§. [105] 39.

Diess sah nun die gewöhnliche Arzneischule so viele Jahrhunderte mit an; sah, dass die Natur selbst nicht einmal irgend eine Krankheit durch[105] Hinzutritt einer andern, auch noch so starken, heilen kann, wenn die hinzutretende der schon im Körper wohnenden unähnlich ist. Was soll man von ihr denken, dass sie dennoch fortfuhr, die chronischen Krankheiten mit allöopathischen Curen zu behandeln, nämlich mit Arzneien und Recepten, die, Gott weiss, welchen? doch fast stets einen dem zu heilenden Uebel nur unähnlichen Krankheitszustand selbst zu erzeugen vermögend waren? Und wenn die Aerzte bisher die Natur auch nicht genau beobachteten, so hätten sie doch aus den elenden Folgen ihres Verfahrens inne werden sollen, dass sie auf zweckwidrigem, falschem Wege waren. Sahen sie denn nicht, wenn sie, wie allgewöhnlich, gegen eine langwierige Krankheit eine (wie allgewöhnlich) angreifende, allöopathische Cur brauchten, dass sie damit nur eine der ursprünglichen unähnliche Kunstkrankheit erschufen, welche nur so lange sie unterhalten ward, das ursprüngliche Uebel zum Schweigen brachte, bloss unterdrückte und bloss suspendirte, was jedoch allemal wieder zum Vorschein kam und kommen musste, sobald die Kraft- Abnahme des Kranken nicht mehr gestattete, die allöopathischen Angriffe auf das Leben fortzusetzen? So verschwindet freilich durch oft wiederholte, heftige Purganzen der Krätz-Ausschlag gar bald von der Haut, aber wenn der Kranke die erzwungene (unähnliche) Darmkrankheit nicht mehr aushalten und die Purganzen nicht mehr einnehmen kann, dann blüht entweder der Haut-Ausschlag,[106] nach wie vor, wieder auf, oder die innere Psora entwickelt sich zu irgend einem bösen Symptome, da dann der Kranke, ausser seinem unverminderten, ursprünglichen Uebel, noch eine schmerzhafte, zerrüttete Verdauung und Kräfte-Verlust, zur Zugabe, zu erdulden hat. So, wenn die gewöhnlichen Aerzte künstliche Hautgeschwüre und Fontanelle äusserlich am Körper unterhalten, um dadurch eine chronische Krankheit zu tilgen, so können sie zwar nie damit ihre Absicht erreichen, können dieselbe nie damit heilen, da solche künstliche Hautgeschwüre dem innern Leiden ganz fremd und allöopathisch sind; aber indem der durch mehre Fontanelle erregte Reiz ein, wenigstens zuweilen, stärkeres (unähnliches) Uebel ist, als die inwohnende Krankheit, so wird diese dadurch zuweilen auf ein Paar Wochen zum Schweigen gebracht und suspendirt. Aber auch nur suspendirt auf sehr kurze Zeit, und zwar unter allmäliger Abmergelung des Kranken. Viele Jahre hindurch von Fontanellen unterdrückte Fall sucht kam stets und schlimmer wieder zum Vorscheine, sobald man sie zuheilen liess, wie Pechlin28 und Andere bezeugen. Purganzen können aber für die Krätze, und Fontanelle für eine Fallsucht nicht fremdartigere, nicht unähnlichere Umstimmungs-Potenzen, nicht allöopathischere, angreifendere Cur-Mittel seyn, als die allgewöhnlich, aus ungekannten Ingredienzen gemischten[107] Recepte für die übrigen namenlosen, unzählbaren Krankheits-Formen in der bisherigen Praxis. Auch diese schwächen bloss, und unterdrücken und suspendiren die Uebel nur auf kurze Zeit, ohne sie heilen zu können, und fügen dann immer durch langwierigen Gebrauch einen neuen Krankheitszustand zu dem alten Uebel hinzu.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. 105-108.
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