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[123] Im Mai 1852 wurde ich endlich aus meiner mehr als zweijährigen provisorischen Stellung in Klagenfurt nach Wien zurück zum Finanzministerium einberufen. Diese Berufung konnte – ganz abgesehen davon, daß ich sie ersehnt und angesucht – als eine Beförderung gelten, ist ja das Finanzministerium die den Fiskalämtern vorgesetzte, oberste Behörde. Aber in meiner Besoldung mußte ich mir einen Rückschritt gefallenlassen. Die vorübergehende Klagenfurter »Remuneration« von 600 Gulden schmolz auf das systemierte Adjutum eines »Konzeptspraktikanten«, d.h. auf 400 Gulden jährlich herab. Ein armseliger Betrag – für das Leben in Wien! Von Hause bezog ich seit Jahren keinen Zuschuß mehr. Ich hätte verzagen müssen, aber zum Glück war meine frühere Stellung als Musikreferent bei der »Kais. Wiener Zeitung« mir aufgehoben, ja förmlich garantiert.

Das war so zugegangen. Bei meiner Abreise nach Klagenfurt drängte ich meinen Freund Eduard Schön, an meiner Statt das Musikreferat in der Wiener Zeitung zu übernehmen. Schön, als Chor- und Liederkomponist unter dem Pseudonym Engelsberg rühmlich bekannt, war ein tüchtiger Musiker, vielseitig gebildet, auch stilistisch gewandt. Meine Passion, über Musik zu schreiben, besaß er freilich nicht, aber gleich mir den stichhaltigsten Grund, ein kleines Nebeneinkommen, ein »peculium adventitium«, zu wünschen. Er erhob anfangs gegen meinen Vorschlag bedenkliche Zweifel; teils aus bescheidenem Mißtrauen in sein Kritikertalent, teils aus bürokratischer Ängstlichkeit. Diese steckte zeitlebens tief in ihm; die Möglichkeit, sein Hofrat oder gar der Minister könnte erfahren, daß sie einen Feuilletonisten an[123] ihrem Busen gewärmt, machte ihn schaudern. Indes der unentbehrliche »schnöde Mammon« siegte schließlich, und Schön nahm mein Anerbieten unter der Bedingung an, daß er in strengster Anonymität verharren und keine Seele jemals von seiner Missetat erfahren dürfe. Außer mir und dem Chefredakteur der »Wiener Zeitung« hat es auch bis heute niemand erfahren. Freund Schön führte seine Mission als Musikkritiker friedsam und anmutig durch länger als zwei Jahre fort; von meiner Abreise nach Klagenfurt bis zu dem Augen blick meines Wiedererscheinens in Wien. Da er darauf bestanden hatte, die Stelle nur für die Zeit meiner Abwesenheit als mein »Platzaufheber« zu übernehmen, beeilte er sich nun, sie mir wieder zu räumen und den Redakteur der Wiener Zeitung davon in Kenntnis zu setzen.

Dieser Redakteur, den wir Dr. Leopold nennen wollen, war ein eigentümlicher Kauz. Klein, schielend, unschön, mit einer heiseren, fortwährend überschlagenden Rabenstimme, machte er einen abenteuerlichen Eindruck. Er war ein gutmütiger Mensch, aber kleine Kinder fürchteten sich vor ihm. Eine für den journalistischen Tagesbedarf praktisch geschulte, doch literarisch ganz unbedeutende Persönlichkeit, kannte er als Chefredakteur kein höheres Gesetz, als die Zufriedenheit der »maßgebenden«, insbesondere hohen und höchsten Persönlichkeiten. Die Zensur war seit dem März 48 aufgehoben; Dr. Leopold setzte sie aber, zumal für die Theaterkritiken, auf eigene Faust fort. Er bewahrte die Traditionen des vormärzlichen Polizeiminister Graf Sedlnitzky, welcher eigenhändig die Theaterberichte zu zensurieren pflegte. Sedlnitzkys ästhetisches Prinzip war, daß an den Leistungen der beiden Hoftheater nicht das allermindeste getadelt, hingegen keine Opern-Vorstellung einer Vorstadtbühne gelobt werden dürfe. Mir ist's noch lebhaft gegenwärtig, wie eines Morgens der unglückliche Musikkritiker Dr. Becher sehr aufgeregt in mein Zimmer trat und mich wegen meines Berichts über die Oper »Maritana« von Wallace zur Rede stellte. Er könne es mir allerdings nicht verwehren, daß ich an der Musik kein gutes Haar gelassen, – weshalb aber die treffliche Aufführung im Wiedner Theater und das Verdienst des deutschen Bearbeiters (es war Becher selbst) gänzlich totschweigen? Mein Gewissen war rein, und ich konnte Becher beruhigt in die Druckerei der »Wiener Zeitung« führen, wo sich mein von Seiner Excellenz eigenhändig zensurierter Bericht noch vorfand. Da sah denn Becher mit Erstaunen,[124] daß nur der Tadel stehengeblieben, das Lob der Aufführung und der Bearbeitung jedoch gestrichen war. Ein klein wenig von dieser Passion war auch auf »unseren Leopold« übergegangen. Die Vorstadttheater, deren Konkurrenz im Opernfach aufgehört, ließ er unbehelligt, geriet aber außer sich, wenn ich an einer Hofopernsängerin die geringste Ausstellung machte. Bevor er ihr diesen Schmerz zufügte, strich er lieber die Stelle in meiner Kritik. Da gab es denn zwischen uns einige sehr lebhafte Auseinandersetzungen, die schließlich zu dem Kompromiß führten: wenn mir ein Satz meines Berichtes besonders wichtig wäre und ich unter keiner Bedingung daran wolle rühren lassen, sollte ich denselben mit Rotstift dick anstreichen. Diese gefärbten Stellen bedeuteten also soviel wie eine Kabinettsfrage. Freilich wurden ihrer immer mehr und mehr, so daß viele meiner Kritiken sich ganz in roter Uniform präsentierten. Einen ausgiebigen Schutz gegen die Verbesserungswut meines Zeitungschefs gewährten sie trotzdem nicht.

