§. [80] 25.

Nun lehrt aber das einzige und untrügliche Orakel der Heilkunst, die reine Erfahrung14, in allen sorgfältigen Versuchen, daß wirklich diejenige Arznei, welche in ihrer Einwirkung auf gesunde menschliche Körper die meisten Symptome in Aehnlichkeit erzeugen zu können bewiesen hat, welche an dem zu heilenden Krankheitsfalle zu finden sind, in gehörig potenzirten und verkleinerten Gaben auch die Gesammtheit der Symptome dieses Krankheitszustandes, das ist (s. §. 6–16), die ganze gegenwärtige Krankheit schnell,[80] gründlich und dauerhaft aufhebe und in Gesundheit verwandle, und daß alle Arzneien die ihnen an ähnlichen Symptomen möglichst nahe kommenden Krankheiten, ohne Ausnahme heilen und keine derselben ungeheilt lassen.


14

Ich meine nicht eine solche Erfahrung, deren unsere gewöhnlichen Practiker alter Schule sich rühmen, nachdem sie Jahre lang mit einem Haufen vielfach zusammengesetzter Recepte gegen eine Menge Krankheiten gewirthschaftet haben, die sie genau untersuchten, sondern sie schulmäßig für schon in der Pathologie benannte hielten, und in ihnen einen (eingebildeten) Krankheitsstoff zu erblicken wähnten, oder eine andere hypothetische, innere Abnormität ihnen andichteten. Da sahen sie immer etwas, wußten aber nicht, was sie sahen; Erfolge, die nur ein Gott und kein Mensch aus den vielfachen, auf den unbekannten Gegenstand einwirkenden Kräften hätte enträthseln können, Erfolge, aus denen nichts zu lernen, nichts zu erfahren ist. Eine fünfzigjährige Erfahrung dieser Art ist einem fünfzig Jahre langen Schauen in ein Kaleidoscop gleich, was, mit bunten, unbekannten Dingen angefüllt, in steter Umdrehung sich bewegt; tausenderlei sich immerdar verwandelnde Gestalten und keine Rechenschaft dafür!

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 80-81.
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Organon der Heilkunst - Aude sapere. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, herausgegeben und mit einem Vorwort von Richard Haehl.
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