1

[325] Unser junges Eheleben erfuhr sehr bald eine kurze, aber doch recht empfindliche Trennung. Kaum hatten wir, von der Hochzeitsreise zurückgekehrt, uns ruhig in Weidlingau, einer Sommerfrische am Wienerwalde, niedergelassen, als die Redakteure der »Neuen freien Presse« mich ersuchten, als Berichterstatter nach Bayreuth zu reisen. Wagners Tetralogie sollte (August 1876) dort zum erstenmale vollständig in dem neu erbauten Festspielhaus in Szene gehen. So sehr mich die Sache interessierte, so ungern folgte ich dieser Aufforderung. Einmal fiel es mir schwer, meine junge Frau allein zurückzulassen, die ich doch nach allem, was von der peinlichen Wohnungs- und Hungersnot in dem Nibelungennest verlautete, unmöglich mitnehmen konnte. Sodann graute mir vor jener eiligen Berichterstattung, welche, auch von der Wiener Journalistik adoptiert, voraussichtlich in Bayreuth den höchsten Grad von Atemlosigkeit erreichen würde. Ich nahm den Antrag nur unter der Bedingung an, daß ich nicht zu telegraphieren brauchte. Wohl mir – denn in Bayreuth rannten die Berichterstatter, vor allem die englischen und amerikanischen, nach jedem Akte einer jeden Vorstellung aufs Telegraphenamt, um ihren Abonnenten löffelweise den »Erfolg« zu kredenzen. Nach meiner Empfindung eine wahre Barbarei und eine ganz überflüssige. Mich verstimmt es schon, wenn ich unmittelbar nach einem anstrengenden langen Opernabend eine Notiz für das Morgenblatt niederschreiben soll. Wie leicht tut man da, müde und aufgeregt, jemandem Unrecht!

Ich hatte die Bitternis gehetzten Kritisierens 1868 in München ausgekostet, als dort die »Meistersinger« zum erstenmale gegeben[325] wurden. Vom Telegraphieren war ich zwar damals schon enthoben gegen das Versprechen, am folgenden Tag ein Feuilleton abzusenden. Die Aufführung währte von sechs bis elf Uhr. Todmüde von angestrengtem Hören in heißem Raum, eile ich zur Garderobe. Da kommt mir Rubinstein in die Quere, die Schönste der Wagnerianerinnen, Gräfin Sch., am Arme führend. Sie gibt ihm einen Wink, worauf er mit begreiflicher Verdrossenheit mich vorstellt. »Nun sagen Sie mir,« fragt sie eifrig, »was halten Sie von den ›Meistersingern‹? Wie haben sie Ihnen gefallen? Ist es nicht der Gipfel von Wagners Kunst?« Ich machte ein tiefes, tiefes Kompliment und – eilte, ohne ein Wort zu sagen, meinen Überrock auszulösen. Wenn uns von fremder Hand so ungeniert die Pistole auf die Brust gesetzt wird, dann haben wir wohl einiges Recht, dieselbe sachte wegzuschieben. Müde, hungrig, fieberhaft aufgeregt kam ich gegen Mitternacht in mein Hotel. Am andern Morgen begann ich, meine Nervosität niederkämpfend, zu schreiben. Ich bemühte mich, vollkommen gerecht zu urteilen, kann aber nicht leugnen, daß ich gerade von den »Meistersingern« heute viel besser denke als damals. Hätte ich die Oper noch einmal hören und mich wenigstens einen Tag erholen, sammeln können – es wären mir gewiß die Vorzüge des Werkes stärker, die Schatten geringer erschienen. Zwar stört mich auch heute noch das unnatürlich Erzwungene der angeblich komischen Figuren und Szenen, in welchen die vollständige Humorlosigkeit Wagners zutage kommt; desgleichen die unmäßige Länge, welche uns die Empfänglichkeit für den besten, den dritten Akt der Oper raubt. Aber die lyrischen, teils sentimentalen, teils pathetischen Partien der Oper, insbesondere die Rolle Walthers von Stolzing, stehen an Ursprünglichkeit und melodischer Schönheit obenan unter Wagners Schöpfungen. Diese Frische der musikalischen Erfindung erklärt sich wohl zum großen Teil daraus, daß die erste Konzeption der Meistersinger unmittelbar in die Zeit nach dem »Tannhäuser« fällt. Die glückliche Wahl des Stoffes, der nicht angeblich »national« wie die uns fremde Walhalla-Gesellschaft, sondern echt volkstümlich und gemütvoll ist, hatte ich, bevor die Musik dazu veröffentlicht war, schon im Jahre 1863 freudig begrüßt. Nach diesem Bekenntnis darf ich wohl ebenso aufrichtig gestehen, daß ich von meinen Kritiken der übrigen Opern Wagners kein Jota zurücknehmen könnte. Je öfter ich den »Tristan« und die »Nibelungen« gehört habe, desto mehr haben sie mich[326] gelangweilt, gequält und abgestoßen. Die »Meistersinger« höre ich gerne wieder; was ich heute von keiner andern Wagneroper sagen kann, etwa den »Tannhäuser« ausgenommen.

Meiner Reise nach Bayreuth stellten sich in letzter Stunde noch die flehentlichen Ermahnungen meines Freundes Ed. Schön entgegen, welcher, für meine persönliche Sicherheit besorgt, mich von allerlei Insulten seitens der Wagnerianer bedroht sah. Er hatte freilich ein nettes Beispiel erlebt. In einem Wiener Bierhause, im damaligen »Bürgerspital«, war er mit einigen Bekannten zusammengetroffen, zu denen sich auch ein bekannter junger Wagnerianer – heute Hofkapellmeister in einer süddeutschen Residenz – gesellte. Derselbe sagte, als zufällig die Rede auf mich kam, er würde sich gar kein Gewissen daraus machen, mich zu vergiften. Von Schön zur Rede gestellt, wiederholte er seinen Ausspruch mit der größten Unbefangenheit. Gesprochenes oder geschriebenes Gift hatte ich verdauen gelernt; ein anderes war aber in Bayreuth nicht zu fürchten. In der Tat habe ich dort nicht die mindeste Unart erfahren, es freilich auch sorgsam vermieden, durch ein Wort, eine Miene Ärgernis zu geben. Wie der Anhang des »Meisters« gegen mich gesinnt war, wußte ich genau, bekam davon auch ein ergötzliches Pröbchen. Als sehr ungenügende Vorsorge gegen die große Hungerleiderei war eine lange table d'hôte nächst dem Festspielhause gedeckt. Ich suchte dort nach einem Couvert, fand aber alle Plätze bereits belegt. Da erblickt mich Herr La Roche, ein liebenswürdiger junger Professor vom Petersburger Konservatorium, und beeilt sich, mir ein Plätzchen an einem Extratisch anzutragen, der ihm mit einigen Freunden reserviert sei. Als ich dankend annahm, fügte er noch hinzu, es sei eigentlich der Klaviervirtuose Herr Kl., welcher den Tisch bestellt habe und den er deshalb doch früher verständigen möchte – natürlich nur der Form halber. La Roche eilt in den Nebensaal und kommt nach einer Weile bleich und verlegen zurück: ich möge ihm ja nicht böse sein, aber – Herr Kl. habe erklärt, an einem Tisch mit mir würde er keinen Bissen hinunterbringen. Ich beruhigte lachend den trostlosen Vermittler und ließ Herrn Kl. den allerbesten Appetit wünschen. Nun begann ich wieder meine Entdeckungsreise um die table d'hôte herum. Da ruft jemand meinen Namen. Es war Friedrich Bodenstedt, der im Gegensatz zu Kl. meinte, es würde ihm die Bayreuther Kost in meiner Gesellschaft doch etwas besser munden. Er und eine Dame rückten, mir Platz[327] schaffend, auseinander, und ich befand mich zwischen zwei Nachbarn, wie ich sie besser nicht wünschen konnte: rechts Bodenstedt, der liebenswürdige Dichter des »Mirza-Schaffy«, zur Linken die Frau Baronin von Bronsart, welche ehedem als Fräulein Ingeborg Starck durch ihr Klavierspiel berühmt, heute mit ihren eigenen Kompositionen einen ansehnlichen Kreis von Verehrern erfreut. Indem wir, anfangs leise und behutsam tastend, unsere Eindrücke austauschten, fanden wir drei, zu meiner unaussprechlichen Freude, uns in völliger Übereinstimmung über Wagners »Nibelungen«. Insbesondere stimmte es mich ganz vergnügt, gerade in Frau Bronsart »unter Larven die einzig fühlende Brust« gefunden zu haben; sie begriff es vollständig, daß ich diese vier Festspieltage vier Martertage nannte. Unser seliges Einverständnis erhielt noch einen aparten Reiz dadurch, daß uns gerade gegenüber zwei namhafte Wagnerverehrer saßen: Hofkapellmeister Eduard Lassen und – der Gemahl meiner Nachbarin, der Hoftheater-Intendant Hans von Bronsart! Letzterer, ein feiner geistvoller Mann, hatte den charmanten Einfall, seiner Frau lächelnd zuzurufen: »Elsa, mit wem verkehrst Du?« Einer von der gewöhnlichen Wagnerianer-Sorte hätte ihr wahrscheinlich die grimmigsten Blicke zugeworfen. Mir ist das Zusammentreffen mit der so liebenswürdigen wie aufrichtigen Frau von Bronsart eine der wenigen angenehmen Erinnerungen an Bayreuth.

Mit ihrem Gemahl hatte ich mehrere Jahre später einen interessanten kurzen Briefwechsel. Er schrieb mir aus Hannover, daß das Publikum und die Journale stürmisch die Aufführung von Neßlers »Trompeter von Säckingen« verlangen, er aber, als Intendant, wehre sich seiner künstlerischen Grundsätze und wolle schlechte Musik nicht einführen. Nun habe aber eine dortige Zeitung sich auf mich berufen, der ich dem Wiener Hofoperntheater die Aufführung des »Trompeter« vorgeschlagen hätte. Ob das wirklich wahr sei? Ich antwortete mit Ja; ich war für diese von ganz Deutschland bejubelte Novität mit der Motivierung eingetreten: der berühmte »Trompeter« werde wahrscheinlich nur die Neugierde befriedigen, aber diese Neugierde sei berechtigt. »Ihre künstlerische Strenge und ideale Richtung,« so schloß ich meinen Brief an Bronsart, »sind verehrungswürdig; aber ich fürchte, Sie werden doch in den sauern Apfel beißen müssen!« Nach einigen Wochen erhielt ich wirklich von dem Intendanten die Nachricht, es sei ihm von Berlin der Befehl zugekommen, Neßlers[328] »Trompeter« in Hannover aufzuführen. »Ich habe in den sauern Apfel gebissen!« – Seit einigen Jahren leitet bekanntlich Baron Bronsart als Intendant das Hoftheater in Weimar, das ihm kunstsinnige Förderung und ein kräftiges Aufblühen verdankt.