Die heutige Unsitte der »Nachtkritiken«, diese ärgste Pein für mich, existierte damals noch nicht in Wien. Das Publikum befand sich ganz wohl, ohne schon um sechs Uhr früh zu erfahren, wie gestern der gastierende Herr X. den Masetto oder Fräulein Y. die Papagena gesungen habe. Wir konnten warten. Nur eines Ausnahmefalles erinnere ich mich, der zu einer mir unvergeßlichen komischen Szene führte. Zur Vermählungsfeier des Kaisers Franz Josef fand eine Festvorstellung im Operntheater statt, ein aus Opern und Balletszenen zusammengestelltes und mit Gelegenheitstableaus ausgeschmücktes Pasticcio. Bei der außerordentlichen Wichtigkeit dieses Theaterabends für die Kaiserl. Wiener Zeitung mußte ich dem Dr. Leopold versprechen, nach der Vorstellung in seine Wohnung zu kommen und dort einen kurzen Bericht zu schreiben. Er lag schon im Bette und sah in seiner weißen Zipfelmütze und weißen Flanelljacke sehr geisterhaft aus. Ich schrieb schnell an dem Tischchen neben seinem Bett und mußte ihm dann das Geschriebene vorlesen. Offenbar hatte er nicht viel Vertrauen zu mir. Ich las nach einem kurzen Eingang: »Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin erschienen um sieben Uhr in der Hofloge; enthusiastischer Jubel scholl ihnen entgegen.« Was? Wie? unterbricht mich der Redakteur und richtet sich mit dem Ausdruck höchsten Entsetzens im Bette auf. Ich lese die Stelle, in der ich nichts Arges ahnte, noch einmal. »Ihnen entgegen? Ihnen?«[125] stammelt mein Zensor mit gebrochener Stimme – »Allerhöchstdenselben!!« Und der Zipfel der weißen Nachtmütze senkte sich in Devotion ersterbend auf seine Flanelljacke herab.

Zu diesem Manne also eilte mein gewissenhafter Eduard Schön mit der Meldung meiner Ankunft. Ganz verstört kommt er von dem Besuch zurück. »Denke Dir nur,« ruft er entrüstet aus, was dieser ... mir geantwortet hat: »Nein, nein! den Hanslick brauche ich nicht! Sie sind mir lieber!« Lachend mußte ich den Redakteur gegen meinen entrüsteten Platzaufheber in Schutz nehmen. Es war ja richtig, daß jener sich besser mit Schön vertrug, der niemanden tadelte, am wenigsten eine Hofopernsängerin, und mit aller Welt in Frieden bleiben wollte. Gegen die entschiedene Weigerung des Redakteurs war aber nichts zu machen. Doch, etwas! Wir wollten das Geschäft teilen. Schön, der im Kreditsdepartement anstrengend beschäftigt war, empfand stets die grausamste Verlegenheit, wenn er wegen eines Mittagskonzertes das Büro früher verlassen sollte; er hätte diesen Konflikt der Pflichten kaum länger ertragen. So bat er mich denn, alle Konzerte zu übernehmen; er wolle bloß die Opernvorstellungen besprechen. Das monatliche Honorar von fünfundzwanzig Gulden sollte geteilt werden, aber in einer das Lehnsverhältnis ausdrückenden Weise: dreizehn Gulden für Schön als Lehnsherrn, zwölf Gulden mir als seinem Vasallen. Dieses Lehnsverhältnis, das wir uns mit komischen Reminiszenzen aus dem »liber feudorum« würzten, gab uns ein Jahr lang reichlichsten Stoff zum Lachen. Und was für ein unvergleichlicher Lacher war Freund Schön! Die Wände erdröhnten unter seinem herzlichen Gelächter; bei komischen Szenen zwischen Scholz und Nestroy wendeten sich im Theater alle Köpfe nach ihm. Ich ließ aber den Stoff zur Heiterkeit auch nicht ausgehen. Redakteur Leopold durfte nicht wissen und weiß es bis heute nicht, daß die Konzertberichte alle von mir waren; Schön mußte mein Konzept eigenhändig abschreiben. Das reizte mich denn, nach einem ganz ernsthaften Anfang unmerklich und dann immer merklicher, allerhand Schabernack in meine Berichte einfließen zu lassen, worüber sich mein »Lehnsherr« beim Abschreiben halb totlachen wollte. Waren wir doch beide so heiter und lebenslustig, – er mit seinen dreizehn, ich mit meinen zwölf Gulden Monatsgehalt! Unsere kritischen Meisterwerke schrieben wir meistens im Büro, auf grobes Konzeptpapier im Aktenformat. An den meinen hatte Schön oft mehr zu tun als ich[126] selbst, da er all die Späße und Tollheiten kunstvoll ausmerzen mußte, die ich im Übermut hineingepackt.

