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[268] Jeden Vormittag in der Ausstellung angeblasen, angegeigt und angeklimpert, jeden Abend im Theater oder in Gesellschaft – ein buntes, aber auch anstrengendes Leben! Ich sehnte mich für ein Weilchen aus dieser stürmischen See heraus, auf ruhiges Ufer, fort von Paris. Ein kurzer Stillstand in den Juryarbeiten ermöglichte mir einen Ausflug in die Normandie. In der angenehmen Gesellschaft meines Freundes Dr. Georg von Thaa (gegenwärtig Ministerialrat im Handelsministerium) besuchte ich Rouen, Trouville, Etretat, Havre, Dieppe; überall stürzten wir uns ins Meer und durchschweiften die Umgegend. Ein längerer Ausflug galt später dem Süden von Frankreich: Lyon, Avignon, Arles, Marseille wurden besucht. Auf der Rückfahrt machte ich Stationen in Tarascon, das noch nicht durch »Tartarin« berühmt geworden, in Nîmes und Montpellier, endlich in Cette, wo schon spanische Einflüsse herüberwirken. Nach einem Ruhetag in Bordeaux fuhr ich die Nacht durch nach Paris, wo ich, geistig und körperlich erfrischt, dem Instrumentenlärm und den Streitigkeiten am Jurytische wieder tapfer standhielt. Ich unterließ nicht, den Pariser Aufenthalt möglichst gut auszunützen, und freue mich der Erinnerung, alles Merkwürdige in der Stadt – von der hohen Kuppel des Pantheons bis zu den unterirdischen Katakomben – und alles landschaftlich Schöne im Umkreise derselben[268] mit fröhlicher Ausdauer und Empfänglichkeit genossen zu haben.

Eine Hauptquelle der Belehrung und des Vergnügens bildeten natürlich die Theater. Dem Théâtre français und der Opéra comique gereicht es zur Ehre, daß beide den Zusammenhang mit ihrer glänzenden Vergangenheit nicht fallenlassen, sondern neben den Novitäten des Tages auch ihre Klassiker pflegen. Am liberalsten tut dies die Comédie française, welche Molières Meisterwerke häufig und mit größter Sorgfalt spielt. Ihre Aufführungen von »Tartuffe«, »Les femmes savantes«, »Le malade imaginaire«, insbesondere aber von »M. de Pourceaugnac« entzückten mich. Letztere Posse wird buchstäblich getreu mit einer kühnen Ungeniertheit gegeben, welche außerhalb Frankreichs unmöglich wäre. Man mußte aufschreien vor Lachen, wenn sechs bis acht Doktoren der Medizin, jeder mit einer geladenen Klistierspritze den armen Pourceaugnac verfolgen, um die ganze Bühne herumjagen, bis er endlich atemlos in den Souffleurkasten springt, seine Peiniger ihm nach, einer nach dem anderen, worauf sie alle wieder auf der anderen Seite des Souffleurkastens hervortauchen. Auch Tragödien von Racine und Voltaire sah ich auf dem Théâtre français wieder zum Leben erweckt. In meinen Augen allerdings ein sehr trauriges Leben. Ich fand die Dichtungen konventionell, unnatürlich, ungenießbar; die Aufführung desgleichen. Den »Britannicus« von Racine vermochte ich nicht auszuhalten, so widerwärtig hohl und prahlerisch berührten mich Spiel und Sprache dieser tremolierenden Deklamatoren. Als aber unmittelbar auf die Tragödie ein Scribesches Lustspiel folgte, bewunderte ich die Franzosen als die ersten Schauspieler der Welt. Ebenso unübertrefflich ward im »Gymnase« und »Vaudeville« gespielt: moderne Lustspiele wie »Die Familie Benoiton«, »Les idées de Madame Aubrey« und kleine Einakter, mit der reizenden Blanche Pierson, dem Liebhaber Landrol, dem Komiker Bouffée. Auch die »Opéra comique« bewahrt ihre Traditionen, indem sie (gewöhnlich am Sonntag) Opern des älteren Repertoires aufführt. Mit großem Vergnügen hörte ich da Grétrys »Richard Löwenherz«, den »Deserteur« von Monsigny, den »Zauberer« von Philidor, »Marie« von Herold – lauter Opern, die ehedem das Entzücken auch unseres Publikums bildeten, aber in Deutschland längst rettungslos beseitigt sind. Unter den Novitäten der Opéra comique befand sich eine einzige erfolgreiche: »Mignon« von Ambroise[269] Thomas mit der geistvollen Galli-Marié in der Titelrolle. Als ich, nach Wien zurückgekehrt, auf das lebhafteste für die Aufführung der »Mignon« im Hofoperntheater eintrat, begegnete ich demselben Mißtrauen wie einige Jahre früher mit der Anempfehlung von Gounods »Faust«. Noch während der Generalprobe von »Mignon« trug einer der mitwirkenden Sänger mir jede beliebige Wette an, die Oper werde es nicht über drei Aufführungen bringen! Noch ein drittes Mal erlebte ich Ähnliches: mit der Oper »Carmen«, die ich im Frühjahr 1875 in Paris gehört hatte. Maßgebende Stimmen bezweifelten, daß diese Oper ein Zugstück bei uns werden könne, ja August Förster, der eben Direktor des Leipziger Theaters geworden war, erklärte mir, er könne es nicht wagen, dem sittenstrengen Leipziger Publikum eine so anstößige Person wie Carmen vorzuführen. Die norddeutschen Bühnen haben sich in der Tat nur sehr zögernd dazu entschlossen; jetzt vermag keine derselben »Carmen« zu entbehren.

Die anziehendsten Vorstellungen gab es in der Komischen Oper, wenn der elegante Tenor Montaubry, der köstliche Buffo Sainte-Foy, die Sängerinnen Marie Roze und Cico zusammenwirkten; Fra Diavolo, der schwarze Domino, der Zweikampf (»Le près aux clercs«). Was gäbe ich darum, könnte ich in Wien wieder einmal eine vollendete Aufführung dieser und ähnlicher Opern hören! Alles längst von dem Siegeswagen des »Musikdramas« zermalmt – die Opern selbst, der Geschmack des Publikums und die Vortragskunst der Sänger. Bedauerlicherweise verschmäht die Große Oper in Paris vollständig das Beispiel der Opéra comique und des Théâtre français in bezug auf die Wiederbelebung ihrer Klassiker. Das Repertoire der Großen Oper reicht nicht hinter Auber, Halévy und Meyerbeer zurück. Von Lully und Rameau nicht zu reden, den berühmten, heute kaum genießbaren Zeitgenossen Racines und Molières; auch Gluck, Spontini, Cherubini und Méhul sind von der Großen Oper längst und für immer vergessen. Die Vorstellungen dieser Bühne gewährten mir nur einen geteilten und bedingten Genuß. Musterhaft fand ich das Ballett, die Mise-en-scène, die Massenwirkung des Chors und Orchesters, unübertrefflich das Dekorationswesen, nicht bloß im Sinne leerer Pracht, sondern wirklich künstlerischer, charakteristischer Verwendung; viel niedriger die Leistungen der ersten Sänger. Das ungetrübteste Vergnügen in der Großen Oper gewährte mir die »Stumme von Portici«, nicht bloß,[270] weil die Hauptperson stumm ist, sondern weil das Ensemble, die Chöre, das Ballett, die Ausstattung, ein entzückend lebensvolles Bild gaben. Auber, der seinen Opern niemals im Zuschauerräume beiwohnte, traf ich in den Zwischenakten auf der Bühne, wohin mich Gevaert freundlich zu geleiten pflegte. Die kleine rührige Gestalt des Meisters bewegte sich voll Anteil unter den neapolitanischen Fischern und Soldaten. Ich hätte ihm die Hand küssen mögen. Die »Stumme von Portici«, deren melodischer Reiz und dramatische Kraft bei guter Darstellung jederzeit ihre Macht bewähren, ist auch eine von meinen alten Lieblingsopern, die man in Wien nicht mehr gibt oder nicht mehr geben kann. »Hör' ich sie nie, hör' ich sie niemals wieder?« möchte ich mit Tannhäuser ausrufen.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 268-271.
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