§. [254] 276.

Aus diesem Grunde schadet eine Arznei, wenn sie dem Krankheitsfalle auch homöopathisch angemessen war, in jeder allzu großen Gabe und in starken Dosen um so mehr, je homöopathischer und in je höherer Potenz169 sie gewählt war, und zwar weit mehr als jede eben so große Gabe einer unhomöopathischen, für den Krankheitszustand in keiner Beziehung passenden (allöopathischen) Arznei. Allzu große Gaben einer treffend homöopathisch gewählten Arznei und vorzüglich eine öftere Wiederholung derselben, richten in der Regel großes Unglück an. Sie setzen nicht selten den Kranken in Lebensgefahr, oder machen doch seine Krankheit fast unheilbar. Sie löschen freilich die natürliche Krankheit für das Gefühl des Lebensprincips aus, der Kranke leidet nicht mehr an der ursprünglichen Krankheit von dem Augenblicke an, wo die allzu starke Gabe der[254] homöopathischen Arznei auf ihn wirkt, aber er ist alsdann stärker krank von der ganz ähnlichen, nur weit heftigern Arznei-Krankheit, welche höchst schwierig wieder zu tilgen ist170.


169

Das in neuern Zeiten von einigen Homöopathikern, den größern Gaben ertheilte Lob beruht darauf, daß sie sich theils niedrigerer Potenzgrade der zu reichenden, nach bisheriger Art dynamisirten Arznei bedienten (wie etwa ich selbst vor vielen Jahren, in Ermangelung bessern Wissens gethan) theils darauf, daß ihre Arzneien nicht homöopathisch gewählt, und auch vom Verfertiger sehr unvollkommen bereitet waren.

170

So entstehen fast unheilbare Quecksilber-Siechthume durch anhaltend gebrauchte, angreifende, allöopathisch in großen Gaben gegen die Syphilis verordnete Quecksilber-Mittel, da doch, wenn der Schanker nicht durch äußere Mittel vertrieben worden wäre (wie es durch die Allöopathie immer geschieht), eine oder etliche Gaben eines milden, aber wirksamen Quecksilber-Mittels, die ganze venerische Krankheit sammt dem Schanker in wenigen Tagen gewiß gründlich geheilt haben würden. Eben so giebt auch der Allöopath die Chinarinde und das Chinin in Wechselfiebern, wo solche richtig homöopathisch angezeigt waren und wo Eine sehr kleine Gabe hochpotenzirter China unfehlbar helfen mußte (in Sumpf-Wechselfiebern, und selbst bei Personen, die an keiner offenbaren Psora-Krankheit litten) in sehr großen Gaben, Tag für Tag, und erzeugt dadurch (während zugleich die Psora entwickelt wird), ein chronisches China-Siechthum, welches den Kranken wo nicht allmälig tödtet, durch Verderbniß innerer, für's Leben wichtiger Organe, vorzüglich der Milz und der Leber, ihn doch wenigstens Jahre lang in einem traurigen Gesundheits-Zustande leiden macht. Ein homöopathisches Gegenmittel wider diese Art, durch Uebermaß des Gebrauchs großer Gaben homöopathischer Arzneien erzeugter Uebel, ist kaum denkbar.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 254-255.
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