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[198] Im Mai 1862 wurde ich vom österreichischen Handelsministerium als Berichterstatter über die Musikinstrumente zur Weltausstellung nach London geschickt. Trotz des kärglichen Reisegeldes, das mir bewilligt war, fühlte ich mich überglücklich. Ich sollte London kennenlernen, nicht bloß flüchtig, sondern in längerem Aufenthalt und mit einer bestimmten Mission, die in Beziehung stand zu meinem musikalischen Studium. Die Kunst der Instrumentierung hatte mich stets auf das lebhafteste interessiert, Berlioz' »Traité de l'instrumentation« mit seiner reichen Beispielsammlung anhaltend gefesselt. Man muß dieses geistvolle Buch freilich im Originaltext lesen, nicht in der undeutschen »deutschen Übersetzung« von Dörffel. Die Londoner Weltausstellung regte mich an, über das bloß theoretische Studium hinaus, auch nach Möglichkeit die Fabrikation der Instrumente kennenzulernen. In den Werkstätten der besten Wiener Fabrikanten von Klavieren, Geigen, Blasinstrumenten gewann ich manche wertvolle Belehrung durch den Augenschein. In London brauchte es eine Zeit, ehe ich mich in dem kolossalen, Aug' und Ohr verwirrenden Tumult der Musikausstellung zurechtfand und den unausstehlichen Lärm der von allen Seiten probierten Instrumente ertragen konnte.

Von den epochemachenden Neuerungen auf diesem Gebiete wüßte ich nur zwei zu nennen, die für unsere Tage Wichtigkeit behalten haben. Vor allem Steinways neues System, das hier zuerst erschien und seither die Welt erobert hat. In zwei Steinway-Flügeln und einem Tafelklavier, welche das größte Aufsehen erregten, sah man zum ersten Male die fächerförmig überquer gespannten Baßsaiten und den aus einem einzigen Stück gegossenen Eisens bestehenden Metallrahmen. Meine Prophezeiung,[198] daß diesem System Steinways die Zukunft gehöre, hat sich seither bewährt. Als zweite, interessante Neuigkeit frappierte mich die zum erstenmale versuchte Anwendung des Aluminiums für Blasinstrumente. Ich nahm ein aus diesem Metall verfertigtes Flügelhorn von Besson in die Hand – es war so leicht wie Pappendeckel. Vier solcher Instrumente erreichten zusammen erst das Gewicht eines gewöhnlichen Flügelhorns von gleicher Größe und Dicke. Wer die enorme Last erwägt, welche unsere Militärmusiker auf dem Marsch zu schleppen haben an den Baßbombardons, Baßposaunen, Schwanenhörnern und dergleichen Blechungetümen, muß die Verwendung des Aluminiums als eine Wohltat für die blasende Menschheit begrüßen. Aber das Aluminium stand damals im Preise dem Silber gleich, und diese Kostspieligkeit hinderte begreiflicherweise die Verbreitung jenes Versuchs. Er schien hoffnungslos. Tatsächlich war auf den nächsten Weltausstellungen (Paris 1867 und Wien 1873) kein einziges Blasinstrument aus Aluminium zu sehen. Jetzt, nach dreißig Jahren, wo das Aluminium plötzlich so billig fabriziert und zu einer Unzahl von Gegenständen verwendet wird, dürfte jene Erfindung Bessons wieder in ihr Recht und in die Praxis treten.

