§. [108] 58.

Wenn ich auch bei Beurtheilung dieser Arznei-Anwendung den Umstand übergehen wollte, daß hiebei sehr fehlerhaft, bloß symptomatisch verfahren (s. Anm. zu §. 7) d.i. nur einseitig für ein einzelnes Symptom, also nur für einen kleinen Theil des Ganzen gesorgt wird, wovon offenbar nicht Hülfe für das Total der Krankheit, die allein der Kranke wünschen kann, zu erwarten ist, – so muß man doch auf der andern Seite die Erfahrung fragen, ob in einem einzigen Falle solchen antipathischen Arzneigebrauchs, gegen eine langwierige oder anhaltende Beschwerde, nach erfolgter, kurz dauernder Erleichterung, nicht eine größere Verschlimmerung der so palliativ Anfangs[108] beschwichtigten Beschwerde, ja Verschlimmerung der ganzen Krankheit erfolgte? Und da wird jeder aufmerksame Beobachter übereinstimmen, daß auf eine solche antipathische, kurze Erleichterung jederzeit und ohne Ausnahme Verschlimmerung erfolgt, obgleich der gemeine Arzt diese nachgängige Verschlimmerung dem Kranken anders zu deuten und sie auf eine sich jetzt erst offenbarende Bösartigkeit der ursprünglichen, oder auf die Entstehung einer neuen Krankheit zu schieben pflegt66.


66

So wenig auch bisher die Aerzte zu beobachten pflegten, so konnte ihnen doch die, auf solche Palliative gewiß erfolgende Verschlimmerung nicht entgehen. Ein starkes Beispiel dieser Art findet man in J.H. Schulze, Diss. qua corporis humani momentanearum alterationum specimina quaedam expenduntur, Halae 1741. §. 28. Etwas Aehnliches bezeugt Willis, Pharm. rat. Sect. 7. Cap. 1. S. 298. Opiata dolores atrocissimos plerumque sedant atque indolentiam procurant, eamque aliquamdiu et pro stato quodam tempore continuant, quo spatio elapso dolores mox recrudescunt et brevi ad solitam ferociam augentur. Und so S. 295: Exactis opii viribus illico redeunt tormina, nec atrocitatem suam remittunt, nisi dum ab eodem pharmaco rursus incantatur. So sagt J. Hunter (über die vener. Krankh. S. 13.), daß Wein bei Schwachen die Wirkungskraft vermehre, ohne ihnen jedoch eine wahre Stärke mitzutheilen und daß die Kräfte hintennach in demselben Verhältnisse wieder sinken, als sie zuvor erregt worden waren, wodurch man keinen Vortheil erhalte, sondern die Kräfte größtentheils verloren gingen.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 108-109.
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