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[330] Im Frühjahr 1878 wurde ich von der österreichischen Regierung als musikalischer Juror zur Weltausstellung nach Paris gesandt. Es[330] war die vierte Weltausstellung, die ich in offizieller Eigenschaft mitgemacht habe. Meinen Lesern die angenehme Versicherung, daß ich von der eigentlichen »Exposition« so gut wie gar nicht sprechen werde! Aber einiges, was nebenher ging, zählt zu meinen interessantesten Erinnerungen und mag darum hier Platz finden.

Bei unserer ersten Jurysitzung erschien, von uns allen freudig begrüßt – Liszt. Ich benützte den Moment rasch zu dem Antrag, unsere Jury möchte Liszt mit Akklamation zum Ehrenpräsidenten ernennen. Das geschah auch sofort und schien ihn zu freuen. Wirklicher Präsident war Gevaert, der gelehrte und geistreiche Direktor des Brüsseler Konservatoriums; mich hatte man zum Vizepräsidenten gewählt, den Bibliothekar des Pariser Konservatoriums Chouquet zum Berichterstatter. Daß das Land Ungarn für seine wenigen Musikinstrumente einen eigenen Juror und obendrein keinen Geringeren als Liszt nach Paris entsendete, klang ein wenig komisch, machte sich aber gut. Einen so großen Herrn hatte kein anderes Land auszuspielen. Die Nachricht klang ungefähr, als sei unser Kaiser (wie das in einigen Landgemeinden wirklich vorgekommen) zum Reichsratsabgeordneten gewählt worden. Viel praktischer Nutzen sah dabei freilich nicht heraus. Zum Musikfest nach Erfurt eilend, konnte Liszt nur die erste Sitzung unserer Jury und zwei flüchtige Promenaden durch die Reihen der ausgestellten Instrumente mitmachen. Aber auch bei längerem Verweilen wäre dieser berühmte Musiker kaum der passendste Juror gewesen – eben wegen seiner Berühmtheit. Sein Ausspruch über den Wert oder Unwert eines Instruments hätte mit unerwünschtem Gewicht auf die ganze Jury gedrückt. Und weil er dieser Wirkung sich wohl bewußt war, hielt er mit dem Urteil diplomatisch zurück. Er wußte, daß dieser, von hundert Lippen weitergetragen, Regen und Sonnenschein machte, ja daß der Sonnenschein seines Lobes gleichzeitig zum schädlichsten Regenguß für die Mitbewerber des Gelobten werden konnte. Den Klavierfabrikanten gegenüber sah sich Liszt geradezu in der delikaten Stellung eines Monarchen. Und als einer der wohlwollendsten Monarchen vermied er jedes vielleicht folgenschwere Wort. So schritt er denn mit uns und spendete, ohne selbst ein Instrument zu probieren, hier ein aufmunterndes Wort, dort ein freundliches Lächeln. Wir waren nicht lange gegangen, als unser kleiner Zug eine ansehnliche Verlängerung zeigte. Immer mehr[331] und mehr Menschen hängten sich an unsere Fersen, und jeden Augenblick mußte ich die höfliche Frage irgendeines Fremden beantworten: »De grâce, Monsieur, n'est-ce pas Litz?