Der unvergleichlich anregende und gemütliche Mittelpunkt meines Londoner Lebens war das Haus des Klavierprofessors Ernst Pauer. Sohn eines protestantischen Pfarrers in Wien und Schüler des Kapellmeisters Heinrich Esser, hat Pauer sich frühzeitig in London niedergelassen und dort als Pianist und Lehrer einen glänzenden Namen erworben. Daß er heute noch mit ungeschwächter Kraft tätig ist – während sein Sohn, einer der besten Klaviervirtuosen, bereits als Professor am Kölner Konservatorium wirkt – das verdankt Pauer seiner beneidenswerten Gesundheit und seinem ebenso beneidenswerten Temperament. Ich habe ihn inmitten der aufreibendsten Tätigkeit nie anders als heiter und aufgeräumt gesehen. Wenn er aus der Stadt nach einer Frone von acht bis neun Klavierstunden des Abends zu seiner Familie nach Brompton heimkehrte, trat er lachend ins Speisezimmer und freute sich wie ein Kind auf die Suppe. In seinem kunstsinnigen, echt deutschen Hause (sogar das Dienstpersonal war deutsch) konnte man ungeladen des Abends erscheinen, sich mit an den Tisch setzen und dann musizierend oder plaudernd einiger gemütlicher Stunden sicher sein. Einmal während der Ausstellung gab Pauer auch eine große Soirée. Obgleich er, nach englischer[199] Sitte, das ganze Haus bewohnte, so reichten doch das Erdgeschoß, erster und zweiter Stock nicht hin für die zahlreichen Gäste. Es machte mir großen Spaß, mit dem Dichter Moritz Hartmann und dem Schriftsteller Max Schlesinger (beides bekanntlich Österreicher) mich auf der teppichbelegten Treppe niederzulassen, wo wir, jeder unseren Teller in Händen, es uns prächtig schmecken ließen. An einem gesuchten Londoner Musiklehrer und Virtuosen kann man erfahren, was arbeiten heißt. Pauer war obendrein als Juror bei der Ausstellung beschäftigt und von zahlreichen Fremden in Anspruch genommen. Seit vielen Jahren in London ansässig, hatte er noch nie die Westminsterabtei gesehen! Ich blieb sprachlos vor Entsetzen; Pauer mußte mir freilich versprechen, dieses unglaubliche Versäumnis so bald als möglich gut zu machen. Als ich ihn aber achtzehn Jahre später daran erinnerte, schien er mir bedenklich auszuweichen. So lebt, so arbeitet man in London.

Pauer pries auch die Wohltat der strengen Sonntagsheiligung in England. »Da kann mir kein Brief, keine Zeitung ins Haus kommen; da darf ich keinen Besuch machen, da gibt es kein Konzert, kein Theater – nichts!« Wir Fremden waren auf diese fromme Einrichtung um so übler zu sprechen. Während bei uns an Sonntagen die gewöhnliche Zahl der Eisenbahnzüge verdoppelt wird für Ausflüge in die Umgebung, fanden wir sie in London auf das äußerste verringert. Wir mußten froh sein, statt um sieben Uhr früh, um elf Uhr nach Richmond oder Windsor fahren zu können und dort angelangt, verweigerten uns die Gastwirte jede Erfrischung vor Schlag zwölf Uhr. Und diese Sonntagsabende! Kein Theater, kein Konzert, nicht die geringste Lustbarkeit! Da retteten uns zum Glück einige befreundete deutsche Familien; denn Engländer am Sonntag besuchen, gilt für eine Ungeheuerlichkeit. An Sonntag-Abenden flüchtete man frohgemut entweder zu Pauer oder zu Rosa Czillagh oder zu Therese Tietjens, den zwei gefeierten Primadonnen der italienischen Opernhäuser: Coventgarden und Her Majesty's Theatre. Hier war man eines freundlichen Empfanges, einer guten Tasse Tee und deutscher Landsleute gewiß. – »Sagen Sie,« interpellierte mich die Tietjens, als ich nach ihrer prachtvollen Leistung als Norma ihr vorgestellt wurde, »waren die Wiener nicht Esel, daß sie mich fortließen?« – »Ich glaube, sie waren es!« – Bei Frau Czillagh lernte ich den berühmten Gesangslehrer Manuel[200] Garcia kennen, einen der ersten, der den Kehlkopfspiegel zu physiologischen Untersuchungen im Interesse der Gesangskunst verwendet hat. Er bestätigte meine Ansicht von der gesangwidrigen Natur der englischen Sprache mit ihren Zischlauten und zerquetschten Gaumenvokalen. Der englische Sänger steht fortwährend vor der Alternative, ob er korrekt englisch aussprechen oder ob er einen schönen Ton bilden wolle. Eines von beiden muß jeden Augenblick geopfert werden. »Die Engländer,« fügte Manuel Garcia treffend hinzu, »haben graue Vokale von unbestimmtem Klang, wie sie einen Himmel von grauer, unbestimmter Farbe haben. Der Gesang bedarf aber lichter, entschiedener Farben. Die physiologische Tätigkeit, welche die Erzeugung eines schönen, insbesondere hohen Tones bedingt, ist in vielen Fällen ganz unvereinbar mit dem Zungenmanöver der korrekt englischen Aussprache.« – Wieviel muß ein Künstler von dem musikalischen Feingefühl eines M. Garcia als Gesanglehrer englischer Ladies gelitten haben – er, der Sohn des berühmten alten Garcia und Bruder von zwei allergrößten Sängerinnen: der Malibran und der Viardot!

