II. Der ärztliche Beobachter.
(Ein Bruchstück.)

[20] Die Beobachtung des Heilkünstlers setzt eine, bei gemeinen Aerzten auch nicht in mittelmässigem Grade anzutreffende Fähigkeit und Uebung voraus, die Erscheinungen bei den natürlichen Krankheiten sowohl, als bei den durch Arzneien in ihrer Prüfung am gesunden Körper künstlich erregten Krankheitszuständen genau und treffend wahrzunehmen und mit den passendsten, natürlichen Ausdrücken zu bezeichnen.

Um das an Kranken zu Beobachtende genau wahrzunehmen, muss man alle seine Gedanken darauf richten, sich gleichsam aus sich selbst setzen, und sich, so zu sagen, an den Gegenstand mit aller Fassungskraft anheften, damit uns nichts entgehe, was wirklich da ist, zur Sache gehört und durch jeden offnen Sinn empfangen werden kann.

Da muss die dichterische Einbildungskraft, der gaukelnde Witz und die Vermuthung einstweilen verstummen, und alles Vernünfteln, Deuteln und Erklärenwollen muss unterdrückt bleiben. Der Beobachter ist bloss da, um die Erscheinung und den Vorgang aufzufassen; seine Aufmerksamkeit allein muss wachen, dass ihm von der Gegenwart nicht nur[21] nichts entschlüpfe, sondern dass auch das Wahrgenommene so richtig verstanden werde, als es wirklich ist.

Diese Fähigkeit, genau zu beobachten, ist wohl nie ganz angeerbt; sie muss grösstentheils durch Uebung erlangt, durch Läuterung und Berichtigung der Sinne, das ist, durch strenge Kritik unsrer schnell gefassten Ansichten der Aussendinge vervollkommnet, und die dabei nöthige Kälte, Ruhe und Festigkeit im Urtheile muss unter steter Aufsicht eines Misstrauens in unsre Fassungskraft gehalten werden.

Die hohe Wichtigkeit dieses unsers Gegenstandes muss Leib und Seele auf die Beobachtung hinrichten und eine vielfach geübte Geduld, von Kraft des Willens gestützt, muss uns in dieser Richtung bis zur Vollendung der Beobachtung erhalten.

Uns zu dieser Fähigkeit zu erziehen, dient Vertrautheit mit den besten Schriften der Griechen und Römer, um die Geradheit im Denken und Empfinden, so wie die Angemessenheit und reine Einfachheit im Ausdrucke unsrer Empfindungen zu erlangen; es dient hierzu die nachahmende Zeichenkunst, welche unser Auge, und somit auch die übrigen Sinne, schärft und übt, die Gegenstände wahr aufzufassen, und das sinnlich Aufgefasste richtig und rein und ohne Zusatz der Phantasie darstellen lehrt, so wie die Mathematik uns die nöthige Strenge im Urtheile verschafft.

So ausgerüstet wird der ärztliche Beobachter seinen Zweck nicht verfehlen, besonders wenn ihm zugleich die erhabne Würde seiner Bestimmung - als Stellvertreter des ällgütigen Vaters und Erhalters, seinen lieben Menschen in schaffender Erneuung ihres durch Krankheit zerrütteten Daseyns zu dienen - unablässig vor Augen schwebt. Er weiss, dass Beobachtungen[22] arzneilicher Gegenstände in lauterer und heiliger Gemüthsstimmung, wie vor den Augen des allsehenden Gottes, des Richters unsrer Gedanken, verfasset und mit redlicher Zustimmung eines zarten Gewissens niedergeschrieben werden müssen, um sie der Welt mitzutheilen, in dem Bewusstseyn, dass keins unter allen irdischen Gütern eines angestrengtem Eifers würdiger ist, als das Leben und die Gesundheit unsrer Nebenmenschen.

Die beste Gelegenheit, unsern Beobachtungssinn zu üben und zu vervollkommnen, ist bei Versuchen mit Arzneien an uns selbst. Unter Vermeidung aller fremdartig arzneilichen Einflüsse und störender Gemüthseindrücke bei diesem wichtigen Geschäfte ist der Prüfer nach Einnahme der Arznei mit aller seiner Aufmerksamkeit auf alle an und in ihm vorgehenden Befindensveränderungen gespannt, um sie mit stets wachendem Gefühle und offenen Sinnen wahrzunehmen und treulich aufzuzeichnen.

Bei Fortsetzung dieser sorgfältigen Aufspürung aller in und an sich hervorgehenden Veränderungen erlangt der Beobachter die Fähigkeit, alle, auch noch so zusammengesetzte, Empfindungen, die er von der Versuchs-Arznei erfahren, und alle, auch die feinsten, Abänderungen seines Befindens wahrzunehmen, und den in ihm deutlich gewordenen Begriff davon in angemessenen, erschöpfenden Ausdrücken niederzuschreiben.

Hier allein ist es für den Anfänger möglich, rein, richtig und ungestört beobachten zu können, da er weiss, dass er sich selbst nicht täuschen wird, niemand ihm etwas Unwahres vorsagt, und er von sich selbst fühlet, siehet und merkt, was an und in ihm vorgehet. So genau wird er dann auch an Andern zu beobachten hierdurch geübt.[23]

Bei diesen lautern und genauen Untersuchungen wird uns einleuchtend, dass alle bisherige Symptomatologie der gemeinen Arzneikunst nur ein oberflächliches Wesen war, und dass die Natur den Menschen in seinem Befinden und allen seinen Gefühlen und Thätigkeiten durch Krankheit oder Arznei so unendlich mannichfach und abweichend umzustimmen pflegt, dass ein einzelnes Wort oder ein allgemeiner Ausdruck zur Bezeichnung der oft so sehr zusammengesetzten krankhaften Gefühle und Symptome durchaus unzureichend sind, wenn wir wirklich, wahr und vollkommen, was Verändertes im Befinden angetroffen worden, darstellen wollen.

Noch kein Gesichtszeichner (Porträtmahler) ist so nachlässig gewesen, dass er die bestimmte Eigenheit der Gesichtszüge der treffend durzustellenden Person unbeachtet gelassen oder es für hinlänglich gehalten hätte, bloss so im Allgemeinen ein Paar rundlichte Oeffnungen, wie Augen, unter der Stirne anzubringen, dazwischen etwas länglicht Herablaufendes, wie eine Nase, immer von gleicher Gestalt herunterzuführen, und unter dieser querüber einen Spalt anzubringen, der den Mund bei diesem, wie bei allen andern Gesichtern bedeuten solle; kein Zeichner, sage ich, ist so fabrikmässig und leichtsinnig mit Zeichnung der Gesichter der Menschen umgegangen, kein Naturbeobachter in Beschreibung irgend eines Naturerzeugnisses, kein Zoolog, kein Botaniker, kein Mineralog.

Nur die Semiologie der gemeinen Medicin ging fast auf diese Art zu Werke, wenn sie die Krankheitserscheinungen beschreibet. Da werden die so unendlich von einander abweichenden Empfindungen und die namenlos verschiednen Beschwerden der mancherlei Kranken so wenig durch Sprache und[24] Schrift nach ihren Abweichungen und Verschiedenheiten, nach ihren Eigenthümlichkeiten, nach der Zusammengesetztheit der Schmerzen aus mehren Arten von Gefühlen, ihren Abstufungen und Schattirungen, so wenig durch genaue, vollständige Beschreibung ausgedrückt, dass man alle diese unendlich mannichfachen Leiden nur in den wenigen kahlen, nichtssagenden, allgemeinen Worten hingeworfen sieht, wie: Schweiss, Hitze, Fieber, Kopfschmerz, Halsweh, Bräune, Engbrüstigkeit, Husten, Brustbeschwerde, Seitenstechen, Bauchweh, Mangel an Appetit, üble Verdauung, Verdauungsbeschwerden, Rückenschmerz, Hüftweh, Hämorrhoidal-Beschwerden, Harnbeschwerden, Gliederschmerz (nach Belieben bald gichtisch, bald rheumatisch genannt), Hautausschlag, Krämpfe, Convulsionen u.s.w. - mit so flachen Ausdrücken, sage ich, werden die unzählig verschiednen Leiden der Kranken in den sogenannten Beobachtungen abgefertigt, dass (- ein oder das andre grosse, ausfallende Symptom in diesem oder jenem Krankheitsfalle etwa abgerechnet -) fast jede angeblich beschriebne Krankheit der andern wie ein Daus ähnlich sieht, ähnlich wie die Bildlein des Mahler-Sudlers einander gleichen an Flachheit und Charakterlosigkeit.


So oberflächlich und nachlässig kann das wichtigste aller irdischen Geschäfte, die Beobachtung der Kranken und der unendlichen Verschiedenheiten ihres abgearteten Befindens nur von Menschenverächtern getrieben werden, denen es weder darum zu thun ist, die Krankheitszustände nach ihrer Eigenthümlichkeit zu[25] unterscheiden, noch für die Besonderheit des Falles das einzig angemessene Heilmittel wählen zu wollen.

Der gewissenhafte Arzt, der im Ernste die zu heilende Krankheit in ihrer Eigenheit aufzufassen strebt, um das treffende Heilmittel ihr entgegensetzen zu können, wird unendlich sorgfältiger in der Unterscheidung des Wahrzunehmenden zu Werke gehen; ihm wird kaum die Sprache zureichen, um die zahllosen Abweichungen der Symptome im kranken Menschenbefinden durch angemessene Worte auszudrücken; ihm wird keine, auch noch so sonderbare, Empfindung entgehen, welche die an ihm selbst versuchte Arznei in seinem Gefühle erzeugte, die er nicht durch den passenden Ausdruck in der Sprache wieder zu geben vermöchte, um beim Heilen auf das treffend gezeichnete Krankheitsbild die treffend ähnlich wirkende Arznei anpassen zu können, wodurch, wie er weiss, einzig geheilt wird.

So wahr ist es, dass nur der sorgfältige Beobachter ein ächter Heilkünstler wird.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Reine Arzneimittellehre. Bd. 4, Dresden, Leipzig 21825, S. 20-26.
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