4

[341] Seit fünfundzwanzig Jahren findet mich jeder Sommer in einem Badeorte. Anfangs schickten mich die Ärzte nach Marienbad und zu meinen ersten Erinnerungen daran gehört, daß ich nach einem Zimmer suchend, auf dem höher gelegenen Kirchenplatz an dem Hause »zur goldenen Traube« eine Gedenktafel erblickte: »Hier wohnte Goethe im Jahre 1824«. Sofort trat ich ein, denn nirgend schien mir schöner zu wohnen als in dem Hause, wo die »Marienbader Elegie« gedichtet worden ist. Und da steht auch noch schräg gegenüber die »Stadt Weimar«, wo die schöne junge Ulrike von Levetzow gewohnt und das Herz des alten Goethe entzündet hatte. Ich fand ein hübsches Zimmer frei und bin kein einziges Mal nach Haus gekommen, ohne mir zu sagen: über diese Schwelle ist auch Er täglich geschritten!

Eines Tages sehe ich vom Fenster aus einen stämmigen, kleinen Mann auf das Goethehaus zuschreiten, den ich nach den Bildnissen gleich als Berthold Auerbach erkannte. Richtig kommt er zu mir herauf. Diese Liebenswürdigkeit freute und überraschte[341] mich um so mehr, als ich nicht vermutet hätte, von Auerbach gekannt zu sein. Ihm selbst war ich von Jugend auf für seine »Schwarzwälder Dorfgeschichten« innig zugetan. Der persönliche Verkehr konnte meine Zuneigung nur erhöhen und befestigen. Die derbe, untersetzte Gestalt verriet feste Tüchtigkeit, das breite, rosig angehauchte Gesicht glänzte von Wohlwollen. Die schwäbische Mundart vollendete den Eindruck des gemütvoll Treuherzigen. Und seine oft getadelte, gerade ihm so sehr verargte Eitelkeit? Ich wollte, alle eitlen Schriftsteller und Künstler würden diese verzeihliche Schwäche so harmlos verraten wie Auerbach! Seine Eitelkeit äußerte sich in der naiven, dankbaren Freude über ein ihm gespendetes Lob, das er keineswegs wie einen schuldigen Tribut herablassend einstrich. Das hat nichts Verletzendes; mir war es tausendmal sympathischer, als das ununterbrochen selbstbewundernde Pontifizieren Hebbels oder Wagners gehässiges Verurteilen aller lebenden Komponisten. Auerbach gefiel sich nie im Herabsetzen anderer erfolgreicher Schriftsteller. Unter den gelesensten, beliebtesten Autoren stand er obenan in Deutschland; die Liebe des Publikums äußerte sich aber sehr platonisch. Er hat nie die geringste Liebesgabe erhalten von seinen zahlreichen Verehrern. »Wie hätte es mich gefreut, würde meine Verherrlichung der Rheingegend (›das Landhaus am Rhein‹) einen dortigen Leser angeregt haben, mir ein paar Flaschen guten Rheinweins zu schicken! Und von meinen ›Verehrern‹ in Amerika erhalte ich Hunderte von Bettelbriefen um ein Autograph, aber nie auch nur eine einzige Havannazigarre.« Pünktlich holte mich Auerbach jeden Tag zum gemeinsamen Mittagessen ab. Er blieb vor dem Goethehaus stehen, rief meinen Namen oder tat auch nur einen »Juchzer«, und ich eilte hinab. In einem großen, gedeckten Gartenpavillon der »Stadt Warschau« hatten wir uns installiert. Auerbach aß und trank äußerst mäßig; ein halb Seidel Tischwein genügte ihm. War er besonders gut aufgelegt, so sprach er sich zu: »Berthold, kauf' dir noch ein halbes Seidel!«, und dann folgte Berthold. – Nachmittags machten wir stets einen Spaziergang durch eine der köstlichen Waldpartien, von denen Marienbad rings umkränzt ist. Auerbach kannte alle Bäume und ihre Eigentümlichkeiten; für seinen Roman »Der Forstmeister« hatte er diese Kenntnisse gesammelt. Auch jeden Vogel kannte er und wußte dessen Gesang nachzuahmen. Auf diesen Spaziergängen blühte er auf in munterer Laune, begann oft wie ein Schuljunge[342] zu laufen oder zu springen. Meine Frau, die von dem nahen Franzensbad wenigstens einmal in der Woche herüberkam, erfreute sich Auerbachs besonderer Sympathie, erhielt auch einen sehr herzlichen Brief von ihm. Da feierten wir einmal in der schön gelegenen »Bellevue« ein heiteres Mittagmahl, an dem außer Auerbach noch Julius Rodenberg und Gustav von Putlitz samt Gemahlin teilnahmen. Auerbach ließ es sich auch nicht nehmen, mich zu Frau Livia Frege zu führen, der von Mendelssohn und Schumann einst hochgeschätzten Sängerin. Den Namen hatte ich in Schumanns Schriften stets mit einer Art romantischer Ehrfurcht gelesen; nun wurde mir auch die etwas späte Freude persönlicher Bekanntschaft. Auerbach selbst war nicht musikalisch, liebte aber gute Musik, vor allem Mozartsche. In seinem Roman »Auf der Höhe« ist es ein feiner, tief verständnisvoller Zug, daß die unglückliche Irma, als sie auf ihrem letzten flüchtigen Besuch in der Stadt sich noch einmal an Musik laben will, gerade die »Zauberflöte« hört. »Mozarts Zauberflöte,« so lauten Auerbachs Worte, »ist eine jener ewigen Schöpfungen, die im Jenseits aller Leidenschaften und alles Menschenkampfes steht. Ich habe es oft gehört, wie kindisch dieser Text sei, aber auf dieser Höhe kann alle Handlung, alles Geschehene, alle Menschenerscheinung, alle Umgebung nur noch allegorisch sein. Die Schwere und Begrenztheit ist abgestreift, der Mensch wird zum Vogel, zum reinen Naturleben, er wird zur Liebe, wird zur Weisheit.« Am 28. Januar 1880 schrieb mir Auerbach: »Am Neujahrstag hatte ich die ›Zauberflöte‹ gehört, um mich für den neuen Lebensabschnitt zu erlaben. Von allem Anderen abgesehen, wird je ein Mensch eine Richard Wagnersche Oper hören, um sich für einen neuen Ausschritt zu reinigen und zu weihen? Ich schreibe Ihnen heute am hundertsten Geburtstage Mozarts; ich werde heute Abend die C-dur-Sinfonie mit der Schlußfuge hören, und ich weiß im voraus, ich werde wieder empfinden, was ich den Lenz im ›Edelweiß‹ aussprechen ließ: ›Ich möchte dem Manne in den Himmel hinein 'was Gutes tun können!‹ – Ja, man pessimiere die Welt wie man wolle, es bleibt doch groß, daß es schöpferische Geister gab von ewig gleicher erquickender Temperatur und daß zwei Menschen wie wir, der eine voll erkennend, der andere nur andächtig – aber das bleibt sich gleich – sich an solchem Ausstrom neu beleben.« Das Wort »warmherzig«, das Auerbach oft und gern anbringt, paßte auf ihn selbst mehr als auf irgendwen.[343] Er besaß ein warmes Herz und ein wohlwollendes, kindliches Gemüt. Am Abend vor meiner Abreise bemerkte ich, wie Auerbach, seine Zigarre hervorlangend, vergebens nach Zündhölzchen herumsuchte. Ich besaß ein sehr niedliches, silbernes Etui mit Wachslichtchen und bat ihn, es zum Andenken zu behalten. Nun hätte man die Freude und die Überraschung des Mannes sehen müssen! Als wäre ihm das kostbarste Juwel geschenkt worden. Er schrieb mir noch an seinem »letzten Marienbader Tag«, den 27. Juni 1879, nach Wien: »Unter dem Tausenderlei, was wir so herzinnig besprochen haben, war auch, daß man mit freier Seele Geschenke empfangen muß; natürlich kommt es darauf an, welcher Blick des Gebers auf dem Gebotenen geruht hat, und der sieht uns fast immer wieder an. So empfange ich, mein herzlieber Freund, Ihr mit Ihrem Namen versehenes Taschenfeuerzeug mit wahrer Freude, und wenn ich anzünde, wird mir oft und oft ein Freudenlicht aufgehen. Ja, es war echt in sich und ist darum lebensdauernd, wie wir uns gefunden und gehalten. Ich meine, ich kann Ihnen gar nichts mehr schreiben, denn alles ist gewußt. Ich habe, seitdem Sie fort sind, auf öfteren Waldwegen mit meiner Freundin Livia Frege das Gedenken und das Gefühl lichter Jugendzeit erneuert, und vor einigen Tagen und gestern wieder hat die so rein Gediegene mir mit leiser Stimme Eichendorff-Franzsche Lieder im Walde gesungen. (Pause. Ich habe mir soeben eine frische Zigarre mit Ihrem Feuerzeug angezündet.) Mir ist, indem ich an Sie schreibe, als könnte ich stets so fortreden wie auf unseren Wanderungen unter den Tannen. Jetzt aber höre ich auf zu schreiben, aber ich höre nie auf, Ihrer und Ihrer lieben Frau mit Wärme zu gedenken und rufe Euch nur noch einmal zu: Haltet Euch oben! Euer Berthold Auerbach.«