Rosa Czillagh (die geschiedene Frau des berühmten Zauberers C. Hermann) war in London ebenso gefeiert wie vordem am Hofoperntheater in Wien. Sie wirkte durch ihre kräftige Altstimme und eine gewisse rohe Leidenschaftlichkeit des Vortrages und Spiels. Für eine bedeutende Sängerin habe ich sie nie gehalten; es fehlte ihr ebenso sehr an eigentlicher Gesangstechnik wie an Geschmack. Aber sie hatte »Rasse«, und damit vermochte sie in Paraderollen wie Fides oder Azucena das große Publikum zu elektrisieren. Ungemein gastfrei und gefällig für ihre zahlreichen Freunde, hielt sie in Wien und London offenes Haus. Sie gehörte zu jenen leider nicht seltenen Sängerinnen, welche, auf die Unzerstörbarkeit ihrer Stimme und ihrer Anziehungskraft pochend, keinen Sparpfennig zurücklegen für spätere böse Tage. Es ging entsetzlich rasch mit ihr abwärts. Aus England zurückgekehrt, gab sie Konzerte in kleinen Städtchen und bescheidenen Badeorten, wo schließlich ihre rauh und unsicher gewordene Stimme Mitleid erregte. Zuletzt lebte die früher so gefeierte Künstlerin von der Barmherzigkeit einiger wohlhabender Freunde – man kann sagen von Almosen. Als sie, gänzlich verarmt und verschollen, 1892 in Wien starb, mußten die Kosten ihres einfachen Begräbnisses durch eine mildtätige Sammlung aufgebracht werden.[201]

Eine interessante musikalische Bekanntschaft machte ich an dem Komponisten Sir Julius Benedict. Das Wichtigste an ihm war mir eigentlich seine Vergangenheit. Ein Schüler und Liebling C.M. von Webers, hatte er diesen zu den ersten Aufführungen des »Freischütz« und der »Euryanthe« nach Berlin und Wien begleitet. In London fand ich aber diesen Veteranen noch als eines der rührigsten Elemente des musikalischen Alltagstreibens. Seine Opern standen zwar nicht mehr auf dem Repertoire, aber Benedicts jährliches »Monstrekonzert« übte eine höchst einträgliche Anziehungskraft, und es gab keine vornehme Soirée, in welcher nicht Julius Benedict die Gesangstücke auf dem Klavier begleitete. Der alte Herr spielte zwar mit steifen Fingern und altmodischer Manier, aber er gehörte nun einmal zur »Fashion« und bekam ein dreimal so großes Honorar als irgendein vortrefflicher jüngerer Accompagnateur. Den Engländern gilt vor allem der Name. Das große Einkommen Benedicts belehrte mich, was in London die Mode bedeutet. Das bewegliche kleine Männchen spielte fast jede Nacht in irgendeiner aristokratischen Soirée, gab nebenbei Unterricht, komponierte allerlei und arrangierte Konzerte. Eine fabelhafte Gesundheit befähigte ihn, volle fünfzig Jahre Londoner Musiklebens ununterbrochen tätig mitzumachen. Als ich ihn besuchte, war er bereits seit zwanzig Jahren Witwer und hauste mit seiner ältesten Tochter. Er empfing mich sehr freundlich und erzählte mir von seiner Lehrzeit bei Hummel in Weimar und bei C.M. von Weber in Dresden; dafür mußte ich ihm über Wien referieren, wo er als junger Mensch italienische Opern unter Barbaja dirigiert hatte. Um ihn nicht durch allzu vieles Sprechen zu ermüden, trat ich ans Klavier, auf dem eine vierhändige Opernouvertüre von ihm aufgeschlagen lag. Ich kannte nichts von seinen Kompositionen und bat ihn, das Stück mit mir zu spielen. Er sah mich etwas mißtrauisch an, überließ mir aber doch artig die Primstimme, und so ging die effektvolle Ouvertüre ganz flott vonstatten. Der Komponist konnte sich nicht genug verwundern, daß ein Musikschriftsteller a vista spielen könne; ich wunderte mich wieder über seine Verwunderung, und so nahmen wir denn in freundschaftlichstem Verwundern Abschied voneinander. Siebzehn Jahre später las ich in den Zeitungen, daß der fünfundsiebzigjährige Benedict sich zum zweitenmale mit einer schönen, jungen Engländerin verheiratet habe, worüber ich mich am allermeisten verwunderte. Nach dieser Heldentat lebte[202] das unternehmende Männchen noch bis zum Sommer 1885.

Aus dem von allen Instrumenten durchlärmten Ausstellungsgebäude entfloh ich eines Tages nach Oxford. Ich fuhr mit meinem Wiener Kollegen, Professor Eitelberger, der vom Minister Gladstone ein Empfehlungsschreiben an den Vizekanzler der Universität in Händen hatte. Wir übernachteten in Oxford und konnten am folgenden Tage mit aller Muße die Bibliothek, die Bildergalerie und die verschiedenen Kollegs der merkwürdigen Stadt besehen. In Eitelbergers anregen der Gesellschaft besuchte ich in London auch das South-Kensington-Museum und kann sagen, daß ich dabei das Projekt zu dem Wiener »Museum für Kunst und Industrie« in Eitelbergers Kopf leibhaftig entstehen sah. Mit der ihm eigenen Energie sprach er während unseres Rundganges die Absicht aus, etwas Ähnliches für Österreich zu schaffen; er wälzte den Plan unaufhörlich in seinen Gedanken, erwog ihn Tag und Nacht und machte, kaum nach Wien zurückgekehrt, tatsächlich die ersten Schritte zur Verwirklichung seines Vorhabens. Seinem rastlosen Eifer und organisatorischen Talent ist es wirklich geglückt, diese für Österreich absolut neue, segensreiche Schöpfung aus dem Boden zu stampfen.

Noch möchte ich der köstlichen Fahrt zum Derby-Rennen nach Epsom erwähnen. Ich hatte weder früher noch später jemals ein Wettrennen besucht, fehlte mir doch das geringste Interesse dafür, ob das Pferd Almansor oder das Pferd Lucia eine Sekunde früher am Ziele anlange. Aber der englische Derbytag! Das ist kein bloßes Rendezvous von Pferdekennern und -liebhabern, sondern ein wahres Volksfest im großartigsten Stil, ein Schauspiel von imposanter allgemeiner Lust, lebensvoll bis zum Überschäumen. Dieses Fest mit guten Freunden anzusehen, aus einem bequemen, mit Speise und Trank reichlich ausgestatteten offenen Wagen – das gehört zu den originellsten, köstlichsten Vergnügungen, die man sich wünschen, und die nur England bieten kann.

Eine große Herrensoirée gab es bei Dr. Max Schlesinger, dem Verfasser eines der geistreichsten, lebendigsten Bücher über London. Es ist im Buchhandel so gut wie vergriffen. Schlesinger, damals der hervorragendste deutsche Journalist in London, versammelte an dem Abend bei sich die Spitzen der Ausstellungskommission, Delegierte aller Nationen. Mehr als diese industriellen Notabilitäten interessierte mich Ferdinand Freiligrath, der,[203] ein Lieblingspoet meiner Jugend, nun als Buchhalter in einem englischen Bankierhause arbeitete. »Pulver ist schwarz, Blut ist rot, golden flackert die Flamme!« Wie schwer reimen wir das mit dem Dienst in einem dumpfen Kontor! Auf einen mir fast unwillkürlich entschlüpften Ausruf dieser Art erwiderte der übrigens recht schweigsame Dichter, er habe in seiner Jugend sich den Rat Chamissos und Clemens Brentanos erbeten, ob er aus dem Kaufmannsstande austreten und sich ganz der Dichtkunst widmen solle? Beide Poeten hätten ihm entschieden davon abgeraten. Eine Bestätigung dieser für den ersten Blick auffallenden Tatsache habe ich zwanzig Jahre später in zwei merkwürdigen Briefen Chamissos und Brentanos gefunden, welche in dem von W. Büchner herausgegebenen Briefwechsel Freiligraths (1882) veröffentlicht sind. Freiligrath, der Mann mit dem Löwenkopf und der gedrungenen, fetten Gestalt, war in London nicht der einzige Pegasus im Joche. Der Dichter Gottfried Kinkel hockte zwar nicht über dem Hauptbuch und Börsenkurszettel, mühte sich aber doch in einer kaum weniger anstrengenden Tätigkeit, die seine ganze Zeit in Anspruch nahm. Er hielt Vorträge über Kunst- und Literaturgeschichte, dreißig Stunden die Woche, an verschiedenen Lehranstalten und Mädchenpensionaten Londons, dann in Brighton, Manchester, Worcester (für die Porzellanfabrikanten, über Pompeji). »Die Kunst,« sagte er, »gilt hier nur insofern, als sie nützt.« Kinkel hatte die seit zwei Monaten eröffnete Weltausstellung noch nicht gesehen, so sehr sie ihn interessierte; erst im Herbst hoffte er dafür Zeit zu finden. Wieviel und mühsam müssen in London so hervorragende Männer arbeiten! Man schämt sich vor ihnen in die Seele hinein und meint doch selbst nicht gefaulenzt zu haben. In Eitelbergers Gesellschaft verbrachte ich einen stillen Abend bei Kinkel. Es waren nur seine Kinder zugegen. Ein Blick auf das große weibliche Porträt über dem Klavier gab mir einen Stich ins Herz. Ich brauchte nicht zu fragen, wen es vorstelle. Die arme Johanna Kinkel! Wie oft hatte ich mir gewünscht, ihr für das vortreffliche Buch »Hans Ibeles« danken zu können, in welchem sie die erste schwere Zeit ihrer Londoner Ansiedlung schildert und soviele geistvolle Bemerkungen über Musik einflicht. Nun fehlte sie in diesem Familienkreise. Sie hat sich in einem Anfall von Melancholie, welchem schwere Gemütsbewegungen vorangegangen waren, vom Fenster herabgestürzt. Eine Wolke von Schwermut lagerte auf Kinkels schönem Kopfe, in[204] welchem zwei feurige, braune Augen unter dem ergrauenden, dichten Haupthaar so beredt hervorleuchteten. »Geben Sie uns etwas Musik!« bat er mich. Und ich spielte und spielte unter dem Bilde der musikalischen Märtyrerin, während die Kinder frohlockten, und Kinkel ernst und schweigsam zuhörte. – Bei Max Schlesinger traf ich auch den Komponisten Stephen Heller aus Paris. Einige Freunde hatten ihn, nicht ohne Mühe, dazu bewogen, nach London zu kommen, und hier in ein oder zwei musikalischen Matinéen mitzuwirken. Er spielte sehr ungern öffentlich, aber das Honorar kam ihm, bei dem häufigen Stocken seiner Einnahmequellen, gerade erwünscht. Stephen Heller konnte kein Wort Englisch. »Ja, was tun Sie denn, wenn man Sie Englisch anspricht?« fragte ich ihn. »Ich antwortete auf alles ›Never mind‹; das paßt immer!«

Mehr als auf alle Musiker Londons hatte ich mich auf Charles Dickens gefreut, dem ich von Jugend auf so viel Vergnügen verdankte. Die besten seiner Romane habe ich nach zehn, nach zwanzig Jahren neuerdings vorgenommen und sie mit demselben heiteren Behagen wieder gelesen. Nach anhaltend geistiger Arbeit boten sie mir des Abends eine so wohlige Abspannung mit ihrem Wechsel von drastischer Komik und gemütvollen, rührenden Szenen. Und alles darin so natürlich, so echt menschlich. Noch ganz kürzlich, nachdem ich zuviel Zyankali naturalistischer »Moderne« verschluckt, habe ich wieder einmal zu heiterem Aufatmen den »Nicholas Nickleby« hervorgeholt. Also, ich traf Dickens und zwar in dem kunstsinnigen Hause des Malers Lehmann, wo mich Joachim eingeführt hatte. Ein intimer, zwangloser Abend mit nur sechs bis acht Gästen. Da konnte ich Dickens bequem genießen und auch die Bekanntschaft des einzigen schönen Werkes von ihm machen, das mir fremd gewesen: seine Tochter. Auch Dickens' Schwager, der berühmte Romanschriftsteller Wilkie Collins, war gegenwärtig, konnte mich aber neben jenem Vielgeliebten nicht sehr interessieren. Dickens, damals fünfzig Jahre alt, hatte in seinem Benehmen etwas zutraulich Burschikoses; in seinem unregelmäßigen beweglichen Gesicht etwas von einem genialen Komiker. Die ungeheuere Verbreitung und Beliebtheit seiner Werke in Deutschland konnte ihm nichts Neues sein; doch freute es ihn, davon zu hören. Er schickte mir tags darauf ein Billet zu einer seiner Vorlesungen in St. James-Hall mit einem liebenswürdigen Briefchen, das einen[205] Ehrenplatz in meiner kleinen Autographensammlung einnimmt. Diese enthält lediglich an mich gerichtete Briefe; ich war niemals Autographensammler, obwohl mir unter allen Sammlerpassionen diese weitaus die sympathischeste ist. Unbegreiflich sind mir nur die Briefmarkensammler.

Die Vorlesung von Dickens machte mir einen ganz eigentümlichen, anheimelnden Eindruck. Sie fand um acht Uhr abends statt, demungeachtet ohne den Zwang des sonst unausweichlichen Eveningdress. Dickens, in schwarzer Krawatte, eine Nelke in seinem bequemen Gehrock, steht vor einem grün behangenen Tischchen und liest einige ausgewählte Kapitel aus seinem »Copperfield«. Es sind lauter Lieblingsfiguren, Lieblingsszenen des Publikums, welches ja den Zusammenhang genau kennt. Dikkens spricht in ungezwungenem, meist humoristischen Ton, einfach und doch virtuos. Sein lebendiger, dramatischer Vortrag zwingt das Auditorium abwechselnd zur Rührung und zu fröhlichem Lachen. Seine Zuhörer, fast durchaus bürgerlicher Mittelstand, hängen voll Andacht an seinen Lippen und feiern ihn mit familiär herzlichem Applaus. Ein wohltuender Anblick nationaler Verehrung und Liebe! In Deutschland ist etwas Ähnliches nicht denkbar. Wo wäre bei uns ein Romanschriftsteller so populär, daß er mit dem Vorlesen einiger bekannter Kapitel jeden Winter ein großes Publikum anlocken und wie Dickens, trotz der billigen Eintrittspreise, eine bedeutende Summe erzielen könnte! Dickens erzählte mir, man habe ihm für sechs Vorlesungen in Australien die enorme Summe von zehntausend Pfund Sterling geboten, doch konnte er sich zu dieser Reise nicht entschließen.

