Etwas über Kleidung.

[58] Die hervorragendsten innerlichen Qualitäten eines Menschen kommen nicht zur vollen Geltung, wenn sie durch unvorteilhafte Kleidung in ihren Auswirkungen gehemmt werden. Kleidung ist ein gesellschaftliches Machtmittel. Den Eindruck, den unsere gute Kleidung auf andere Menschen macht, schätzen die meisten ziemlich richtig ein. Doch nicht alle sind sich über die Magie klar, die ein tadelloses Kleid auf unsere eigene Person ausübt. Denn es wirkt nicht nur unser Inneres auf unser Aeußeres, sondern auch umgekehrt wird unsere Stimmung von unserem Aussehen beeinflußt. Das Gefühl tadellos gekleidet zu sein, befreit uns von vielen Hemmungen, die – ohne daß wir es wissen – unserer inneren und äußeren Elastizität schaden.

Die Kleidung unterscheidet auch heutzutage noch die gesellschaftlichen Klassen, obwohl ihre Nünancierungen sehr fein, oft kaum merkbar geworden sind. Wer zur guten Gesellschaft gerechnet werden will, darf ihre Gesetze, die sie über Kleidung und Mode aufstellt, nicht außer acht lassen, d.h. er muß für die verschiedenen Gelegenheiten und Oertlichkeiten die entsprechende Kleidung wählen und er darf die Wandlungen der Mode nicht ignorieren. Um dabei keine Geschmacklosigkeiten zu begehen, ist es nötig sich selbst, seine körperlichen Vorzüge und Mängel genau zu kennen, um die einen hervorzuheben, die anderen auszugleichen. Der elegante[59] Gesellschaftsmensch vermeidet in seinem Anzug alle Extravaganzen. Am vornehmsten – und das gilt namentlich für die Herrenkleidung – wirkt der Anzug, der durch nichts auffällt. Der Gesamteindruck jeder Kleidung sei einheitlich und harmonisch. Buntheit wirkt immer unruhig und unfein.

Für Herren sind unerläßlich: Bügelfalte, feste Manschetten (keine Jägerwäsche), Selbstbinder und Gleichfarbigkeit von Socken und Schlips. Für kleinere Gesellschaften genügt die graugestreifte Hose mit schwarzem Sakko. Größere Gesellschaften und feine Lokale erfordern Smoking mit schwarzer Binde. In ganz großer Gesellschaft trägt man Frack mit weißer Binde, Zylinder und Lackschuhe, bei kirchlichen Feierlichkeiten schwarzen Gehrock und weiße Binde. Herren tragen keinen Goldschmuck, auch keine bunten Seidentücher – aber stets tadelloses Schuhwerk.

Damen vermeiden es, sich auf der Straße oder in Gesellschaft ausgesprochen individuell anzuziehen und gestatten sich derartige Extravaganzen nur für intime Hauskleider. In der Oeffentlichkeit hat die Dame nur den Ehrgeiz elegant zu sein und überläßt geschmacklose Reformbestrebungen anderen Kreisen.

Das Billige ist nie elegant. Und alles was eine Ersparnis verschleiern soll, ist unelegant.

Man trage am Abend nie gelbe Schuhe, sondern nur vormittags oder an heißen Sommernachmittagen und auf Landpartien. Schmuck zu Trauerkleidung ist eine Stilwidrigkeit. Wenn man jemanden nicht sehr gut kennt, darf man ihn nicht auf eine Unordnung in der Toilette aufmerksam machen.[60]

Manche Kleider verpflichten, d.h. sie beanspruchen eine besondere Haltung, ein gemessenes Benehmen – sie wollen richtig getragen sein, wenn sie nicht lächerlich wirken sollen. Unruhiges übermütiges Wesen in wallender Trauerkleidung ist eine schreiende Disharmonie.

Die stete Richtschnur für die Auswahl und Zusammenstellung unserer Kleidung soll der gute Geschmack sein, der uns entweder angeboren ist oder den wir durch Beobachtungsübungen und Selbstkritik bilden können. Wer sich über seine Eigenart klar ist und sich nicht durch überspannte Ideen dem Wesen wahrer Natürlichkeit entfremdet, dem wird es nicht allzu schwer fallen, ausgesprochene Geschmacklosigkeiten zu vermeiden.

Man kann sich wohl an Vorbilder halten, d.h. an Menschen, die sich auf Grund ihres guten Geschmackes stets ausgezeichnet zu kleiden verstehen. Aber ganz falsch wäre es, sie einfach zu kopieren. Als Kopie wirkt man immer unwahr, verschwommen und charakterlos, wenn nicht gar lächerlich. Was wir von solch glücklich begabten Menschen lernen und absehen können, ist die feine Berechnung, mit der sie die Nüancen ihrer Kleidung auf ihre körperliche und seelische Wesensart abzustimmen verstehen, ist die wohltuende Harmonie, die zwischen ihrer Haltung und ihrem Anzug besteht.

Studieren wir also unser eigenes Wesen unter diesem Gesichtspunkt, wenn wir durch unsere Kleidung die Vorzüge unserer Person erhöhen wollen. Gleichgültigkeit in der Kleidung ist zwar ungesellschaftlich, aber wirkt noch nicht so unangenehm wie jene aufdringlichen[61] Absichtlichkeiten, die von der Geschmacklosigkeit ihres Trägers Zeugnis ablegen.

Ist man also nicht befähigt, durch positiven Geschmack zu glänzen, so bleibe man lieber harmlos und bescheiden in seiner Gewandung.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 58-62.
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