Immer darauf bedacht, Andern eine Freude zu bereiten, schrieb mir Auerbach im Herbst 1881, ich möchte doch nicht vergessen, daß am 24. Oktober Ferdinand Hiller seinen siebzigsten Geburtstag feiere und erfreut wäre, von Wien aus ein Zeichen teilnehmender Anhänglichkeit zu erhalten. Mit Hülfe Brahms' brachte ich auch einige Musikfreunde zusammen, die dem verehrten, bereits sehr leidenden Hiller einen Lorbeerkranz samt Glückwunschadresse, nach Köln schickten. Auerbach selbst mußte in seinen letzten Jahren viel Bitternis erleben. Die antisemitische Bewegung, die in Berlin so häßlich aufzuzischen begann, verwundete sein Gemüt aufs tiefste. Er, der Dichter der[344] Schwarzwälder Dorfgeschichten, einer der echtesten Lieblinge des deutschen Volkes, sollte fortan als ein »Fremder«, als »Eindringling« gelten? Das nagte an seinem Leben. Er hatte in Marienbad scherzend prophezeit, er werde zuverlässig das Alter Goethes erreichen, und nach seiner Rüstigkeit und Frohnatur schien des recht wahrscheinlich. Aber als man in Berlin und in seiner Heimat Vorbereitungen traf zur Feier seines siebzigsten Geburtstags, lag er bereits todkrank, ein aufgegebener Mann, in Cannes. Er starb im Jahre 1882 und wurde in seinem schwäbischen Heimatsdorf Nordstetten begraben. Sein großer Landsmann Friedrich Vischer sprach wahre, gedankenreiche Worte am offenen Grabe. Warum konnte der »Schöpfer der lebenswahren Idylle« sie nicht mehr hören! Es gab wohl keinen in Deutschland, der nicht trauerte um den Verlust dieses edlen, gemütstiefen Schriftstellers. Mir ist in Auerbach mehr verloren gegangen: der Mensch. Im Verkehr von einigen Frühlingswochen war er mir lieb und vertraut geworden, wie ein alter Freund.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 341-345.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon