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[16] Wie sind die Studenten von heute zu beneiden! Sie haben kaum eine Vorstellung von der dürftigen, oft bis zur Lächerlichkeit verkehrten Einrichtung und Praxis der vormärzlichen Gymnasien in Österreich. Wer sich nicht aus eigenem Wissensdrang, durch Selbststudium oder angeleitet von einem wissenschaftlich ausgerüsteten Vater, eine solidere Bildung errang, – von den öffentlichen Lehranstalten durfte er sie kaum erwarten. Die Professoren waren »Klassenlehrer«, nicht »Fachlehrer«, d.h. der Professor der Mathematik mußte auch Griechisch und Lateinisch, Geographie und Geschichte lehren. Für eines oder mehrere dieser Fächer hat so ein Lehrer gewiß selbst kein Interesse, oft nicht einmal die höhere Vorbildung. Einer meiner Professoren in den oberen Gymnasialklassen war ein vortrefflicher Lateiner, aber ein so schlechter Mathematiker, daß er keine halbwegs schwierige Gleichung auf der Tafel bis zu Ende führen konnte. Ein anderer, gut beschlagen in Geschichte und Geographie, schwankte so bedenklich im Griechischen, daß er sich über drei bis vier wohl eingeübte[16] und alljährlich wiederholte Lesestücke nicht hinausgewagt hätte. Am besten gedieh noch das Lateinisch, das freilich durch volle sechs Jahre als Hauptgegenstand gelehrt wurde. Im Griechischen hingegen hätten unsere Professoren sich vor manchen Obergymnasiasten von heute verstecken müssen. Natürlich wurden wir fast ausschließlich mit der Grammatik gequält; der »Spiritus lenis«, den man gewissenhaft anbringen mußte, so überflüssig er ist, und vollends der »zweite Aorist« waren meine persönlichen Feinde. Von uns Schülern wäre wohl keiner imstande gewesen, ein ihm fremdes Lesestück a vista aus dem Griechischen zu übersetzen. Von dem eigentlichen Wesen des Griechentums, vom hellenischen Geist und seiner in unsere Klassiker hinüberleuchtenden ästhetischen Kraft erfuhren wir nichts. Immerhin noch mehr, als von deutschen Dichtern und deutscher Literatur. Niemals habe ich im Gymnasium ein Wort über Lessing, Schiller oder Goethe vernommen. Professoren von der literarischen Bildung und der entschieden ästhetischen Richtung eines Swoboda oder Zimmermann würden uns gewiß lieber von Schiller und Goethe gesprochen haben, als von den Pflichten der römischen Centurionen oder der griechischen Archonten – aber es lag nicht im Schulplan. Nicht jeder war so glücklich wie ich, in der Bibliothek seines Vaters alle deutschen Klassiker zu finden, in dem großen Umfang damaliger Schätzung, welche neben Schiller, Goethe und Lessing auch Matthisson, Salis, Geliert, Uz, Hagedorn, Geßner, Ewald v. Kleist u.s.w. umfaßte. Diese Bücher waren meine größte Erquickung und ausschließliche Sonntagslektüre. In der Schule würde ich nie etwas von diesen Dichtern erfahren haben, noch weniger von eigentlicher Literaturgeschichte. Die Weltgeschichte, das wichtigste und interessanteste für uns, wurde uns nach den vorgeschriebenen, vormärzlich österreichischen Anschauungen beigebracht. Man kann sich denken, wie über Luther und die Reformation, wie über Friedrich den Großen geurteilt wurde. Die katholische Partei hatte immer recht und die österreichische Armee überall den Sieg.

Den breitesten Raum nahm die Religion ein. Der Religionsunterricht wurde nicht nur in den Normalschulen erteilt, sondern dann noch durch volle sechs Jahre im Gymnasium! Aber nicht genug daran. Das Außerordentlichste kommt noch. In den beiden »philosophischen« Jahrgängen an der Universität, wo wir Stöcke tragen durften und mit »Herr« tituliert werden mußten,[17] war die Religionslehre noch immer obligater Gegenstand. Was uns der Katechet im Gymnasium durch sechs volle Jahre als einfach zu glaubendes Dogma gelehrt hatte, das wurde nun auf der Universität von einem Religionsprofessor mittels »philosophischer Beweise« erhärtet. Dieser Professor, außerhalb des Hörsaals gewiß ein gebildeter und aufgeklärter Mann, hatte die trostlose Aufgabe, uns zwei Jahre lang zu beweisen, daß die Offenbarung nie und nirgend mit der Vernunft und Wissenschaft in Widerspruch stehe. Natürliche Folge dieser achtjährigen gewaltsamen Fütterung mit Religion war zunächst die qualvollste Langweile, die man sich in den entfernteren Bänken mit einem geschickt versteckten Roman von Boz oder Bulwer zu vertreiben pflegte. Aber es blieb auch eine weit schlimmere Wirkung nicht aus, an welche die österreichische Regierung schwerlich gedacht hat. Der obligate Religionsunterricht machte Zweifler, Freidenker und Ketzer aus allen jenen aufgeweckten jungen Leuten, die es nicht schon auf dem Gymnasium geworden waren. Hätte man die Religionsstunden mit dem Gymnasium endgültig abgeschlossen, viele von uns würden später vielleicht über alle die Wunder und Ungereimtheiten nicht mehr nachgedacht oder sie gar weiterhin gläubig fortgeschleppt haben. Indem man aber Universitätshörern zumutete, dies alles »aus der Vernunft« zu beweisen, wurden selbst die Gläubigen stutzig und hatten die Empfindung, daß bei dem krampfhaften Eiertanz des Professors zwischen der Wissenschaft und der Offenbarung, die Eier gründlich zertreten waren. Man hatte somit emsig auf ein Resultat hingearbeitet, welches dem Interesse der Kirche wie des Staates gleich unerwünscht und schädlich sein mußte. Dieses Resultat ist nicht wegzuleugnen; daß es auch unter verschiedener Beleuchtung angeschaut werden kann, beweist ein Ausspruch Fr. Hebbels (in seinen Tagebüchern): »Es ist am Ende an der Religion das Beste, daß sie Ketzer hervorruft.«