Unser so ergötzliches Lehnsverhältnis sollte nicht lange dauern. Ich war doch vom Schicksal bestimmt, bald wieder die ganzen 25 Gulden einzukassieren. Es erschien nämlich eines Tages ein Erlaß des Finanzministers (und analog in den übrigen Ministerien), worin diejenigen Beamten, welche an politischen Zeitungen des In- und Auslandes mitarbeiten, die Bewilligung des Ministers einzuholen haben. Wer nicht über Politik, sondern über Kunst und Wissenschaft schrieb, hatte hiervon bloß die Anzeige an den Minister durch den vorgesetzten Bürochef zu machen. »Lieber sterben!« meinte Schön. »Warum nicht gar!« entgegnete ich und schrieb sofort auf schönstem Kanzleipapier die verlangte Anzeige, während Schön mit einer Miene bewundernden Entsetzens mir über die Schulter sah. Die gefährliche Selbstdenunziation wurde gleich eingereicht, und es hat kein Hahn jemals darnach gekräht. Dr. Leopold aber, der seinen Schön verloren hatte, nahm faute de mieux mich in Gnaden auf. Aus begründeter Furcht vor »Verbesserungen« unterzeichnete ich jedoch bloß mit einem Pseudonym, meinem Davidsbündlernamen Renatus. Nur größere Aufsätze für die von Professor Eitelberger redigierte wissenschaftliche Beilage der »Wiener Zeitung« fertigte ich mit meinem Namen.

Im Finanzministerium war ich dem Zolldepartement zugeteilt, dem ich zwar keinerlei Schaden, aber auch schwerlich erheblichen Nutzen zugefügt habe. Tröstend berührte mich die Tatsache, daß auch Grillparzer seine Anfänge im Zolldepartement gemacht hatte. Er war bei meinem Eintritt noch Archivdirektor im Finanzministerium; in dieser Höhle saß er ruhig, ward wenig gestört und von uns Jüngeren niemals gesehen. Daß mich die Beschäftigung mit Zollsachen nicht gerade romantisch stimmte, bedarf keiner Versicherung, – kein anderes Departement dürfte die Phantasie so wenig aufregen. Aber ich arbeitete unter einem sehr milden, ruhigen Chef und mit freundlichen, gebildeten Kollegen. Wenn ich eines Trostes bedurft hätte in dieser Stellung – einem Paradies im Vergleich mit Klagenfurt! –, mir ward der allerbeste in der Nachbarschaft Eduard Schöns. Er arbeitete Tür an Tür mit mir im Kreditsdepartement, einem höchst aristokratischen Ressort neben dem mehr plebejischen des Zollwesens. Ein eminent begabter und bis zur Aufopferung fleißiger[127] Beamter, ist Schön bis zum Sektionschef aufgestiegen, – leider als er im Dienste bereits seine Gesundheit eingebüßt hatte. Mein Ehrgeiz war dies keineswegs. Darum ängstigte ich mich vor dem mir persönlich sehr wohlgesinnten Chef der Kreditsabteilung, der mich häufig in Schöns Arbeitszimmer getroffen und ein Auge auf mich geworfen hatte. Er wollte mich in sein Departement herübernehmen, diesem Brutofen der wichtigsten und schwierigsten Arbeiten. Ich wußte, daß mir Nationalanleihen, Valuta, Bank- und Börsenwesen zeitlebens undurchdringliche Rätsel bleiben würden, und bat Schön flehentlich, mich bei seinem Hofrat so schlecht als möglich anzuschreiben, was keiner großen Übertreibung bedurfte. So blieb ich denn unbehelligt auf dem bescheidenen Ufer des Zollwesens und brauchte mich nicht auf die stürmische hohe See der Kreditoperationen zu wagen. Indes sollte ich auch jenes Gestade bald gegen ein blühenderes vertauschen, nämlich mit dem Dienst im Unterrichtsministerium.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 123-128.
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