§. [104] 54.

Die allöopathische Curart, welche mancherlei gegen die Krankheiten unternahm, doch stets nur das Ungehörige ἀλλοια, war die, seit Menschen Gedenken, unter sehr verschiedenen Formen, die man Systeme nannte, herrschende. Jedes dieser, von Zeit zu Zeit auf einander folgenden, gar sehr von einander abweichenden Systeme, beehrte sich mit dem Namen: rationelle Heilkunde62. Jeder Erbauer eines dieser[104] Systeme, hatte die hochmüthige Meinung von sich, er sei fähig, das innere Wesen des Lebens, wie des gesunden, so auch des kranken Menschen zu durchschauen und klar zu erkennen und ertheilte hienach die Verordnung, welche schädliche Materie63 aus dem kranken Menschen und wie sie hinweg zu nehmen sei um ihn gesund zu machen; – alles nach leeren Vermuthungen und beliebigen Voraussetzungen, ohne die Natur redlich zu befragen und die Erfahrung vorurtheillos anzuhören. Man gab die Krankheiten für Zustände aus, die immer auf ziemlich gleiche Art wieder erschienen. Die meisten Systeme ertheilten daher ihren erdichteten Krankheits-Bildern Namen, und klassificirten sie, jedes System, anders. Den Arzneien wurden nach Vermuthungen Wirkungen zugeschrieben (s. die vielen Arzneimittellehren!) welche diese innormalen Zustände aufheben, d.i. heilen sollten64.


62

Gleich als ob eine, bloß auf Beobachtung der Natur beruhende und einzig auf reine Versuche und Erfahrung zu gründende Wissenschaft, durch müßiges Grübeln und scholastisches Raisonniren gefunden werden könnte!

63

Denn bis auf die neuesten Zeiten suchte man das in Krankheiten zu Heilende in einer wegzuschaffenden Materie, da man sich nicht zum Begriffe von einer dynamischen (Anm. zu §. 11.) Wirkung der krankhaften Potenzen, so wie der Arzneien auf das Leben des thierischen Organisms zu erheben vermochte.

64

Um das Maaß der Selbst-Verblendung zu überfüllen, wurden (recht gelehrt) stets mehrere, ja viele, verschiedene Arzneien in so genannten Recepten zusammen gemischt, auch oft, und in großen Gaben eingegeben, und so das theuere, leicht zerstörbare Menschen-Leben, vielfach unter den Händen dieser Verkehrten gefährdet, vorzüglich, da man auch Aderlaß, Brech- und Purgirmittel zur Hülfe nahm, so wie Ziehpflaster, Fontanelle, Haarseile, Beitzen und Brennen.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 104-105.
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