2

[179] Einige dieser Beratungen waren von allgemeinem, nicht bloß österreichischem Interesse. So ließ der Staatsminister Schmerling, infolge meines zuerst publizistisch ausgeführten Vorschlags, eine einheitliche Normalstimmung nach dem Vorgang Frankreichs bei uns einzuführen, diese Frage studieren und verordnete (1862)[179] die gleichmäßige Annahme des »Diapason normal« für die österreichischen Musikinstitute und Orchester. Die neue Orchesterstimmung, obwohl sie nicht den geistigen, sondern nur den technischen Teil der Kunst berührt, bleibt immerhin ein Kapitel der musikalischen Kulturgeschichte. Nach rechts und links, von Paris bis Petersburg hat sie ihre Fäden ausgebreitet und wird bald als musikalisches Eisenbahnnetz alle Kulturstädte verbinden. Europa hat jetzt einen einheitlichen Münzfuß früher in der Musik erreicht als im Handel und Verkehr. Die modernen Zugvögel von Europa, die italienischen Sänger, werden bald die neue Stimmgabel über den Ozean tragen. Trotzdem hat über diese glückliche Errungenschaft dreiundzwanzig Jahre später (1885) eine neuerliche Enquete und Kommissionssitzung in Wien stattgefunden, an welcher Joachim, Reinecke, Schuch, Boito und andere fremde Notabilitäten teilnahmen. Da woll te eine vereinzelte Stimme durchaus ein neues, noch tieferes Diapason, die sogenannte Meerenssche oder Pythagorische Stimmung (das Normal-A mit 864 Schwingungen) festsetzen, als bequemer für akustische Rechnungen. Dagegen beschloß jedoch die Versammlung unter dem Vorsitz des ausgezeichneten Physikers Professor Stefan, bei dem alten (französischen) Normal-A von 870 einfachen Schwingungen zu verbleiben. Mit Recht; jede neue Berechnung würde den wichtigsten, schwer errungenen Vorteil vernichtet haben: die Übereinstimmung aller musikalischen Nationen in der gleichen Stimmungshöhe. Wollte jeder Staat das bereits Errungene wieder in Zweifel setzen, durch die Einführung einer neuen, angeblich präziseren Schwingungszahl, so befänden wir uns bald in der alten Konfusion, aus der man sich glücklich herausgearbeitet hatte. Das französische diapason normal war eine lobenswerte Maßregel; sie litt nur, wie manches an sich gute Gesetz, an einer sorglosen Ausübung und mangelhaften Kontrolle. Gesetze müssen eben nicht bloß gegeben, sondern auch eingehalten und überwacht werden. Und in diesem Punkte hat die Wiener Kommission von 1885 unstreitig dankenswerte Maßregeln getroffen, ohne die Hauptsache zu alterieren. An den fremden Kommissionsmitgliedern machte der neue Unterrichtsminister Freiherr von Gautsch eine glänzende Eroberung, indem er seiner gediegenen deutschen Begrüßungsrede noch eine Ansprache im elegantesten Französisch folgen ließ. In Deutschland kommt es nicht zu häufig vor, daß ein tüchtiger Fachminister zugleich als vollendeter[180] Weltmann von gewinnendsten Formen sich präsentiert. – Eine neue wohltätige Institution des Unterrichtsministeriums trat im Januar 1863 ins Leben: die Erteilung von jährlichen Stipendien an mittellose, talentvolle Künstler, welche bereits mit selbständigen Arbeiten hervorgetreten sind. Durch diese Maßregel, welche wir der Initiative des Reichsrats verdanken, war in Österreich zum ersten Mal ein eigenes bleibendes Budget gegründet, welches der Staat zur Ausbildung und Unterstützung einzelner Künstler bestimmt. Der junge Künstler hat jetzt zum ersten Male das Bewußtsein, daß der Staat sich um ihn kümmere; nicht bloß um das fertige Kunstwerk, sondern um ihn, den Künstler persönlich. An der ersten Sitzung nahm für die poetische Sektion auch der greise Grillparzer teil. Für jede der drei Sektionen (Poesie, bildende Kunst, Musik) waren vom Unterrichtsministerium drei Kommissionsmitglieder ernannt, welche gemeinschaftlich die eingelangten Gesuche und Kunstwerke zu prüfen und zu beurteilen hatten. Das Referat über die musikalische Sektion wurde mir anvertraut und ruht heute noch in meinen Händen. Ich hatte die Freude, an Esser und Herbeck, später an Brahms und Goldmark zwei ausgezeichnete Kollegen zu gewinnen. Unter den schaffenden Künstlern, für welche die Stipendien bestimmt sind, spielen Maler, Bildhauer und Architekten naturgemäß die erste Rolle. Ihre Kunst beruht auf einer speziellen, nicht an jedem Orte zu erwerbenden Technik, welche schließlich des anschauenden Studiums klassischer Kunstwerke im Auslande bedarf. Das kostspielige Bedürfnis der Studienreisen für bildende Künstler ist zunächst Ursache, weshalb auf die Musiker in Österreich regelmäßig ein nur geringer Teil der ganzen Stipendiensumme entfällt. Ein anderer Grund liegt in der gegenwärtigen Unergiebigkeit der musikalischen Produktion, hier wie auch in anderen Ländern. Es ist, als ob die bewunderungswürdig gesteigerte Kunst der musikalischen Ausführung, andererseits der plötzliche Aufschwung der historischen und theoretischen Studien in der Musik die schöpferische Kraft vorläufig zurückgedrängt hätte. »Wenn Mozart und Schubert noch lebten!« seufzte Grillparzer am Schluß unserer ersten Sitzung. Damals hatten wir die Genies und keine Unterstützung für dieselben; jetzt geben wir die Unterstützung und haben keine Genies. Die Früchte unserer Musikerstipendien waren oft recht geringfügig, blieben auch mitunter ganz aus. Wir durften uns aber doch einiger aufstrebender[181] Kompositionstalente erfreuen, welche also gefördert und aufgemuntert, bald mit bedeutenden Werken die Aufmerksamkeit der musikalischen Welt erregt haben. Vor allem Dvořák und Goldmark. Auch R. Heuberger, E. Mandyczevski, R. von Perger, Julius Zellner, Robert Fuchs, Hugo Reinhold u.a. befanden sich als jüngere Talente unter den also Ausgezeichneten. Für Anton Dvořák, der bis zu seinem vierzigsten Jahre als unbekannter Komponist und kärglich besoldeter Orchestergeiger in Prag lebte, war die Erteilung des Wiener Künstlerstipendiums ein entscheidendes Ereignis. Brahms ließ es nämlich nicht bei seinem Votum in der Sitzung bewenden, sondern empfahl den unbekannten Komponisten an den Verleger Simrock in Berlin, ohne welchen Dvořák als Mensch und als Künstler wahrscheinlich in dem wenig nahrhaften Weihrauch seiner tschechischen Landsleute verkümmert wäre.

