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[345] Nach Karlsbad komme ich alljährlich in der ersten Hälfte des Mai. Das rauhere Klima Nordböhmens bietet um diese Zeit dem Wiener eine fröhliche Überraschung: wir erfreuen uns hier an den ersten schüchternen Knospen des Flieders und der Kastanienbäume, nachdem wir schon acht Tage vorher in Wien die letzten dieser blauen und rötlichweißen Frühlingsfähnchen herabfallen gesehen. So erlebt man in Karlsbad eine zweite Blütenzeit, ein da capo des Lenzes. Nach einem arbeitsvollen Winter welch erquickende Erholung! Das Badeleben ist beschäftigter und pflichtgemäßer Müßiggang, der einzige also, der keinerlei Anlaß zu Selbstvorwürfen gibt. Man hat eigentlich nichts zu tun und erübrigt trotzdem keine freie Zeit.

Mir ward ganz seltsam zumute, als ich zum erstenmale eigenberechtigt, als wirklicher Kurgast, in Karlsbad einzog. Wieviel hatten wir als Kinder von Karlsbad erzählen gehört, andächtig lauschend, wenn der Vater die Wundererscheinung des Sprudels schilderte: daß alle Gegenstände sich darin versteinern und man das siedend heiße Wasser trinke, um gesund zu werden. Später hat auch meine Mutter Karlsbad gebraucht, und ich durfte nach glücklich abgelegten Prüfungen sie dort besuchen. Daß ich damals[345] den greisen Dichter Tiedge kennengelernt, der im selben Hause »Zum Freischützen« wohnte, habe ich bereits erwähnt. Auch Schelling sah ich manchmal, wollte aber anfangs nicht recht glauben, daß der Mann mit dem flachen, breiten Gesicht, dem großen Mund und den wasserhellen Äuglein wirklich der berühmte Philosoph sei. Es war ein stereotyper Witz von ihm, daß wir in Karlsbad »alle zur peripatetischen Schule gehören«, von wegen des vorgeschriebenen Spazierengehens. Nun wurde ich – auch darin der rechte Sohn meines Vaters – schließlich selbst nach Karlsbad geschickt. Kein Wunder, daß ich es sehr verändert fand. Großstädtischer, prächtiger geworden, aber nicht mehr so anmutend idyllisch. Statt der früheren, schäbigen Holzgalerie, in der sich die Gäste des Mühlbrunnens und des Sprudels drängen mußten, große Hallen aus Eisen- und Glaskonstruktion; ganz neue Straßen, wie die Park- und die Gartenstraße, wo damals noch der Wald gestanden; auf den Anhöhen riesig hohe Hotels, die hochmütig herabschauen auf das alte Karlsbad. Die Kultur, die unbekümmert um die Poesie des Ortes, überall gewaltsam wirtschaftet, hat wenigstens die vielen Waldwege, diesen Segen Karlsbads, geebnet. Wie zahlreiche alte Häuser, so sind auch manche charakteristische Schilder verschwunden. So hieß ehedem ein Haus »zur Unmöglichkeit«; ein Bild über dem Haustor zeigte einen Schiffer, der mit seinem Kahne einen Berg hinauf rudern will! Mich hat das Kapitel der Hausschilder stets sehr interessiert und da in Karlsbad jedes Haus, zur leichteren Auffindung für die Fremden, vorschriftsmäßig einen eigenen Namen haben muß, so fehlt es nicht an unterhaltender Beobachtung. Die patriarchalischen Benennungen aus der Tierwelt verschwinden bereits aus jedem modernen Ort: Zum Löwen, zum Bären, zum goldenen Fasan, zum weißen Wolf usw. Ebenso die landschaftlichen Schilder; man ist sicher, daß es ein altes Haus ist, das zum grünen Baum, zur blauen Traube, zum roten Apfel, zur Sonne, zum Mondschein heißt. Gleichfalls alt, wenngleich schon etwas moderner, sind Benennungen nach großen Städten: Zur Stadt London, Stadt Paris, Wien, Berlin. Als der Vorrat an Großstädten erchöpft war, wurden auch kleinere Orte, besonders malerischromantische, der gleichen Ehre teilhaftig. Da wirkt es denn komisch, in den entlegensten, ärmlichsten Stadtteilen kleine Häuschen mit den Aufschriften: Genfer See, Como, Venedig usw. prangen zu sehen. Am interessantesten sind die historischen[346] Schilder, an denen man mit ziemlicher Bestimmtheit das Alter ablesen kann: »Zu den drei Alliierten«, »zum Fürsten Blücher«, »zum General Laudon« usw. Sie werden leider immer seltener. Mitunter schweifen sie auch auf literarisches oder musikalisches Gebiet: die Häuser »Zum Freischütz«, »Zur Jenny Lind«, »Zum Propheten« weisen deutlich auf die Zeit, da jene Kunsterscheinungen eben Mode waren. Die Haustafeln neuesten Datums prunken gern mit literarischer Bildung; in den jüngsten Karlsbader Straßen stehen nebeneinander Goethe, Schiller, Uhland, Humboldt, Lord Byron, Beethoven. Sogar in die allerneueste Literatur versetzt uns ein »Haus Wilbrandt«! –

Wenn ich morgens vom Frühstück im »Jägerhaus« den Waldweg herabging, pflegte mir Heinrich Laube zu begegnen, der – schon etwas mühsam – hinaufstieg. – »Sagen Sie mir«, rief er mit seiner treuherzig derben Stimme, »ist's denn wirklich der Mühe wert, das Leben noch so weiter fortzuschleppen?« Er war durch volle vierzig Jahre alljährlich nach Karlsbad gegangen. Ein einziger ständiger Kurgast war noch älteren Datums, der achtzigjährige Fürst Camill Rohan aus Prag, welcher regelmäßig am ersten Mai jedes Jahres eintraf. Als er das erstemal ausblieb, wußte man, er sei gestorben. Alle Welt kannte den kleinen rüstigen Mann, der leicht und munter, ein befiedertes Tirolerhütchen auf dem Kopfe, jeden Morgen seinen Sprudelbecher füllte und ebenso munter nachmittags auf der Promenade sich bewegte, nun mit anderer, zylindrisch ernsthafter Kopfbedeckung. Wie Fürst Rohan, so war auch Laube eine wandelnde Reklame für die konservierende Kraft Karlsbads. Zuletzt traf ich ihn, den Sechsundsiebzigjährigen, ein Jahr vor seinem Tode in Karlsbad. Ich besuchte ihn einigemale in seiner grünbewachsenen Laube an der Schloßbergpromenade, wo er im bequemen Fauteuil, oft in Gesellschaft der schönen, ihm herzlich anhänglichen Katharina Schratt, sein Frühstück einnahm. Während seiner letzten Sommeraufenthalte in Karlsbad schrieb Laube einige kleine Erzählungen, die bei aller Harmlosigkeit doch den Mann von Geist nicht verkennen ließen. (»Blond muß sie sein« u.a.) »Das geht noch zur Not; für strammen dramatischen Dialog habe ich nicht mehr die Kraft.« Laube, dessen knorriges, kurz angebundenes Wesen manchen zurückschreckte, übte auf mich eine besondere Anziehungskraft; wußte ich doch, daß er bei aller Bärbeißigkeit aufrichtig und wohlwollend war. Mir persönlich besonders wohlwollend, was mich[347] nicht weniger erfreute als überraschte. Obgleich unmusikalisch, war er ein eifriger und sehr nachsichtiger Leser meiner Feuilletons und machte mir eines Tages alle Schauspielreferenten zu Feinden, indem er in seinem Buch »Das Wiener Stadttheater« mich ihnen als Vorbild hinstellte, das »eine Schule bilden sollte für Theaterkritik«. Unter die Versäumnisse, die ich in meinem Leben zu bereuen habe, gehört es auch, daß ich – aus Mangel an Zeit wie an Zudringlichkeit – Laube so selten in Wien aufgesucht habe. Ich hätte aus seinem Gespräche mehr lernen können als aus den Büchern, die vor mir aufgestapelt lagen. »Weshalb,« schnauzte er mich einmal an, »sind Sie nicht Direktor des Hofoperntheaters geworden? Ich weiß, daß man bei Ihnen vertraulich angefragt hat, als man nach einem Nachfolger des unmöglichen Salvi ausblickte. Sie hätten das ganz gut verstanden.« – »Am Schreibtisch vielleicht; aber dem Theatervolk würde ich nicht imponiert haben.« – »Man imponiert den Schauspielern immer durch überlegene Intelligenz!« – »Nein, mein verehrter Direktor – zu der überlegenen Intelligenz gehören noch starke Nerven und eine Kommandostimme; ich verstehe nicht zu befehlen.«

Laube besaß alle diese Eigenschaften und sein Gegner Dingelstedt gleichfalls. Beide waren vortreffliche Theaterdirektoren, das konnten selbst ihre Mißgönner nicht bestreiten – aber jederzeit waren sie von der einen Hälfte ihrer Künstler hochgeehrt, von der anderen bitter gehaßt. Entscheidend war den Schauspielern immer nur, ob sie sich vom Direktor »gerecht behandelt« (d.h. mit den besten Rollen bedacht) sahen oder »ungerecht zurückgesetzt«. Über diesen rein persönlichen, egoistischen Standpunkt kommt kein Schauspieler hinweg, vollends keine Schauspielerin. Sehr hervorragende Burgschauspieler hörte ich über die Abdankung Laubes jubeln und den Antritt Dingelstedts preisen; später haben sie über den Abgang des letzteren ebenso triumphiert. Bedauerlich war der Antagonismus der beiden im gleichen Fach so verdienstvollen Männer. Laube wurde nicht müde, sich über die »empörende Frivolität des Hofmannes Dingelstedt« zu ärgern, während dieser die »Pedanterie und Ungeschliffenheit« des anderen verspottete. Als wir den siebzigsten Geburtstag Laubes feierten, hatte Dingelstedt nicht soviel Selbstüberwindung, dem Festbankette beizuwohnen. Ja, mit Ausnahme Lewinskys, der mit dankbarer Treue an Laube hing, blieben alle Burgschauspieler, aus Furcht vor Dingelstedt, dem Feste fern. Auch Dingelstedt[348] war ein ständiger Karlsbader Gast. Im Jahre 1880 weilte er dort zum letztenmale, menschenscheu, vergrämt, von der Axt des Todes bereits gezeichnet wie ein zum Fällen vorausbestimmter hoher Stamm. Im Sommer darauf fehlte zum erstenmale seine stereotype Bestellung eines Zimmers »mit sehr langem Bett«. Laube folgte ihm 1884 ins Jenseits, wo sie einander hoffentlich nicht begegnen werden. – Manche andere literarische Notabilität traf ich in Karlsbad. Von meiner Wohnung im »Kolumbus« konnte ich zu Freund Rodenberg hinübersprechen, der – leider nur dies eine Mal – mit Frau und Tochter im »Bernhard-Haus« wohnte. Mancher Spaziergang mit Rodenbergs gewann erfreuliche Bereicherung durch Friedrich Spielhagen und den Weimarschen Intendanten Baron Loën.

Eines Morgens besuchten mich zwei in der Musikwelt wohlbekannte Männer von höchst kontrastierendem Aussehen. Der eine von schlanker Gestalt und eleganter Haltung, scharfen blauen Augen unter graublondem, militärisch kurzgeschnittenem Haar: der berühmte Musikverleger Fritz Simrock aus Berlin, ein Neffe des rheinischen Dichters Karl Simrock. Sein Begleiter eigentümlich wild, eckig und verlegen; unter einer niedrigen, sehr breiten Stirn glühten zwei kohlschwarze Augen; struppiges dunkles Haar und stark vorstehende Backenknochen gaben ihm ein kosakisches Aussehen. Es war der Komponist Anton Dvořák aus Prag, eines der kräftigsten, originellsten Talente, die wir gegenwärtig besitzen. Simrock hatte ihn für einen Tag nach Karlsbad eingeladen, und diesen Tag wußten wir musikalisch aufs beste auszunützen. Dvořák brachte das Manuskript seiner ersten Sinfonie und seiner »Legenden« mit. Wir spielten beide Kompositionen vierhändig und erfreuten uns an ihrer Frische und ihrem Ideenreichtum. Ein dankbares, kindliches Gemüt, war Dvořák der Förderung eingedenk geblieben, die ich seinen Anfängen geleistet, und widmete mir die »Legenden«. Simrocks guter Humor hat mir noch in den folgenden Jahren manchen trostlosen »Gänsemarsch« zum Schloßbrunnen versüßt, den wir unter Regenschirmen zwischen polnischen Juden langsam und geduldig aushalten mußten.

Auch Albert Niemann, den unvergleichlichen Tannhäuser, und seine geniale kleine Frau (Hedwig Raabe) sah ich zu meiner Freude in Karlsbad wieder. Unter den ständigen Gästen am Kaffeetischchen auf der »alten Wiese« fehlte auch niemals der achtzigjährige[349] Graf Edmund Zichy mit dem mächtigen, edlen Kopfe und weißen Patriarchenbarte. »Wissen Sie noch, lieber Hanslick, wann wir uns zum erstenmale gesehen haben? Es ist sehr lange her, aber ich habe ein sehr gutes Gedächtnis: in Pest, im Jahre 1846!« – »Entschuldigung, Excellenz, ich habe Pest erst viel später kennengelernt.« – »Nein, ich weiß es doch genau; Sie haben damals ein Violinkonzert gegeben!« – »Ich habe leider niemals Violine gespielt.« – »Wirklich? Ist das möglich? Nun, dann wirds wohl der Hellmesberger gewesen sein.« – »Sehr wahrscheinlich.« – In Karlsbad wurde es mir immer ganz heiter zumute wie bei plötzlich hervorbrechendem Sonnenscheine, wenn es hieß: Julius Stettenheim ist angekommen! Der berühmte Erfinder des »Herrn Wippchen in Bernau« hat vor den meisten witzigen Geistern zwei höchst wertvolle Dinge voraus: erstens, daß er mit sechzig Jahren noch immer witzig ist und voll sprudelnder Einfälle; sodann, daß er seinen Witz nie tödlich zuspitzt, niemals in Gift taucht. Er ist der liebenswürdigste Humorist, der Mann des vergnüglichen, versöhnten Humors, des geistreichen Lachens. Dabei gar nicht knickerig mit seinem Witz wie die meisten seiner Kollegen, welche im Gespräche jeden guten Einfall hinabschlucken, damit er unberührt für die Zeitung verbleibe. Zu letzterer Menschenart gehörte der geistreiche »Wiener Spaziergänger« Daniel Spitzer; mit Begierde schlürfte man seine witzigen Feuilletons, mit Resignation langweilte man sich in seiner stummen Gesellschaft. Stettenheim hingegen würzt mit seinem Humor jeden Spaziergang, jedes Mahl. Er gehört zu Karlsbad wie der schäumende Sprudel und ist selber einer. –

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 345-350.
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