« Denn »Litz« und nicht anders sprechen alle Franzosen den Namen aus, mit dessen ungarischem sz sie nichts anzufangen wissen. Aus den Bildnissen wenigstens kannte jedermann die hagere Figur im Abbékleid und breiträndigen Hut, den scharfgeschnittenen, von weißen Mähnen so charakteristisch eingerahmten Jupiterkopf. Liszt war seiner Zeit unstreitig die bekannteste Persönlichkeit in Europa. Gegen die Mittagsstunde hielt er etwas ermüdet still und gestand, er würde jetzt Messer und Gabel für die preiswürdigsten Instrumente halten. Gerne folgten wir seiner Einladung zu einem Frühstück in der ungarischen »Czarda« im Ausstellungspark. Der sonnverbrannte Wirt lachte vergnügt unter seinem spitz aufgedrehten Schnurrbart, der Koch tat sein Bestes, die musizierenden Zigeuner desgleichen, und so erfreuten wir uns denn bald der vergnügtesten Behaglichkeit. Selten habe ich Liszt so aufgeräumt und mitteilsam gesehen – so liebenswürdig möchte ich sagen, hätte ich ihn je anders als liebenswürdig gekannt. Nach Jahren der Entfernung erfuhr ich unverändert wieder die faszinierende Gewalt seiner Persönlichkeit. Er erinnerte sich eines ungezwungenen Soupers, zu dem im Jahre 1858 einige Musiker in Wien ihn gebeten hatten, und wie er da vom Klavier das vierhändige »Divertissement hongrois« von Schubert nahm und aufs Pult legte: »Nun, meine Herrn, wer wills mit mir spielen?« Wir alle traten bescheiden zurück, keiner wollte dem andern die Ehre vorwegnehmen. Nachdem das Deprezieren fortdauerte, tat mir's doch zu leid, daß ich um die niemals wiederkehrende Gelegenheit kommen sollte, mit Liszt vierhändig zu spielen, und da noch immer niemand heranwollte, – meldete ich mich. »Bravo,« rief Liszt, »aber der Kritik gebührt neben der Produktion doch nur die zweite Rolle, nicht wahr? Spielen Sie also den Sekond!« Leicht hat er mir's nicht gemacht, das darf ich sagen. War es der künstlerische Übermut oder ein bißchen Bosheit, was ihn antrieb – Liszt spielte nicht bloß ausgelassen frei im Takt, er improvisierte auch, nach Zigeunerart, ganz wundervoll lange Schnörkel, Passagen, Trillerketten, Kadenzen, wie und wo es ihm einfiel. Zum Glück kannte ich das Stück so gut, daß ich nur auf sein Spiel aufzupassen hatte, nicht auf die Noten. So ward mir denn eine unvergeßliche Erinnerung fürs ganze Leben und dazu der[332] freundliche Lobspruch von Liszt, daß ich mich »nicht habe aus dem Sattel werfen lassen.« Noch an manches andere Wiener Intermezzo erinnerte sich Liszt in der Czarda, indem er aus einer Flasche roten Ungarweins sich und mir tapfer einschenkte. Mit ihm konnte man stundenlang verkehren, ohne Besorgnis, er werde disharmonische Saiten berühren, an Meinungsverschiedenheiten Ärgernis nehmen oder geben. Er hatte die Gabe und das Verdienst, die aufrichtige Zuneigung selbst solcher zu gewinnen, die seinen Kompositionen unverhohlen Opposition machten. Zum Schluß gab es noch ein recht komisches Nachspiel. Liszt, der einen Besuch vorhatte, empfahl sich herzlich von uns, indem er dem Violinvirtuosen Reményi im Abgehen zurief: »Lieber Reményi, begleichen Sie die ganze Rechnung!« Liszt war lange verschwunden, als sein treuer Reményi ihm noch verdutzt nachblickte und dann mezza voce zu räsonieren begann: »Ja, wenn's zum Zahlen kommt, da heißt es immer: Lieber Reményi, bringen Sie das in Ordnung! Er ist immer der Souverän, der um solche Kleinigkeiten sich nicht kümmert, sehr begreiflich, aber aus meiner leeren Tasche kann ich gar nichts ›in Ordnung bringen‹.« Natürlich faßten wir die Sache von ihrer heiteren, naiven Seite, und ein freundlicher Wiener Künstler hatte im stillen schon die Rolle des »lieben Reményi« übernommen, bevor wir noch unsere Brieftaschen hervorlangen konnten.

