5

[265] An Sonntagen kam ich häufig zu Offenbach, wo ich bei einem einfachen Mittagstisch fast regelmäßig Fr. Gevaert, den gegenwärtigen Direktor des Brüsseler Konservatoriums, dann den Pariser Journalisten Albert Wolff und Friedrich Uhl aus Wien traf. In Offenbachs Hause war nichts von der »Frivolität« zu spüren, die man stets in Verbindung mit seinem Namen bringt. Er machte als guter Hausvater im Kreise seiner Kinder einen durchaus deutsch gemütlichen Eindruck. Wenn die Freunde eintraten, ließ er sich nicht stören und arbeitete weiter an seiner Partitur. Erst als die[265] Suppe aufgetragen war, wusch er sich die Hände und setzte sich, meist schweigsam, zu Tisch. Gevaert, der klassische und gelehrte Musiker, verkehrte gern mit Offenbach, weil ihn dessen originelles Talent ebenso sehr anzog wie die Naivität seines Wesens. Es war zu hübsch, wenn er uns seine eben beendete »Großherzogin von Gerolstein« vorspielte und bei jeder Nummer verkündigte: »Jetzt kommt ein Duett, das ist sehr hübsch! die folgenden Couplets bringen wenig Neues, hingegen das Finale ist wieder sehr schön!« usw. Das alles mit größtem Ernst und unbefangenster Naivität vorgebracht. Komisch war es auch, wenn Offenbachs Deutsch unter dem Einfluß französischer Gewohnheit rebellisch wurde. Als ich ihm mitteilte, ein Journal habe seine neueste Operette als durchgefallen bezeichnet, entgegnete er entrüstet: »Durchgefallen? Es war ein großer succès; der größte succès, der nur zu sein ist!«

Offenbach hatte nicht viel gelernt, aber der Strom seiner Melodien floß unversieglich. Melodien, wie sie heutzutage zu den größten Seltenheiten gehören; einfach, sangbar, ursprünglich, reizend durch ihre Linien, nicht erst durch das Kolorit einer kunstvollen Begleitung. Man könnte zwanzig Melodien Offenbachs nebeneinander stellen, alle auf Tonica und Dominante aufgebaut und doch jede neu und verschieden von den anderen. Dabei jedes Gesangstück aus dem Text, aus der Situation herausgeschaffen, also echt dramatisch, im Gegensatz zu so vielen Wiener Operetten, welche jede Nummer ohne weiteres auf einen Walzer oder eine Polka spannen und wirkungslos abfallen, wo das einmal nicht geschient. Offenbach arbeitete sehr leicht; er wäre nicht imstande gewesen, eine fertige Partitur etwa ein Jahr liegenzulassen zum Behuf nachträglicher Überprüfung und Verbesserung. Es würde dadurch nicht besser werden, behauptete er – bei ihm sei der erste Wurf entscheidend. Aber während des Arbeitens konnte er oft lange ein Thema drehen und wenden, bis ihm der Rhythmus genügte. Und in der Rhythmik war er sehr sinnreich; deutsche Komponisten, bei denen der Rhythmus fast immer der schwächste Punkt ist, könnten viel aus Offenbach lernen. Ich glaube, wenn man zehn deutschen Komponisten den Vers: »Ah, que j'aime le militaire, Ah, que j'aime le militaire!« zu bearbeiten gäbe, es würden ihn neun von ihnen gleichförmig in vierfüßigen Trochäen skandieren. Auf die so pikante, lebensvolle Rhythmisierung Offenbachs möchte kaum einer kommen. Zu seiner reichen,[266] melodischen Begabung gesellte sich ein zweiter, fast ebenso seltener Faktor: eine unvergleichliche Kenntnis der Bühne, der Theaterwirkung. Als eminent theatralischer Geist und Regisseurgenie in höherem Sinne ist nur Wagner mit ihm zu vergleichen. Ja, wenn ich bedenke, daß Wagner in seinen späteren Werken sehr oft jeden Maßstab für Dimensionen verloren hatte, möchte ich Offenbach den noch schärferen Theaterblick zugestehen. Wagner ließ seine größten Partituren stechen, ohne sich vorher von ihrer Wirkung überzeugt zu haben; dann durfte an keiner Note mehr gerührt werden. Offenbach änderte und besserte während der Proben unablässig; kassierte oder kürzte ohne weiteres, was sich als zu lang erwies, verlängerte, versetzte einzelne Nummern, bis alles an rechter Stelle stand, seine volle Wirkung tat.

Musterhaft war dabei sein Verhältnis zum Verfasser des Librettos. In Frankreich ist das Schaffen einer Oper ein fortwährendes Zusammenarbeiten von Dichter und Tonsetzer. Wie oft lesen wir im Inseratenteil deutscher Zeitungen die Ankündigung eines unbekannten Autors, er habe ein oder mehrere Operntextbücher im Manuskript zu verkaufen! Irgendein Komponist kauft das Ding, welches ohne Rücksicht auf einen bestimmten Tondichter und ein bestimmtes Personal verfaßt ist, und komponiert es ebenso ins Blaue hinein. Dichter und Komponist bekommen einander oft gar nicht zu sehen. Das ist in Frankreich unmöglich. Während in Deutschland der Komponist an seinem Text wie an ein Brett festgenagelt liegt, ist dem französischen Komponisten das Libretto ein lebendiges Gewächs, das unter seinen Händen sich entfaltet und in fortwährender Umbildung seinem Talente assimiliert. Das Ineinanderwachsen von Musik und Text, dies Praktische, Wirksame, was die französischen Opern auszeichnet, wäre ohne eine Gemeinschaft, wie sie z.B. Auber mit Scribe pflegte, nicht denkbar. In Paris kam ich einmal zu Offenbach, als dieser eben mit seinem Textdichter, ich glaube Herrn Meilhac, arbeitete. Es war mir sehr lehrreich, die beiden ein halbes Stündchen beobachten zu dürfen. Offenbach saß am Klavier und sang dem Dichter vor, was er tags vorher von dem Libretto komponiert hatte. Hier fand er für seine musikalischen Intentionen vier Verse zu wenig, Meilhac schrieb sie dazu; dort wollte er zwei Verse streichen, Meilhac erklärte sie für notwendig und wehrte sich. Die Verhandlung wurde mitunter äußerst lebhaft, wenn der eine Teil seine Verse, der andere seine Melodie nicht ändern wollte.[267] Am Ende wurden die beiden doch immer einig, ihr Ziel und Interesse war ja dasselbe und jeder von beiden überzeugt, daß er ohne den andern nichts ausrichten könne. Die Strömung der Debatte führte häufig den Dichter oder den Komponisten auf ganz neue, glückliche Ideen, die jeder für sich allein an seinem Schreibtisch nicht ausgeheckt hätte. »Dichter und Komponist müssen in geistiger Ehe miteinander leben,« bemerkte Offenbach treffend. »Solange ich an einer neuen Oper arbeite, bin ich mit dem Dichter verheiratet. Ich bin unglücklich, wenn er einen Tag ausbleibt; hat er mir auch nichts Neues zu bringen, so muß ich ihn doch täglich sehen und sprechen.« Es ist nicht zu leugnen, daß durch diesen lebhaften, wechselseitig anregenden und befruchtenden Verkehr zwischen Dichter und Tonsetzer eine Lebendigkeit, Einheit und Zweckmäßigkeit in ihre Arbeit kommt, um die manche große deutsche Oper die kleinste französische beneiden darf.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 265-268.
Lizenz: