Peter Cornelius

[73] Einen Tag nach diesem Konzerte fand ich bei meiner Heimkunft die Visitenkarten von Peter Cornelius, Karl Tausig und dem Grafen Laurencin, dem Musikreferenten der »Neuen Zeitschrift für Musik« (damals noch Brendel) auf meinem Tische liegen. (Cornelius hatte sich – wie bekannt – nach seinem Mißgeschick, dem Durchfall seines »Barbier von Bagdad« in Weimar, nach Wien geflüchtet.)

Am folgenden Tag suchte ich ihn auf. Er bewohnte ein bescheidenes Zimmer mit einem ebenso bescheidenen alten Klavier in der Vorstadt »Unter den Weißgärbern«. Er empfing mich mit den Worten: »Ihr Quartett, das ich gestern gehört habe, hat mir den Wunsch nahegelegt, Sie kennen zu lernen.« Und wer konnte Peter Cornelius nahekommen, ohne ihn sogleich zu lieben![73] Sein kindlich-naives und doch so tiefes Gemüt, sein treues, warmherziges Wesen, sein hochgebildeter, geklärter Geist mußten jeden sofort gefangennehmen. Er erkannte in mir einen Jünger der neuen Zeit, wir waren hierin gleicher Gesinnung und schlossen uns enger zusammen – er trug mir später das »Du« an.

Cornelius schrieb damals schon an seinem »Cid«. Ich kam oft zu ihm, wir tranken schwarzen Kaffee und bei der Zigarre plauderten wir gemütlich über Musik und musikalische Entwicklung und natürlich über Richard Wagner; stand er doch schon im Mittelpunkt alles musikalischen Interesses.

Eines Tages erhielt ich folgende Karte: »C. Tausig ladet Herrn Goldmark zu einer ›Tristan‹-Aufführung en miniature für Sonnabend 3 Uhr nachmittags.« Ein wichtiges musikalisches Ereignis! R. Wagner hatte Cornelius die Aushängebogen des Klavierauszuges geschickt. Wir sollen ihn mit Tausig gemeinsam durchnehmen. Der Eindruck dieser »Tristan«-Aufführung wird mir unvergeßlich bleiben. Karl Tausig, der später so Abgeklärte, Herrliche, war damals in seiner Jugend noch ein wilder Tastenstürmer, der noch fast alles mit stets offenem Pedale spielte. Cornelius sang, aber wie! – nicht den Ton richtig, den er singen sollte, sondern deklamierte nur so obenhin, nebenbei und zog die Phrase von einem falschen Ton zum andern, herauf – hinunter. Nun denke man den »Tristan« im Jahre 1861! In der langen Zeit (1911) haben unsere Ohren vieles an Dissonanzen ertragen gelernt und »Tristan« erscheint unseren Modernen wohl schon als überwunden. Aber damals war Mendelssohn noch der Moderne, Herrschende. Nun, Tausig an dem alten, verstimmten Klavier des Cornelius, mit offenem Pedale vom Blatt spielend, ebenso das immerwährende Miauen von Cornelius – Gesang konnte man's nicht nennen – und »Tristan« mit seiner reichen, gänzlich neuen und kühnen Harmonik! – es war zum Steinerweichen.[74] Nach dem ersten Akt stand ich auf und sagte: »Hört einmal, alle heiligen Weisen in Ehren, aber das halte ich einfach nicht aus, mein Kopf ist voll zum Platzen.« Die anderen mochten stillschweigend gleicher Gesinnung sein – das Klavier wurde geschlossen. Später erzählte mir Cornelius, er habe Wagner auch sein Bedenken geäußert, ob er (Wagner) in diesem Werke nicht doch zu weit gegangen sei; worauf ihm Wagner antwortete: »Du bist ein Esel!« –


*


Bald nach meinem Konzerte hatte Cornelius mich gebeten, ihm das obenerwähnte Quartett zur Durchsicht zu leihen. Nach Wochen blätterte ich, als er auf einen Augenblick das Zimmer verließ, in seinem dicken Manuskriptbuch, das auf dem Klaviere lag; und was erblickte ich? – den ersten Satz eben dieses Quartetts von seiner Hand eingeschrieben. Ich war gerührt und erfreut von dieser seltenen künstlerischen Zustimmung und stillen Anerkennung.

Als ich das Stück von ihm zurückverlangte, sagte er mir, er habe es Grafen Laurencin gegeben, der darüber schreiben wolle. Tatsächlich schrieb dieser in der »Neuen Zeitschrift für Musik« (Brendel) einen wahren Hymnus. Als ich es auch von diesem zurückverlangte, fand sich das Stück nicht, trotz allen Suchens, trotz meiner wiederholten Bitten, das Stück fand sich nicht.

Da ging ich einmal selber zu ihm und bat, doch einmal gründlich nachzusehen, ich hatte keine Abschrift, er hatte es niemandem weitergeliehen, es müsse sich finden. Während nun Laurencin in seinen Noten kramte, einen Kasten ausleerte, nahm ich aus Langeweile ein Notenheft vom Klavierstuhl – es war mein[75] Quartett; er benützte es als Unterlage, saß die ganze Zeit darauf, ohne es zu wissen. Cornelius verließ bald darauf Wien – ich sah ihn nie wieder.


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Der Weg zwischen Stephansplatz und Graben war damals noch eine enge Passage. Im vorspringenden Hause, das die Straße so verengte, befand sich ein Café im ersten Stock (Elefant, jetzt Haas). Hier hatte sich ein interessantes Konventikel junger Männer, Gelehrter, Musiker, Doktoren der Medizin und der Rechte, gebildet. Ich brauche nur die Namen anführen: der später so berühmt gewordene Professor Mach und Popper (Lynkeus). Von Musikern gehörten dazu: Cornelius, Heinrich Porges, zeitweilig Felix Draeseke, Weißheimer, Graf Laurencin, Kulke (Musikkritiker des »Vaterland«). Man kam nach Tisch (nach zwei Uhr) und blieb meistens bis zwei Uhr nachts, selbstverständlich so zu verstehen, daß einige früher kamen, andere später, ebenso verschieden weggingen und wiederkamen – eine richtige zivilisierte Boheme. Das Bleibende im Wechsel aber war die Debatte. Es wurde ununterbrochen und mit Geist und Schärfe über philosophische, musikalische, naturwissenschaftliche Themata und schließlich über alles und jedes debattiert.

Einer der hervorragendsten war auch damals schon Professor Ernst Mach, zur Zeit noch Dozent. Sein tiefgründiges Missen, sein scharfes, logisches Denken, die ruhige, nie heftige Art imponierte allen. Er war wohl der ersten einer, der mit den eben erschienenen »Tonempfindungen« von Helmholtz sich intensiv wissenschaftlich beschäftigte und uns darüber interessante, lehrreiche Aufschlüsse gab. Ein hochbegabter, philosophisch durchgebildeter junger Mann namens Neurat, der, ohne die Universität besucht zu haben, doch zum Doktorat in Wien zugelassen wurde (er[76] erhielt später eine Professur, wie ich glaube an der k. k. Forstakademie) führte mich in die so schwierige Terminologie der kantischen Antinomien ein. Es war eine ungemein anregende Zeit. Speziell der musikalische Kreis hatte seine Physiognomie – es waren die einzigen Musiker, die mit Wagner gingen. Ich schrieb da mals die Musikkritik für die »Österreichisch-konstitutionelle Zeitung« und war, in Wien wenigstens, der einzige, der für Wagner öffentlich eintrat. (Der genannte Kulke war damals noch nicht beim »Vaterland«.) Das war zur Zeit noch eine Heldentat, denn man rückte im Konzertsaal von einem weg, von dem man wußte, er sei ein Wagnerianer. Auch stand mein Name – was heute nur wenige wissen – auf dem ersten Aufruf zur Gründung eines Wagner-Vereines. Dafür wurde ich später von der offiziellen Wagner-Partei in Acht und Bann getan.


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Bei einer dieser Zusammenkünfte fragte mich Professor Mach: »Kennen Sie ›Sakuntala‹ von Kalidasa?« Da ich verneinte, brachte er mir eine »Sakuntala«-Übersetzung (aus dem Französischen), eine schwerfällige, schwulstige Gelehrtenausgabe von Meier mit tausend verwirrenden gelehrten Fußnoten. Trotzdem ergriff mich das herrliche Werk und es keimte in mir die Idee einer musikalischen Nachdichtung. Aber erst nach drei Jahren (1865) sollte sie entstehen. Einige Jahre nach Veröffentlichung meiner Ouvertüre »Sakuntala« kam eine vortreffliche Übersetzung von Lobedanz, die er mir durch L. A. Frankl in Wien übergeben ließ.

Zum Schlusse will ich noch eines mir unvergeßlichen Erlebnisses aus dieser Zeit gedenken.

Der Schriftsteller Kulke, der mit Friedrich Hebbel in näherer Beziehung stand, brachte eines Tages die Korrekturbogen der[77] Hebbel-»Nibelungen« mit, die ihm Hebbel wahrscheinlich zur Korrektur anvertraute. Wir lasen das Stück in einem Rande durch. Welche Wirkung! Heute, nach fünfzig Jahren, nachdem der Stoff durch Richard Wagners »Nibelungen« durch dreißig Jahre uns so vertraut, ja fast abgenützt ist, kann man sich nur schwer einen Begriff machen, wie ergriffen, bis ins Innerste erschüttert wir von der, trotz mancher Einwendung, machtvollen Dichtung waren. Es gibt Gipfelpunkte künstlerischen Erlebens, die sich weit über das durchschnittliche, alltägliche Kunstgenießen erheben; unvergeßliche Eindrücke, Hochspannung der Seele. Zu diesen gehört für mich auch diese erste Lektüre der Hebbelschen »Nibelungen«.


*


Von Budapest zurückgekehrt, war meine Lage noch immer eine sehr ungünstige. Meine früheren Schüler waren in anderen Händen und andere fanden sich nicht sogleich. (Später hatte sich das sehr zu meinem Vorteil geändert; ich wurde ein sehr gesuchter und gut honorierter Lehrer.) War ich früher zehn Jahre Orchestergeiger, so hatte ich jetzt bis zum Erscheinen meiner »Königin von Saba« fünfzehn Jahre Klavier unterrichtet. Klavierlehrer! Ein sehr unterschätzter, um nicht zu sagen geschmähter Beruf. In gewissem Betracht mit Recht. Fünf bis sechs Stunden und mehr täglich so einen talentlosen, faulen und störrischen Bengel ohne Gehör, ohne Rhythmus, ohne Gefühl unterrichten zu müssen – dagegen ist fünf Meter Holz zerkleinern eine ideale, wenigstens gesunde, nervenstärkende Tätigkeit. Aber die Sache hat vom Standpunkte der Beobachtung doch ihre interessante Kehrseite und wieviel Genuß kann sie bereiten! Ich gestehe, ich habe talentvolle Kinder mit Freude unterrichtet. Wie eigenartig, mannigfach offenbart sich so ein junges Gemüt! Wie erfreulich[78] das entgegenkommende, schnelle Erfassen komplizierter Gliederung; wie wohltuend die Wahrnehmung der tief ins Gemüt sich senkenden Keime warmer Empfindung eines Mozarischen oder eines Beethovenschen Adagios, der aufblühende künstletische Enthusiasmus einer jungen Menschenseele. All das ist lohnend und herzerquickend.

Oder gar, wenn so ein zehnjähriges Mädchen, das ich heftig gescholten habe, es könne sich nichts merken, habe gar kein Gedächtnis, mich erschrocken mit seinen großen Kinderaugen ansah, mir die Hand streichelnd, mit den Worten mich besänftigend: »Sie werden sehen, Herr Goldmark, morgen werde ich schon Gedächtnis haben.« Kann man da anders, als so ein liebes Kerlchen gerührt in die Arme schließen?

Das wäre ja alles recht schön, aber zum fleißigen Komponieren bleibt da wenig Zeit und Luft. Und das dauerte noch fünfzehn Jahre und, wie gesagt, anfangs ging's noch recht spärlich.

Da erhielt ich 1862 mein erstes Staatsstipendium mit sechshundert Gulden, das mir ermöglichte, einen Sommeraufenthalt zu nehmen; nach fast zwanzig Jahren, seitdem ich das Elternhaus verlassen, wieder einen Sommer reine Luft zu atmen, die heiße Stadt mit ihrem Qualm, ihrer Unruhe mit ländlicher Stille und Arbeitsfrische zu vertauschen.

Und so zog ich Sommer 1862 nach Unter-St. Veit, einem kleinen Vororte Wiens. Die Wahl war keine sehr glückliche. Ein kleines Hofzimmer in unmittelbarer Nähe eines Schlossers – man miete nie an Sonntagen – der meine so selig geträumte Hoffnung auf Ruhe und Kontemplation gar arg enttäuschte. In diesem Sommer machte ich mit einem Bekannten eine Fußtour nach dem berühmten Wallfahrtsort Mariazell in Steiermark. Bis Payerbach mit der Bahn, von da gings zu Fuß durchs[79] Höllengebirge, Tote Weib, über Prein und Studentenalpe – im ganzen etwa fünf bis sechs Stunden – nach Mariazell. Nach kurzer Rast gingen wir hinab, das nahe Gußwerk am Erlafsee zu sehen. Die Nixen des auch von Franz Schubert besungenen herrlichen Erlassees lockten mich und gleich dem Fischerknaben bei Goethe – halb zog sie ihn, halb sank er hin – rasch entschlossen warf ich die Kleider ab und hinein in die kühle Flut. Welche Wonne nach dem langen, heißen Marsch! Ich schwamm und dachte nicht aus Umkehren – eine halbe oder dreiviertel Stunden. Aber – o weh! – das jenseitige Ufer war mit Schilf und Schlingpflanzen bedeckt und ich mußte ohne zu rasten den Weg zurückmachen, während mein Begleiter händeringend am Ufer stand. Ich hatte nach der stark erhitzenden Bergwanderung eineinhalb Stunden im kühlen Wasser gelegen. Die Folge war eine sehr heftige Grippe. Von dieser Fußtour heimgekehrt, schrieb ich doch in dieser hämmernden Umgebung das Adagio meiner ersten Violin-Klavier-Suite; doch davon später.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 73-80.
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