Auf die Arbeiten der Weltausstellung hat Liszt nicht den mindesten Einfluß gehabt; er kam und ging als ein glänzendes Schaustück. Für mich aber waren die drei Tage unter seinem Ehrenpräsidium die fröhlichsten und friedlichsten der ganzen Pariser Juryzeit. Von Paris nahm ich die glücklichste Erinnerung an den seltenen Mann nach Hause, der, ungebeugt von der Last der Jahre wie des Ruhmes, auch einmal zur Abwechslung Juror spielte und dies so, wie eben nur Liszt spielt. Am letzten Tage gab mir Liszt noch ein Rendezvous in der französischen Gemäldeausstellung, die er besichtigen wollte, und ersuchte mich, meine Frau mitzubringen. Gegen Damen erschien seine Liebenswürdigkeit erst recht bezaubernd in ihrer Mischung von weltlicher Galanterie und geistlicher Würde. Liszt überraschte mich mit dem Versprechen, uns im Winter in Wien zu besuchen. Monate waren verstrichen, und ich hatte nicht geglaubt, daß er sich dieser Zusage erinnern würde: da trat er wirklich bei uns ein, plauderte ein Weilchen und forderte dann meine Frau zum Singen auf. Sie wählte das einfachste[333] und darum beste seiner Lieder: »Es muß ein Wunderbares sein« und sang es ihm zu Dank. So bewahrt sie denn gleich mir die schöne Erinnerung, mit Liszt musiziert zu haben.

Eine merkwürdige Begegnung war mir noch vorbehalten. Auf unserem Prüfungsrundgang bei den Klavieren der Firma Herz angelangt, stellte sich ein elegant gekleideter Herr mir vor: Henri Herz. »Ist es möglich,« rief ich unwillkürlich, »Sie sind Henri Herz, derselbe Henri Herz ...?« Ich glaubte ihn längst verstorben; schon als kleiner Junge hatte ich seine Stücke gespielt und war jetzt selbst kein Jüngling mehr. In der ersten Lateinklasse kannte ich schon die scherzhafte Übersetzung: »Variatio cor meum delectat – Die Variationen von Herz delektieren mich sehr.« Und nun stand die fragwürdige Gestalt leibhaftig vor mir! Das Komponieren hatte Henri Herz aufgegeben – weder er noch die Konzertgeber hatten es mehr nötig; er betrieb jetzt die Klavierfabrikation oder gab wenigstens seinen Namen dazu. Merkwürdigerweise ist der jetzt überwundene Kultus seichter, eleganter Fingerfertigkeit hauptsächlich von drei in Frankreich naturalisierten Deutschen betrieben worden: von dem Kasseler Kalkbrenner, dem Koblenzer Hünten und dem Wiener Henri Herz, die sämtlich auf dem Pariser Konservatorium ihre Ausbildung erhalten haben. Diese drei sind die eigentlichen Vertreter jener gehaltlosen, äußerlich glänzenden Klaviermusik gewesen, welche zwanzig Jahre lang von Paris aus die musikalische Welt beherrschte. Alle drei sind hochbetagt und reich gestorben, viel später als ihre Kompositionen. Henri Herz schenkte mir, vielleicht aus Rührung darüber, daß er zu meinen Jugenderinnerungen gehörte, – seine Photographie. Neues Erstaunen meinerseits. Das Bildchen zeigte ja einen Mann von höchstens vierzig Jahren! Ich meinte, es sei wohl ein Porträt aus früherer Zeit? »Ist es nicht ähnlich?« fragte er zurück; »es ist das letzte, das ich machen ließ.« Und der eitle Mann zählte über zweiundsiebzig Jahre! Gefreut hat es mich übrigens, so ganz gegen alles Vermuten Henri Herz noch gesehen zu haben. Nach dieser Überraschung hätte ich mich nicht sonderlich gewundert, hätte man mir auf der Promenade jemanden als den Großvater Alexander von Humboldts gezeigt.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 330-334.
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