Zu dem Zwang des Religionsunterrichts und der halbjährigen Religionsprüfungen an der philosophischen Fakultät gesellte sich in dem damaligen Österreich der Zwang des Kirchenbesuchs und der Beichte. Viermal des Jahres hatten wir zu beichten, d.h. Beichtzettel abzuliefern. Diese Beichtzettel verschaffte man sich leicht von ärmeren Studenten, die gerne gegen eine kleine Entschädigung für andere zur Beichte gingen. So schuf man durch den Zwang nur Verächter und Hasser der Religionsübungen.[18] Noch im Jahre 1847, als ich an der Wiener Universität das vierte Jahr Jus studierte, saß allsonntäglich am Eingang der Universitätskirche ein »Supplent«, welcher – innerlich knirschend über diesen Denunziantendienst – die Namen der die Messe besuchenden Juristen aufschrieb. Die meisten gingen einige Minuten nach dieser Aufschreibung wieder hinaus. Sie wären vielleicht in der Kirche geblieben, hätte man sie nicht dahin kommandiert und ihre Frömmigkeit unter Polizeiaufsicht gestellt. –

Unter den Professoren der philosophischen Jahrgänge in Prag waren nur zwei, die einen stärkeren und nachhaltigen Einfluß auf unsere Bildung übten und denen ich zeitlebens ein dankbares Andenken bewahre: der Philosoph Exner und der Physiker Heßler. Exners schöne Denkerstirne schien uns von einer Art idealem Heiligenschein umwoben; sein ruhig blickendes, geistvolles Auge, seine etwas bedeckte, wohltönende Stimme, seine ganze würdige Erscheinung erfüllte uns mit Achtung und Sympathie. Er war Herbartianer. Als es sich nach dem Jahre 48 darum handelte, das Studienwesen in Österreich von Grund auf neu aufzubauen, wurde Exner vom Grafen Leo Thun ins Unterrichtsministerium berufen. Wir genießen heute noch die Früchte seiner eifrigen, zielbewußten Tätigkeit. In Exners Familie darf man wahrlich von Vererbung des Talents und der Neigung sprechen: seine drei Söhne gehören zu den ausgezeichnetsten Professoren der Wiener Universität. Eine glänzende Persönlichkeit war der Professor der Physik, Ferdinand Heßler. Lebhafter, eleganter, vielleicht etwas oberflächlicher als Exner, fesselte er uns durch seinen Vortrag namentlich jener Partien der Physik, die auf sinnenfälligen Experimenten beruhen. Heßler ward später nach Wien berufen, als Professor am Polytechnikum, wo der sonst so lebensfrohe und rüstige Mann in einem Anfall von Trübsinn seinem Leben selbst ein Ende machte. Als eine halb komische, halb rührende Figur haftet in der Erinnerung meiner Prager Zeitgenossen der Professor der Mathematik, ein alter Prämonstratenser aus dem Kloster Strahow, namens Jandera. Die kleine, hagere, ganz in grau gekleidete Gestalt, die mit der Kreide in der einen, dem Rohrstäbchen in der andern Hand an der schwarzen Tafel demonstrierte, wird niemand vergessen, der einmal unter den Gelangweilten und bei der Prüfung unter den Geängstigten saß. Er war eigentlich ein mathematischer Lehrsatz mit einem Menschengesicht. Ich glaube nicht, daß etwas für ihn Interesse hatte, außer geometrischen Figuren[19] und Gleichungen mit einer oder zwei unbekannten Größen. Die ganze übrige Welt war ihm eine unbekannte Größe, aber eine gleichgültige, da sie sich nicht mit Kreide auf der schwarzen Tafel auflösen ließ. Die Rahel braucht einmal von einer langweiligen Lektüre den gewagten Ausdruck: »Dieses Buch krepiert mich sehr.« Von Jandera sagten wir seufzend: Dieser Professor krepiert uns entsetzlich. –

Eine der merkwürdigsten Abnormitäten des vormärzlichen Unterrichtswesens bestand darin, daß zwei Kollegien an der philosophischen Fakultät, nämlich »Naturgeschichte« (Botanik, Mineralogie, Zoologie), dann »Weltgeschichte« und »Österreichische Geschichte« nur für die vom Schulgeld befreiten Studenten obligat waren. Wer also Schulgeld zahlte, brauchte nichts von der Naturgeschichte und Weltgeschichte zu wissen und keine Prüfung daraus zu bestehen. Da die obligaten Fächer vermeintlich anstrengend genug waren und die damaligen Professoren der Naturgeschichte und der Weltgeschichte zu den trockensten und abstoßendsten an der Prager Universität gehörten, so zahlte, wer nur immer konnte, das Schulgeld und kaufte sich damit von zwei Wissenschaften los, die in jedem andern Staat für unentbehrlich gelten. Insbesondere, daß die Weltgeschichte und österreichische Geschichte nicht von allen Studierenden gehört werden mußte, sondern als eine Art Strafe für die Nichtzahlenden systematisiert war, wird heutzutage kaum jemand begreifen. »Das Reich der Unwahrscheinlichkeiten« ist ein geflügeltes Wort neuerer Zeit; daß aber Österreich vor fünfzig Jahren an Unwahrscheinlichkeiten noch unvergleichlich reicher und fruchtbarer war, können wir Älteren mit Vergnügen konstatieren.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 16-20.
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