§. [226] 201.

Offenbar entschliesst sich die menschliche Lebenskraft, wenn sie mit einer chronischen Krankheit beladen ist, die sie nicht durch eigne Kräfte überwältigen kann, zur Bildung eines Local-Uebels an irgend einem äussern Theile, bloss aus der Absicht, um, durch Krankmachung und Krankerhaltung dieses zum Leben des Menschen nicht unentbehrlichen äussern Theils, das ausserdem die Lebensorgane zu[226] vernichten (und das Leben zu rauben) drohende, innere Uebel zu beschwichtigen und, so zu sagen, auf das stellvertretende Local-Uebel überzutragen und dahin gleichsam abzuleiten. Die Anwesenheit des Local-Uebels bringt auf diese Art die innere Krankheit vor der Hand zum Schweigen, obschon, ohne sie weder heilen, noch wesentlich vermindern zu können112. Indessen bleibt das Local-Uebel immer weiter nichts, als ein Theil der Gesammtkrankheit, aber ein von der organischen Lebenskraft einseitig vergrösserter Theil derselben, an eine gefahrlosere (äussere) Stelle des Körpers hin verlegt, um das innere Leiden zu beschwichtigen. Es wird aber (wie gesagt) durch dieses die innere Krankheit zum Schweigen bringende Local-Symptom von der Lebenskraft für die Minderung oder Heilung des Gesammt-Uebels so wenig gewonnen, dass im Gegentheile dabei das innere Leiden dennoch allmälig zunimmt und die Natur genöthigt ist, das Local-Symptom immer mehr zu vergrössern und zu verschlimmern, damit es zur Stellvertretung für das innere vergrösserte Uebel und zu seiner Beschwichtigung noch zureiche. Die alten[227] Schenkelgeschwüre verschlimmern sich, bei ungeheilter, innerer Psora, der Schanker vergrössert sich bei noch ungeheilter, innerer Syphilis, so wie die innere Gesammtkrankheit mit der Zeit von selbst wächst.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. 226-228.
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