Ein Besuch, auf den ich mich lange gefreut, galt Jenny Lind. Ich hatte sie in Wien nur flüchtig kennengelernt in einem großen Konzert (1846), wo sie, von Clara Schumann begleitet, »Auf Flügeln des Gesanges« und Schumanns »Nußbaum« so hinreißend schön sang, wie ich diese Lieder nie wieder gehört. Clara Schumann, die an diesem Tage ihrem Gedächtnis mißtraute, hatte mich gebeten, ihr die Noten umzuwenden, und beinahe wäre ich im Entzücken über Jenny Lind aus meiner bescheidenen Rolle gefallen. Sie war unruhig und besorgt vor dem Heraustreten. »Nur ein Chorist hat keine Angst«, belehrte sie mich. Hingebend und liebevoll gegen alle ihr näher Befreundeten, pflegte Jenny Lind doch gegen Fremde sehr zurückhaltend, wohl auch unliebenswürdig zu sein. Ich mußte das selbst erfahren. Mit meinem[206] Freunde C. F. Pohl (dem verstorbenen Haydn-Biographen) hatte ich eine sehr artige Einladung von Herrn und Frau Goldschmidt zum Dejeuner nach Argyle-Lodges (bei Wimbledon-Commons) erhalten, mit dem Beifügen, daß sie der späten Heimfahrt wegen niemanden zum Dinner zu bitten wagen. Wir langten an einem sonnigen Junimorgen in der stattlichen, gartenumkränzten Villa an. Otto Goldschmidt führte uns in den prächtigen Salon, wo uns Frau Jenny mit kurzem Kopfnicken begrüßte. Neben ihrem Sofa erhob sich, von Palmgewächsen beschattet, eine Marmorbüste der Königin Viktoria, ihr zu Häupten hing ein lebensgroßes Brustbild F. Mendelssohns. Nach einer Pause nahm Frau Jenny das Wort und fragte mich in trockenem Tone: »Haben Sie schon in London Musik gehört?« – »Ja,« entgegnete ich, »ich hatte das Glück, Sie in der ›Schöpfung‹ zu hören«. Ein finsterer Blick – dann die zurechtweisenden Worte: »Wollen Sie meine Person gänzlich aus dem Spiele lassen!« Das war in einem Ton gesagt und mit einer Miene, daß es mir kalt über den Rücken lief. Ich sprach keine Silbe mehr und unterhielt mich während des langen, opulenten Dejeuners ausschließlich mit Herrn Otto Goldschmidt, den ich dann in den Garten begleitete, wo die beiden hübschen Kinder, Walter und Jenny, mit dem noch unberühmten Arthur Sullivan Cricket spielten. Der Hausherr benahm sich gegen mich sehr liebenswürdig, obgleich ich gerade ihn in meinen Kritiken 1854 recht unfein behandelt hatte. Das brüske Benehmen seiner Frau schien ihn selbst ein wenig zu genieren; er murmelte einige entschuldigende Worte. Vielleicht mochte er ihr selber einen Wink gegeben haben, denn als wir in den Salon zurückkehrten, wo Frau Jenny mit Karl Klingemann (dem Dichter vieler Mendelssohnscher Lieder) sich unterhielt, richtete sie das Wort an mich und sprach über Sänger und Sängerinnen. Ihre Urteile lauteten ziemlich scharf. »Die jetzigen Sängerinnen haben alle mit dreißig Jahren keine Stimme mehr; sie haben zu wenig studiert und schreien zuviel. Ich selbst habe niemals viel Stimme besessen, aber ich habe sie vollkommen erhalten, ja ich singe mit größerer Leichtigkeit als je«. In diesem Punkt, glaube ich, täuschte sich die große Künstlerin selbst, wie so manche ihrer alternden Kolleginnen. Ich hatte sie, wenige Tage vor meinem Besuch, in Exeter Hall die Sopranpartie in der »Schöpfung« singen hören. Ich erkannte ihre Stimme, wie man ein halb verwittertes Bild langsam wiedererkennt. Die Töne kamen schwach und verschleiert[207] hervor, die hohen, kräftigen Stellen mit Anstrengung. An dem Beifall des englischen Publikums, dessen Pietät nicht genug zu rühmen ist, konnte Jenny Lind freilich noch lange nicht innewerden, daß ihre Stimme am Anfang des Endes stand.

In der italienischen Oper erlebte ich manchen genußreichen Abend. Da hörte ich Gesangskünstler, wie sie heute nirgends mehr existieren. Im Coventgarden-Theater »Die Hugenotten« mit dem fast sechzigjährigen, noch immer unvergleichlichen Mario als Raoul, Faure als Nevers, der Miolan-Carvalho als Königin; »Wilhelm-Tell« mit Tamberlik und Faure; »Barbier von Sevilla« mit Mario und Adelina Patti, deren europäischer Ruf von dieser Londoner Saison datiert; Verdis für mich neue Oper »Il ballo in maschera« mit Mario, der Czillagh und der Miolan-Carvalho; »Lucia« mit der Patti.

Im »Don Juan« sang der mir aus Wien wohlbekannte mächtige Bassist Karl Formes den Leporello. Das zweite italienische Opernhaus »Her Majesty's Theatre« rivalisierte mit Coventgarden. Es brachte »Die Hugenotten«, »Trovatore« und »Don Juan« mit Giuglini, Santley, der Tietjens, Trebelli und Louisa Pyne, den »Barbier« mit Zucchini und der Trebelli. Die italienische Oper, ein Modeartikel und Leckerbissen für die Reichen und ohne den geringsten Zusammenhang mit der Nation, herrschte damals unumschränkt in London. Die englische Oper, welche jetzt rühmliche Anstrengung macht, sich emporzuheben, existierte noch nicht oder doch nur in einem kleinen Hause (»English Operetta-Theatre«) mit kläglichen Operettenvorstellungen.

Eine Aufführung von Händels »Messias« im Kristallpalast überzeugte mich von der noch andauernden außerordentlichen Popularität des Oratoriums in England. Es ist der echteste und volkstümlichste Bestandteil des Musiklebens in England, wie die Oper der äußerlichste, luxuriöseste. Freilich ist es nicht lediglich das musikalische Moment, was den Engländer in Händels Oratorien die Vollendung aller Kunst preisen läßt, der religiöse Inhalt spielt in diese mit Vorliebe hinein. Geistliche Musik herrscht unverhältnismäßig vor in allen englischen Musikfesten, wie sie alljährlich in London, dann abwechselnd in Worcester, Hereford, Glocester, Leeds stattfinden. – Die großen Konzerte der einst berühmten »Philharmonic society«, welche Sterndale-Benett müde und gelangweilt dirigierte, konnten mich sehr wenig befriedigen;[208] höher standen die Kammermusik-Aufführungen in Herrn Ellas »Musical Union«.

Das Wenige, was ich von Schauspielvorstellungen sah, belehrte mich, daß das englische Theater großartig dasteht in Szenierung und Ausstattung von Sensationsstücken wie »Collin-Bawn«, »Peep O'Day« u. dgl.; daß die englischen Schauspieler hoch begabt sind für derbe Komik, aber manieriert, übertrieben, unnatürlich in der Tragödie. Im Prinzeß-Theater sah ich in Gesellschaft Josef Lewinskys, der eben, nach einem glänzenden Debüt als Franz Moor, im Burgtheater engagiert worden, das Schauerdrama »Louis XI.«. Charles Kean, der berühmte Abkömmling noch berühmterer Keans, spielte die Titelrolle mit stellenweise geistreicher, aber abstoßend greller Charakteristik und bis zur Unwahrheit »naturwahrem« Detail. Mit großem Interesse beobachtete ich die atemlose Aufmerksamkeit, mit welcher Lewinsky, der damals noch kein Wort Englisch verstand, das Spiel Keans verfolgte. Beim Herausgehen lud ich ihn ein, mit mir am nächsten Abend die Patti in der italienischen Oper zu hören. Zu meinem Erstaunen weigerte sich der sonst leidenschaftliche Musikfreund und machte die verschiedensten Ausflüchte. Schließlich in die Enge getrieben, gestand er, daß er morgen nochmals Kean als Ludwig XI. sehen wolle. Wir lachten, mußten aber doch die Gewissenhaftigkeit des jungen Schauspielers rühmen, welcher dem Interesse an der Technik seines Berufes alles andere opferte.

Nach achtwöchentlichem, höchst anregendem, aber ruhelosem Aufenthalt in London begann ich doch mich nach Hause zu sehnen. Mein offizieller Bericht lag fertig, alles Sehens- und Hörenswerte hatte ich so ziemlich in mich aufgenommen; so war denn eines Tages der Koffer schnell gepackt und die Rückreise nach Wien angetreten.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 198-209.
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