So gut wie an jenem Mittagstisch zwischen Bodenstedt und Frau von Bronsart ist es mir nicht wieder gegangen in Bayreuth. An drei von den vier »Fest«-Tagen vermochte ich keinen Platz an irgendeiner Mittagstafel zu erringen; ich mußte mich ambulatorisch von Brot und Würsten nähren. Ein riesenstarker Wiener Instrumentenmacher eroberte mir bei »Angerer« ein Glas Bier dazu, das er mir über einen dichten Knäuel von Apostelköpfen herüberreichte. Mit Unrecht glaubten allerlei fern von Bayreuth schmausende Leute, dergleichen Schilderungen seien übertrieben. Sie waren es keineswegs. Mit köstlichem Humor erzählte Daniel Spitzer die Szene, wie man vor dem Wagnertheater einen Herrn, den man eine Buttersemmel essen sah, deshalb für den Großherzog von Weimar gehalten habe. Der elenden Verpflegung entsprach vollkommen die klägliche Unterkunft. Das kleine Bayreuth hatte in keiner Weise für diesen plötzlichen, massenhaften Andrang vorgesorgt. Durch die Freundlichkeit meines Kollegen von der »Neuen freien Presse«, Hugo Wittmann, welcher einige Tage früher eingetroffen war, konnte ich für schweres Geld ein kleines Zimmerchen in der Wohnung eines Trödlers beziehen, während Wittmann und Speidel die anstoßende Stube einnahmen. Welche Mühsal und Nervenpein, unter solchen Verhältnissen nacheinander vier große Werke – Wagnerische! – aufmerksam hören und in den Zwischenpausen darüber schreiben zu müssen, anstatt sich davon zu erholen! Nie hatte ich ähnliche Qual mitgemacht. Der Kopf drohte mir zu zerspringen, und da ich mit jedem Tag aufgeregter und gänzlich schlaflos wurde, fürchtete ich ernstlich, zu erkranken, bevor der letzte Akkord der »Götterdämmerung« ausgeklungen. Ein Stündchen ruhigen Aufatmens ward mir nur auf einem einsamen Spaziergang nach dem Gasthausgärtchen der »Frau Rollwenzel«, wo ehedem Jean Paul täglich einzukehren und zu schreiben pflegte. Ich traf dort einen andern, modernen Paul, nämlich Paul Lindau, der mich dann in die Stadt zurückbegleitete. Ich danke seiner Gesellschaft die im Nibelungennebel doppelt unschätzbare Wohltat einer geist- und lebensvollen Aufheiterung. Der Zorn über Bayreuth und die Wagnerianer entlockte Lindau ein Feuerwerk von witzigen Einfällen.[329] Ein Nachglanz davon findet sich in seinen »Nüchternen Briefen aus Bayreuth«. Von großem Interesse war mir die neue sinnreiche Einrichtung des Festspielhauses. Unser Hans Richter, dem ich es hoch anrechne, daß er bei hellichtem Tag mich durch die Straßen von Bayreuth begleitet hat, führte mich auch eines Vormittags auf die Bühne, wo ich das aus England verschriebene Scheusal, den Drachen Siegfrieds, in der Nähe betrachten durfte. Die Tieferlegung des Orchesters ist eine Wohltat, für die wir Wagner Dank schuldig sind. Sie hat nunmehr in allen Theatern Eingang gefunden. In Bayreuth sind die beiden richtigen Gedanken: Vertiefung des Orchesters und Verdunkelung des Zuschauerraums leider in der Ausführung bis zur Karikatur übertrieben worden. Die armen Musiker schwitzen, durch ein Blechdach von der Oberwelt abgesperrt, in einem schauerlichen Abgrund; ihr Ton dringt ohne Kraft, ohne Glanz zu uns empor. Die Verdunkelung des Parketts hingegen wird zur absoluten Finsternis, in welcher man nur seinen nächsten Nachbar – schlafen sieht. Für viele unserer Mode-Wagnerheuchler war dieses unbemerkte Schlummerstündchen eine unschätzbare Wohltat.

Erst am Morgen nach dem vierten Opferfest, der »Götterdämmerung«, zog wieder Hoffnung und Lebensfreude ein in meine Seele. Eine Stunde vor Abgang des Eisenbahnzugs war ich schon auf dem Bahnhof. Er wimmelte bereits von Abfahrtskandidaten. Alles wollte fort, gleich fort und mit demselben Frühzug fort. Es gelang mir mit zwei Wiener Freun den, die ich erst an der Bahnhofskasse zu Gesicht bekam – Nicolaus Dumba und Dr. Heinrich Bach – ein Coupé für uns zu erobern. Als sich der Zug in Bewegung setzte, fielen wir einander um den Hals: »Gott sei gelobt! So ist es doch erreicht – es ist aus, die Götter haben ausgedämmert, und wir sind der Erde wiedergegeben!« Wir fuhren zusammen bis Regensburg, wo ein, in Ruhe genossenes, gutes Mittagessen, ein Gang durch die Stadt und ein Bad in der Donau uns erquickten. Hier trennte ich mich von den Freunden, um die Nacht durch nach Linz zu fahren, wo ich mit meiner Frau zusammentreffen sollte. O doppelt glückliches Wiedersehen!

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 325-330.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Geistliche Oden und Lieder

Geistliche Oden und Lieder

Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon