Im Gasthaus.

[68] Das moderne Leben hat eine stärkere Frequenz des Gasthauses mit sich gebracht. Aehnlich wie die Straße ist auch das Gasthaus ein Ort, an dem unser Benehmen der allgemeinen Kritik ausgesetzt ist und vielfache Rücksichtnahme auf die Nebenmenschen erfordert.

Man sei vorsichtig in der Wahl seiner Lokale. In der Regel pflegt jedes Gasthaus auf einen bestimmten Geschmack zugeschnitten zu sein und infolgedessen auch von einer gewissen Sorte von Gästen besucht zu werden, unter denen sich ein Angehöriger einer ganz anderen Gesellschaftsklasse auf die Dauer nicht wohl fühlen wird. Ein Herr sei besonders vorsichtig in der Auswahl des Lokales, wenn er in Damengesellschaft ist. –

Beim Betreten des Lokals geht die Dame ein paar Schritte voraus, dann läßt sie dem Herrn den Vortritt, damit er den Platz auswähle. Dies besorge er mehr mit dem Auge statt suchend zwischen den Tischen auf- und abzugehen.

Mit Kellnern, Geschäftsführern und Wirten wird außer den höflich gegebenen Befehlen nichts gesprochen.

Den Kellner ruft man nicht mit »Pst« oder »Herr Ober«, klopft auch nicht ans Glas, sondern macht eine Handbewegung. Alles, was gute »Kinderstube« über Haltung und Verhalten bei Tisch lehrt, hat im Gasthaus in Erscheinung zu treten. Es ist nicht der, Ort, wo man sich gehen läßt, wo man den Kopf in[69] die Hand stützt und seine Fingernägel in mehr oder weniger zweckdienlicher Weise bearbeitet, wo man sich laut schneuzt und das Gähnen nicht unterdrückt, wo man die Leute neugierig begafft und sie merkbar kritisiert, wo man Bart und Haar in Ordnung bringt und Taschentuch und Zahnstocher auf den Tisch legt, wo man beim Essen schmatzt und Töne des Wohlbehagens von sich gibt, mit vollem Munde trinkt und spricht und was dergleichen vielsagende Kleinigkeiten mehr sind. In gewissen Lokalen hört man eben die Leute essen und sieht sie reden ...

Zu lautes Reden und Lachen nimmt sich – wie an allen öffentlichen Orten – unfein aus und bedeutet zudem eine Rücksichtslosigkeit gegen unsere Nebenmenschen, die wir damit zwingen, von unseren Gedanken Notiz zu nehmen.

Um Zeitungen und Speisekarte ersucht man und vergißt nicht, daß sie für andere Gäste auch noch da sind.

Es ist selbstverständlich, daß Tisch und Boden nicht durch Abfälle verunziert werden dürfen, wie das in Bauernwirtshäusern vorzukommen pflegt.

Verweilt man nach dem Speisen noch einige Zeit, so läßt man die Serviette auf dem Schoß und legt sie erst beim Aufstehen an die Tischkante. Niemals spielt man mit ihr oder legt sie wieder sorgfältig zusammen.

Trinkgeld darf niemals dürftig sein, namentlich nicht, wenn man in Damengesellschaft ist.

Beim Verlassen des Lokals geht die Dame voraus, bleibt an der Tür stehen, und läßt sich diese öffnen. Der Herr erwidert den Gruß des Kellners,[70] Die Dame kann dies unterlassen, außer sie war allein und auf eigene Kosten im Gasthaus.

Welche Lokale kann eine feine Dame allein besuchen? Auf Reisen den Speisesaal des Hotels, in dem sie wohnt, Konditoreien und Ausflugsgaststätten.

In ihrem Wohnort wird sie im Bedarfsfall ein gutes Speiselokal mit nicht zu lautem Betrieb wählen und ein feines Tageskaffeehaus. Damen, die stets allein die Kaffeehäuser der Großstadt besuchen, setzen sich leicht üblem Verdacht aus und wirken zum mindesten unfein.

Es gehört viel innere und äußere Sicherheit und viel Distance schaffende vornehme Haltung dazu, wenn eine Dame allein in solchen Lokalen gute Figur machen soll.

Wenn man im Hotel für jemanden etwas abgibt, vergesse man nicht Trinkgeld zu geben.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 68-71.
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