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[14] Es versteht sich von selbst, – was man heute nicht mehr zu verstehen vorgibt – daß vor dem Jahre 48 in Prag der Privatunterricht wie der öffentliche ausschließlich in deutscher Sprache erteilt wurde. Adel und Bürgertum, der ganze gebildete Mittelstand in Prag, sprach ausschließlich deutsch und konnte nur genau so viel Böhmisch, um sich den Dienstleuten, den Arbeitern, dem Landvolk verständlich zu machen. Auch meine Mutter, deren Eltern aus Wien stammten, und wir Geschwister hatten uns bloß dieses Notwendigste für den Hausgebrauch angeeignet. Ich habe niemals Tschechisch lesen und schreiben gelernt, niemals das Vaterunser oder das Einmaleins anders als deutsch aufgesagt, nicht einmal einen böhmischen Theaterzettel (was mich vielleicht am meisten interessiert hätte) entziffern können. Das Prager Theater war deutsch; nur an Sonntagen wurde um vier Uhr nachmittags, drei Stunden vor Beginn der deutschen Vorstellung, böhmisch gespielt. In diese böhmischen Vorstellungen schickte man die Dienstboten; niemand aus unseren Kreisen ist jemals hingekommen.[14] An dem Vorrang, ja an der Alleinberechtigung des Deutschen im gebildeten Verkehr, in Kunst und Wissenschaft, in der Schule und Verwaltung zu zweifeln, ist zu meiner Zeit in Prag keinem Menschen eingefallen. Mein Vater beherrschte das Tschechische in Wort und Schrift vollkommen; er hat auch zu den von Tomaschek komponierten böhmischen Gedichten die deutsche Übersetzung verfaßt. Mit uns und seinen Freunden sprach er jedoch immer deutsch. Zu diesen Freunden gehörte der Humanitätsprofessor W.A. Swoboda, einer der virtuosesten tschechischen Sprach- und Übersetzungskünstler; auch wiederholter Besuche anderer tschechischer Notabilitäten jener Zeit entsinne ich mich aus meinen Knabenjahren: Palacky (der seine Geschichte Böhmens bekanntlich deutsch schrieb, damit sie überhaupt gelesen werde), Hanka, der berühmte »Entdecker« der Königinhofer Handschrift, der ausgezeichnete Physiologe Purkinje u.A. Ich hörte sie mit dem Vater immer nur deutsch sprechen. Natürlich, da sie sich von gelehrten Dingen, von Kunst und Politik unterhielten, wie hätte da das Tschechische ausgereicht? Erst um die Mitte der Vierziger Jahre, kurz vor meinem Abgang an die Wiener Universität, machten sich tschechische Regungen in der Öffentlichkeit bemerkbar; noch durchaus harmlos und in bescheiden zurückhaltender Form z.B., daß in einem Konzert ein böhmischer Chor oder ein böhmisches Lied von Joh. Nep. Skraup gesungen wurde. Dieser war der jüngere Bruder des Theaterkapellmeisters Franz Skraup, welcher als Kompositeur durch ein einziges Lied, »Kde domow muj« (Wo ist mein Heim) bekannt und berühmt geworden ist. Joh. Nep. Skraup hingegen (kürzlich in hohem Alter als Prager Domkapellmeister gestorben) komponierte furchtbar viel und mittelmäßig. Er war einer der Ersten, die, von dem deutschen Publikum abgelehnt und ignoriert, sich auf die neugeborene tschechische Partei, die kleine, aber lärmende Minorität, zu stützen begannen. Leopold v. Hasner, dessen Studienzeit auch in das vormärzliche Prag fiel, sagt von diesen Bestrebungen: »Man bauscht die Gattung auf, um, da man als Individuum nichts ist, als Teil derselben eitel sein zu können; das ist Nationalgefühl.« Wenn damals jemand prophezeit hätte, Prag werde in fünfzig Jahren ein eigenes, prachtvolles, tschechisches Theater haben, eine tschechische Universität, eine tschechische Akademie der Wissenschaften (!), er wäre für verrückt gehalten worden. Mit diesen glänzenden Errungenschaften der von der[15] Regierung gehätschelten Tschechen ist auch der Unfriede, die Gehässigkeit, von der man in meiner Jugend nichts gewußt, in Prag eingezogen. Damals verkehrten Deutsche und Tschechen friedlich miteinander; letztere wußten, daß, was sie in der Kunst und Wissenschaft, Industrie und auch geselligen Bildung besaßen, von deutscher Kultur herstammte. Heute kann es in Prag täglich geschehen, daß alte Bekannte, die so gut deutsch können wie wir, uns böhmisch an sprechen und sich anstellen, als müßten sie sich auf das deutsche Wort gewaltsam besinnen. Und so müssen denn die Deutschen in Prag es leider jetzt als das erste Gebot ruhiger Selbsterhaltung ansehen, sich von allem Tschechischen so streng als möglich abzuschließen. Unsere Empfindungen bei den ersten Zeichen dieses nationalen Zwiespalts charakterisiert ganz treffend der Schlußvers eines ungedruckten Jugendgedichtes von Robert Zimmermann:


»Tschech oder Deutscher, heißt es, nimm Partei!

Wohl könnten beide friedlich sich vertragen,

Wollt ihr es nicht, wohlan!

So will ich mich zu deutschen Brüdern schlagen.«

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 14-16.
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