volk und Vaterland gerecht zu werden sann, mochte ich wohl erwartet haben, ihm noch um vieles näher zu rücken als zuvor; fast aber schien es nun, als sei ihm das Ungleichartige in mir das Anziehendere gewesen. Die neuen Richtungen, die ich einschlug, führten zu Erörterungen mit ihm, wie sie mit Hessemer und Kriegk dazu geführt hatten; von dem Wechsel in Studien und Gesinnungen spielten sich diese Beredungen auf die veränderten Personen herüber und leiteten zu einem mannichfaltigen Austausch von unumwundenen Erklärungen. Es ist von dem größten Interesse, wie Sell während der großen revolutionären Gährungen in mir als ein ächter Freund, voll Theilnahme an meinen labyrinthischen Gängen, diese Krise sich und mir selber aus- und zurechtlegte. Als ich ihm die ersten bestimmteren Mittheilungen machte, war ihm Vieles dunkel, befremdend, beunruhigend. Er sah mich (Ende 1826) in einem großen inneren Kampfe begriffen, sah mich mit forschenderem, fast zu Mistrauen geschärftem Blicke jetzt Alles betrachten, was ich früher für groß gehalten; »ich fühle mich klein, bemerkte er, aber gestärkt durch den Gedanken an meine Kraft, den Stolz der Selbständigkeit, den[145] Stolz, das Große zu wollen.« Die neue Zuversicht meiner Urtheile mochte ihm wie meinen anderen Freunden oft Eigensinn, oft überhobener Dünkel er scheinen. Mein Zustand schien ihm wie Jenen exaltirt, nicht ein Zustand der Ruhe, im besten Falle »eine hohe Stufe auf dem Weg des Kampfes, der dahin führen solle.« Wie ich von Vielem, was mich früher gefesselt, jetzt kalt und feindlich mich abwandte, das machte ihm einen Eindruck der Unbeständigkeit, einer flatterhaften Natur, einer Neigung zu Extremen. Wie ich jetzt dem kalten, prüfenden Verstand über alle anderen Regungen des geistigen Lebens die Obhand zu geben strebte, schien ihm dies nur das Gegenstück zu meiner bisherigen Ueberspannung des Phantasielebens. Ich sei kein Verstandesmensch, schrieb er mir, und werde es auch niemals werden; mein »heller Geist habe ein eben so tiefes Gefühl zur Seite«; beide Kräfte müßten in ein gehöriges Gleichgewicht gesetzt werden. Er recapitulirte sich mein Leben, meinen verfehlten Beruf, den Rücksturz in die Welt der Ideale, durch Poesie, Theater, Freundschaft und Liebe gesteigert, meine wechselnden Studien in Aesthetik, Philosophie, Philologie und Geschichte. Die Aesthetik als Alleinzweck des künftigen Berufs habe mir keinen Halt geboten; die Philologie sei mir als unfruchtbare Gelehrsamkeit verleidet worden; in der Philosophie habe mir das praktische Interesse gefehlt; zuletzt hätte ich mich zu einem Fache gewandt, »welches aus dem Leben der Menschen unmittelbar seinen Stoff ziehe und wiederum für das Leben wirken solle«. So weit war Alles vortrefflich. Aber nun verkannte er die Bedeutung dieses letzten Ports, in dem ich angelangt war zur Niedersiedelung, wo er mich immer nur im Wandern begriffen sah. »Dieser Entwicklungsgang ist natürlich, schrieb er, aber darum noch immer ein Gang zur endlichen Entwicklung. Historiker wie Schlosser wirst du wohl nimmer werden. Dazu fehlt dir, wie ich glaube, nicht die Kraft des Geistes, wohl aber die Ruhe und Kälte des forschenden Verstandes. Dein tiefes Gefühl ist zu innig mit deinem ganzen geistigen Leben[146] verflochten, als daß der kalte, nüchterne Verstand die unbedingte Herrschaft darüber gewinnen könnte. Du und Hessemer, ihr habt früher zu lange im Reich der Ideale geschwärmt, plötzlich seht ihr euch ohne haltbaren Boden und springt zum Gegentheil über. Wohl fordert das Leben gesunden und praktischen Weltverstand, aber es verliert die Blüte, wenn wir die Ideale ganz daraus verbannen.« – So ward mir nun von diesem Freunde genau vergolten, was ich an den Andern zu sündigen schien. Er glaubte nicht an den Ernst und an die Frucht meiner Veränderung, wie ich bei Hessemer, selbst als er die Veränderung in sich vollbracht behauptete, daran gezweifelt hatte. Er wird kein Baumeister, war meine trübe Besorgniß dem Freunde Hessemer gegenüber; du wirst kein Historiker, sagte nun mir Freund Sell ins Gesicht. Kein Dünkel, kein falsches Selbstgefühl verführte mich, einen rechthaberischen Zwist darüber weiter zu spinnen. Ich zog mich schweigend in mich selbst zurück, wohl fühlend, daß diese Zweifel mit Thaten mußten beantwortet werden. Unser Briefwechsel lenkte dann auf andere Gegenstände über. Ein Rollentausch trat auch hier zwischen uns Beiden ein: in nicht wenigen Controversen rückte der prosaische Freund auf die Seite der Enthusiasten, der frühere Enthusiast auf die Seite der Prosaiker. Die gegenseitige Achtung erhielt einen männlicheren Ausdruck, keine Verminderung. Die Personen wurden später durch Lebensschicksale auseinandergerückt, aber nicht die Herzen. Unsere alte Freundschaft würde in jeder Zeit eine jede Probe bestanden haben.

Die Summe, die mir die große Umwälzung jenes Jahres auswarf, war eine Dotation für das ganze Leben. Es ist der Sinn für Wahrheit, der damals rein und voll aus einer Knospe aufbrach, die zuvor sehr bedenklich versehrt erschien. Die empfangende Seite dieses Wahrheitssinnes, jene Unbefangenheit in der Aufnahme aller Dinge in ihrer ächten Gestalt, war mir mit glücklichen äußeren Sinnen angeboren, eine Eigenschaft ohne Verdienst;[147] aber sie war durch die Masse der ungesunden und schiefen Gegenstände in Literatur und Leben, auf die mein Auge in jener romantischen Periode so sehr ausschließlich gerichtet war, nothwendig getrübt und gefährdet worden. Die ausgebende Seite jenes Wahrheitssinnes aber war unter dem Wildfangleben mit meinen Schulgenossen durch die Künste der Verheimlichung und Verleugnung in sehr üble Gewohnheiten gerathen; und der weichliche Poetenschwindel, der darauf folgte, taugte wenig, die stoische Kraft in mir zu erzeugen, diese Gewohnheiten mit Gewalt zu unterdrücken. Jetzt hatte ich den Anlauf zu solch einer Kraftentwicklung genommen, und sie stellte mein natürliches Wesen durch den Einen Schlag meiner Verwandlung dergestalt her, daß mir die reine Empfängniß und die reine Wiedergabe aller höheren Wahrheit in Kritik und Buch, in historischer Forschung und Darstellung, im Leben und Handeln, im ersten Eifer zu einer Art Sucht, nachher zur stillen Lebens- oder Berufsgewohnheit ward. Ich brauche den Ausdruck: aller höheren Wahrheit. Denn mit jeder größeren Summe dieses kostbaren Schatzes glaube ich, in jedem ernsten Anlaß und Verhältnisse, in Einnahme und Ausgabe nach Kräften gewissenhaft und treu gewirthschaftet zu haben; mit der kleinen Scheidemünze nahm ich es nicht immer so genau. In den Bagatellen des geselligen Verkehrs und der flachen Unterhaltung leicht wegzugehen über falsche Auffassungen, gleichgültige Dinge zu bejahen, die zu verneinen waren, ein diplomatisches Stillschweigen zu beobachten, vor lästigen Besuchen mich mit Verleugnungen zu schützen, und dergleichen Noth- und Faulheitsingen habe ich mir ohne Scrupel nachgesehen, die mit dem leidigen Weltleben kaum vermeidlich verbunden sind, die das vierte Evangelium (Joh. 7, 8–10) selbst dem hohen Stifter unserer Religion beizulegen kein Bedenken trug. Wer in dem großen Zwecke und Berufe seines Lebens sich bewußt ist, den graden Weg der Wahrheit unausweichlich zu schreiten, der wird diese fahrlässigen Aussetzungen des Grundsatzes zu bekennen so wenig Bedenken haben,[148] wie der wahrhaft Tapfere in gegebenen Fällen der Erschlaffung der Anwandlungen natürlicher Furcht geständig sein wird. Ich selbst darf mich der Einhaltung dieser graden Richtung kaum rühmen, weil sie so sehr Naturtrieb in mir war, daß sie in meinen schriftstellerischen wie in meinen Lebensverhältnissen bis zur unvorsichtigsten und unklugsten Rücksichtslosigkeit ging, daß ich seit jener innern Katastrophe in mir selber überall damit angestoßen bin und in meinem Lebenslaufe mir manchen Wandel und manchen Schaden damit gestiftet habe. Der erste Stoß des neuen Prinzips war gegen mich selber gegangen; der zweite ging gegen meine Freunde; diese Vorgänge fuhren fort, was schon in meiner Knabenzeit beginnen sollte, das Leben meiner reiferen Jahre vorzubilden, jetzt schon bestimmter, deutlicher, schon den Weg anbahnend zu meinem spätern Wirken. Den Kampf gegen die Poetenmanie, gegen den romantischen Lebensekel, gegen das epikureische Untersinken in geistigem Luxus, den ich gegen mich und meinen Freund gefochten, hatte ich später gegen das junge Deutschland, gegen die Literatur der Verzweiflung, gegen die belletristischen Epigonen, die Deutschland in dem ausgelebten Zustande einer erschöpften Literatur für die Ewigkeit festbannen wollten, grade nur fortzukämpfen. Ich führte diesen Kampf wider die Zeit und das Vaterland, das mir theurer als die theuersten Freunde war, ebenso unermüdlich und unerbittlich wie gegen mich und meine Jugendgefährten. Ich konnte mir mit geringen duldsamen Zugeständnissen die schreibende Jugend Jungdeutschlands (ich könnte es, wenn es Noth wäre, gedruckt zeigen) zu einer posaunenden Coterie gewinnen; aber ich zog es vor, hier, wo in den größten Angelegenheiten die schonungsloseste Wahrheit Pflicht und Wohlthat war, als ein Feind befehdet, als ein Schwarzseher verlacht, als ein mürrischer Lästerer verkannt und verbannt, als ein Verstoßender verstoßen zu werden. Der Ernst der ächten Wissenschaft war es zuerst, was mich, in dem dritten Jahrzehnt, einer Glanzperiode deutscher Wissenschaft wie wenige andere Zeiträume,[149] gegen diese dilettantische Schreiberzunft gewaffnet hatte; der Ernst der politischen Grundsätze war es, der mich in dem vierten Jahrzehnt, einer Epoche des politischen Aufschwungs, wie er seit einem Menschenalter nicht da war, gegen dieselbe Zunft noch stärker rüstete, als sie auch politisch zu dilettiren begann. Wo und wie ich das Rüstzeug wissenschaftlicher Grundsätze fand, ist angedeutet worden; wo und wie ich das Waffenwerk der politischen Grundsätze aufgriff, das bleibt demnächst zu erzählen. Vorher aber wird es nöthig sein, den Leser noch mit jenem wissenschaftlichen Waffenmeister genauer bekannt zu machen, dem ich das große Erlebniß meiner Revolution allein zu danken hatte.

Quelle:
G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893, S. 104-150.
Lizenz:
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