Als eine neue zweckmäßige Einrichtung erwähne ich noch die Organisation musikalischer Prüfungskommissionen von Staatswegen. Vor dem Jahre 1865 bestand in Österreich keinerlei Norm für den Nachweis der nötigen Qualitäten eines öffentlichen Musiklehrers oder Musikschul-Inhabers. Bei der wachsenden Ausbreitung des Musikunterrichts wurde eine Garantie immer wünschenswerter, daß diejenigen Lehrer, welche die musikalische Bildung der nächsten Generationen in der Hand haben, ihrer Aufgabe vollkommen gewachsen seien. In den meisten deutschen Staaten bestanden schon früher analoge Bestimmungen. In Wien hat Leopold von Hasner als Präsident des Unterrichtsrates eine gleichmäßig zusammengesetzte, nach festen Normen vorgehende Prüfungskommission zu diesem Zweck ins Leben gerufen. Für das Fach der Musikgeschichte wurden Ambros und ich zu Prüfungskommissären ernannt. Heute ist die Zahl derjenigen Kandidaten, welche freiwillig dieser Prüfung sich unterziehen, bereits weit größer als jene der dazu verpflichteten. Und ganz auffallend – ich möchte fast sagen bedauerlich – ist die große Überzahl von Mädchen, welche diese Prüfung ablegen, um, mit einem staatsgültigen Zeugnis ausgerüstet, Klavier- oder Gesangslektionen zu geben.

Eine ungemein interessante Ministerialkommission, an der ich teilnehmen durfte, betraf die künstlerische Ausschmückung des neuen Hofoperntheaters in Wien. An den Beratungen, welche unter dem Vorsitz des Ministers Graf Wickenburg stattfanden,[182] beteiligten sich die Architekten des herrlichen Gebäudes, van der Nüll und Siccardsburg, dann Professor Eitelberger, Direktor Dingelstedt, Hofkapellmeister Herbeck, einige Ministerialräte, Maler und Bildhauer. Ich hatte vorzuschlagen, welche Komponisten im Foyer durch Büsten vertreten und welche Opernszenen daselbst bildlich dargestellt sein sollten. Desgleichen war eine längere Reihe berühmter Sänger und Sängerinnen festzustellen, deren Porträtmedaillons im Zuschauerraum selbst, unter den Logen, anzubringen waren. Eine lebhaftere Diskussion entspann sich nur bezüglich der von mir beantragten Büste Richard Wagners. Mehrere Kommissionsmitglieder erhoben Einspruch dagegen, da sie einen noch lebenden Meister, vollends den Repräsentanten einer nicht unbestrittenen kunstrevolutionären Richtung, nicht für hoffähig hielten in dieser marmornen Gesellschaft von Klassikern. Meine Ansicht, daß in einem neu erbauten deutschen Opernhause Wagners Büste nicht fehlen dürfe, wurde von Herbeck überaus warm unterstützt. Da wir beide in dieser Sitzung als die einzigen Vertreter der Musik fungierten, so nahmen die anderen Herren keinen Anstand, unserm Vorschlag schließlich beizustimmen. Damit war geschehen, was recht ist, und vielem künftigen Verdruß und Tadel vorgebeugt. Auch mit Moritz Schwind brachten mich diese Beratungen in angenehme Berührung. Er war eine der kernhaftesten und gemütvollsten Künstlernaturen, die ich kennengelernt. Stämmig, breitschultrig, mit sonnenverbranntem Gesicht und dichtem weißen Schnurrbart, sah er beiläufig aus wie ein pensionierter Major. Auch seine kräftige, ungenierte Rede hatte etwas Soldatisches. Dabei, welche zarte, poetische Empfindung, welche unerschöpfliche Phantasie in romantischen und märchenhaften Stoffen! Von allen Tondichtern stand ihm Mozart am höchsten und unter dessen Opern die »Zauberflöte«. Man kennt die herrlichen Bilder, Figuren und allegorischen Ornamente, welche Schwind dieser Oper entnommen und in der offenen Loggia des Wiener Opernhauses verewigt hat. Die von ihm gemalten Opernszenen hat später Bruckmann in München photographisch nachgebildet und mit einem von mir verfaßten erläuternden Text herausgegeben.

Das neue Opernhaus wurde unter Dingelstedts Direktion am 25. Mai 1869 eröffnet. Es war mir nicht vergönnt, dieser denkwürdigen Vorstellung beizuwohnen, weil mich damals ein Gelenkrheumatismus in den Schwefelbädern von Baden gefangen[183] hielt. Dieser Aufenthalt ist mir mit einer unvergeßlichen Erinnerung an Grillparzer verknüpft. Ich sah den Dichter jeden Morgen auf einer Bank im Parke sitzen, niemals mit einem Buch in der Hand, aber sinnend, in sich versunken. Mit der Sehnsucht, den verehrten Mann kennenzulernen (der obendrein im selben Hause mit mir, im »Herzogshof« wohnte), kämpfte die Scheu, mich ihm zu nähern. Leider siegte die letztere; ich habe Grillparzer niemals gesprochen. Was konnte ich ihm auch bedeuten, fragte ich mich, was konnte er von mir wissen? Einige Jahre später wußte ich es. Josef von Weilen erzählte mir, Grillparzer habe gerade damals in Baden mit großer Aufmerksamkeit meine »Geschichte des Wiener Konzertwesens« gelesen! Erst nach seinem Tode lernte ich seine treuen Pflegerinnen, die Schwestern Fröhlich kennen, die mich zu einem der vier Kuratoren ihrer so wohltätigen »Schwestern-Fröhlich-Stiftung« erwählten. Von ihnen erfuhr ich, wie lebhaft Grillparzer bis an sein Lebensende sich um musikalische Dinge bekümmert, auch regelmäßig meine Kritiken gelesen hat. Nun war es zu spät, zu spät! Ich hatte die Gelegenheit versäumt und durch kindische Scheu mich um den unverlierbaren Gewinn gebracht, Grillparzer gekannt und gesprochen zu haben.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 179-184.
Lizenz:

Buchempfehlung

Reuter, Christian

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.

46 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon